Auslandseinsätze mit Nebenwirkungen

Mit dem Umbau der Bundeswehr wird die jahrelang praktizierte Politik des Staates und der Verbände beim Umgang mit dem Zivildienst deutlich

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Das Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts im Dezember 2003 war eindeutig: Der Staat verstößt gegen die Verfassung. In Bezugnahme auf den Gleichbehandlungsgrundsatz sah es das Gericht als erwiesen an, dass die derzeitige Einberufungspraxis mit der Wehrgerechtigkeit unvereinbar und damit willkürlich ist. Gegen die im April 2004 ergangene aktuelle Bestätigung des Urteils legte Verteidigungsminister Peter Struck umgehend Revision ein. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes spricht im Zusammenhang mit der Wehrgerechtigkeit von Taschenspielertricks und mahnte aufgrund des Entscheidungsdrucks, hervorgerufen durch das Versagen des Wehrpflichtmodells in der Praxis, eine schnelle Lösung an. Die Regierung aber hält weiterhin an der jetzigen Regelung fest. Bis zu einer Lösung wird nur noch knapp jeder zweite zu einem immer kürzer werdenden Wehrdienst in eine immer kleiner werdende Bundeswehr einberufen.

Deutsche ISAF-Soldaten auf Patrouille in Kabul

Warum findet die Politik keine Lösung für ein Problem, welches Tausende von jungen Bürgern gegenüber ihren Altersgenossen benachteiligt? Die Lage ist genauso unklar wie die Vielfalt der Positionen innerhalb der Parteien ins Kraut schießen. Sicher ist, dass die Verantwortlichen vor allem von den lange geschmähten "Drückebergern" nicht mehr lassen möchten. Berufsarmee hin, Wehrpflicht her: Wurden Zivildienstleistende lange Zeit vornehmlich als Staatsdienstleistende zweiter Klasse gesehen, sind sie plötzlich zur umworbenen Zielgruppe geworden.

Die Frage der Zukunft ist: Wie kann die "Zivillücke" im Bereich der sozialen Dienstleistungen geschlossen werden, und zu welchem Preis kann dies geschehen? Ein soziales Pflichtjahr ist juristisch umstritten, allein das Eingeständnis, dass "normale" Arbeitsplätze durch Zivildienstleistende besetzt werden, ein weiterer Gesetzesbruch.

Veränderte militärische Zielsetzungen

Grund für den ganzen Schlamassel ist der Paradigmenwechsel in der Militärstrategie nach dem Ende des Kalten Krieges und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Nach dem Ende der Blockkonfrontation und dem Beginn des "Kriegs gegen den Terror" ist das "mögliche Einsatzgebiet für die Bundeswehr die ganze Welt", so Verteidigungsminister Peter Struck. Damit kommt auch die Wehrpflicht massiv unter Druck, denn Wehrpflichtige in Auslandseinsätze zu schicken, ist verfassungsrechtlich äußerst umstritten: Zum einen, weil diese für solche Einsätze gar nicht ausgebildet sind und zum anderen, weil die verfassungsrechtliche Grundlage immer noch die Landesverteidigung ist:

Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass sie der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet (...) Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können (...) Es ist vor allem die Landes und Bündnisverteidigung und nicht die Beteiligung an internationalen Missionen, die Umfang und Struktur der Bundeswehr und die Beibehaltung der Wehrpflicht rechtfertigen.

Roman Herzog (CDU), Rede des Bundespräsidenten am 15. November 1995

Gleichwohl ist eine vorhandene Massenarmee, die der Landesverteidigung dient, ein Anachronismus, so jedenfalls die Sicht von Verteidigungsminister Struck:

Der Verteidigungsminister bekräftigte, dass sich die Bundeswehr immer mehr von einer Streitmacht zur Landesverteidigung zu einer Armee mit den Schwerpunkten Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus wandeln werde.

Bundeswehrverband, Pressemeldungen Februar 2004
Deutscher Kampfpanzer LEOPARD 2 im Kosovo

Dem Paradigmenwechsel infolge der veränderten weltpolitischen Lage folgte also die Infragestellung des Wehrdienstes, und mit diesem auch die des Wehrersatz-, sprich Zivildienstes. Aus dieser Spannungssituation zwischen Umbau von Bundeswehr und Erhalt des Zivildienstes, bei gleichzeitiger Berücksichtigung des nach der Wehrgerechtigkeit gebotenen Gleichbehandlungsgrundsatzes, versucht die Politik nun verzweifelt herauszukommen. Dabei hat sie sich da jahrzehntelang selbst hineingewurstelt, und die Vorschläge, die sie nun zur Lösung des Problems vorlegt, sind auch nicht gerade ermunternd.

Die Geschichte einer fatalen Entwicklung

Die eingetretene Entwicklung war so gar nicht beabsichtigt. Nachdem das im Grundgesetz festgehaltene Verbot des erzwungenen Kriegsdienstes gegen das eigene Gewissen 1960 in ein Bundesgesetz gegossen wurde, traten im Jahr 1961 die ersten 340 Kriegsdienstverweigerer ihren fünfzehnmonatigen Dienst an. Wer nicht in die Bundeswehr wollte, konnte seit diesem Zeitpunkt einen zivilen Ersatzdienst leisten, in dem Aufgaben des Allgemeinwohls wahrgenommen werden sollten. Dabei war die Vorgabe einen vom Militär unabhängigen Dienst zu schaffen die Grundlage der Entwicklung, wie wir sie heute kennen.

Die anfänglichen Probleme, als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden, wichen im Laufe der Zeit einem reinen Verwaltungsakt. Dabei stieg die Zahl bis Mitte der 1990er Jahre auf über 150.000 an (seit 1984: 20 Monate Dienst), um im Zuge der Schrumpfung des Wehr- und Ersatzdienstsektors wieder auf derzeit ca. 90.000 zu sinken (seit 2002: 10 Monate). Nach den jüngsten Reformplänen für die Bundeswehr sollen es 2010 nur noch 75.000 sein.

Heute sind fast 60.000 Zivildienstleistende in der Pflege und Betreuung von Menschen tätig. Der Rest verteilt sich überwiegend auf Fahrdienste, handwerkliche Dienstleistungen, Umweltschutz und Verwaltungsaufgaben, auch 64 Spitzensportler sind als "Zivis" in den Statistiken aufgeführt. Die großen Wohlfahrtsverbände (Caritas, Rotes Kreuz, Diakonisches Werk usw.) stellen auch den Großteil der Zivildienstplätze.

Die interessanteste Frage aber ist: Sind Zivildienstplätze auch Arbeitsplätze im marktwirtschaftlichen Sinn? Oder sind sie nur vorhanden, weil es den Zivildienst gibt? Hört man sich die Katastrophenszenarien von Kommunen und Institutionen im Falle eines Endes des Zivildienstes an, so kommt man nicht umhin, den Zivildienstleistenden als Billigarbeitskraft mit besonderem Status aufzufassen. Und vorausschauend stellen einzelne Verbände ihre Dienste schon jetzt auf geringfügig- sowie hauptamtlich Beschäftigte um, nicht ohne den Zivis eine Träne hinterher zu weinen.

Im Grunde bestätigt dies aber nur das, was sowieso jeder weiß: Ohne Zivis geht es nicht, viele haben verantwortungsvolle Tätigkeiten, und wenn sie weg sind, wird's für alle richtig teuer. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung wird in Baden-Württemberg im Angesicht der dort schon jetzt alltäglichen Ziviflaute sorgenvoll in die Zukunft geblickt.

Diese vor den Augen der Verantwortlichen eingetretene Entwicklung der Ersatzdienstleistenden als Billigarbeitskraft im Dienstleistungssektor ist neben der heutigen Einberufungspraxis ein jahrelang geduldetes gesetzeswidriges Verhalten:

Zivildienstplätze dürfen nicht anerkannt werden, wenn sie nachweislich einen bisherigen Arbeitsplatz ersetzen oder eine Einrichtung eines neuen Arbeitsplatzes erübrigen sollen. Diese Arbeitsmarktneutralität ist insbesondere gewährleistet, wenn die Arbeiten ohne den Einsatz von ZDL nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt würden oder auf dem Arbeitsmarkt keine Nachfrage besteht. Die Einrichtung hat diese Arbeitsmarktneutralität zu erklären und zu begründen.

Richtlinien zur Durchführung des § 4 des Zivildienstgesetzes

Der Umfang der daraus entstehenden Arbeitsplätze wird aber entgegen den Hoffnungen vieler den Arbeitsmarkt nicht sonderlich entlasten. Experten gingen noch 1993 bei einer Gesamtzahl von Zivildienstleistenden von damals 80.000 (abzüglich 10 % Reibungsverlust) von 20.000 Vollzeitarbeitsplätzen für Fachkräfte und 52.000 Stellen für ungelernte Kräfte aus. Durch die nur geringfügige Änderung der Zahlen kann man heute also mit einigen tausend Arbeitsplätzen mehr die gleiche Rechnung aufmachen.

Zwangsdienst oder "Freiwillige vor"?

Wie entwickelt sich die Branche der sozialen Dienstleistungen nach dem möglichen Ende der Wehrpflicht? Die Hauptdifferenzen laufen entlang der Frage, ob der Dienst nach dem Dienst freiwillig oder verpflichtend sein soll. Die derzeitigen Oppositionsparteien plädieren zum großen Teil für einen Pflichtdienst im Sozialbereich. Jüngst sprachen sich aber auch die Bundesminister Schily (Innenminister) und Zypries (Justiz), beide SPD, für die Einführung eines Pflichtjahres aus. Die meisten Ministerpräsidenten der Länder wollen zur Vermeidung von höheren Kosten ebenfalls eine Pflicht für alle.

Hardliner wie "gemäßigte" Befürworter argumentieren mit der erhofften Charakterbildung bei jungen Menschen, dem erwarteten Gefühl der Verantwortung für die Allgemeinheit und dem Hinweis für Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose, wer Geld vom Staat wolle, müsse auch eine Leistung erbringen. Die einzige Partei, die fast geschlossen auf die Freiwilligkeit setzt, ist Bündnis90/Die Grünen. Dabei wird nicht nur nach deren Meinung das größte Hindernis zur Durchsetzung eines Zwangsdienstes entweder kleingeredet oder (noch) ignoriert:

Niemand darf zu einer Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, und für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.

Art. 12/2, GG

Auch im EU-Recht gibt es ein Verbot von Zwangsdiensten, gleichwohl ist auf beiden Ebenen nicht mit der benötigten Mehrheit für deren Einführung zu rechnen. Dabei ist ein sozialer Pflichtdienst schon durch die durchschnittliche Jahrgangsgröße von ca. 800.000 jungen Menschen unwahrscheinlich. Einige Hunderttausend mehr als Zivildienst und Wehrdienst schon heute aufzunehmen in der Lage wären. Was soll man mit so vielen billigen Arbeitskräften anfangen? Die Lösung könnte so aussehen: Unter Verwendung der Gelder aus dem wegfallenden Zivildienst und unter Einbezug von Sozial- und Arbeitslosenhilfe wird im Sozialbereich der lange diskutierte staatlich subventionierte Billiglohnsektor eingeführt.

Parallel zur Absenkung des Arbeitslosengeldes auf das Niveau der Sozialhilfe (Arbeitslosengeld II) Anfang 2005 durch Zusammenlegung mit eben dieser, werden auch die Zumutbarkeitskriterien für Arbeitssuchende geändert. Für viele Politiker scheint es durchaus vorstellbar, dass Arbeitslosengeld-II-Empfängern neben jungen Menschen, die ihr soziales Pflichtjahr absolvieren, dann auch die Stellen der wegfallenden Zivildienstleistenden "zuzumuten" sind. Aber auch verschiedene Verbändevertreter der Zivildienstleistenden argumentieren für diese Art von Niedriglohnsektor.

Vergessen scheint, dass die so genannte Einweisung, die jeder "Zivi" obligatorisch erhält, nicht mit einer "Ausbildung" zu verwechseln ist. Wird ein arbeitsloser Sanitärfachmann in einem Heim für geistig behinderte Kinder zukünftig nicht nur den tropfenden Wasserhahn reparieren, sondern als staatlich subventionierte Hauptaufgabe auch noch die Kinder mitbetreuen? So könnte man jedenfalls den Stand der Diskussion zusammenfassen.