Das Standardmodell, es hält... und hält... und hält...

In Teilchenspuren des Large Hadron Collider am Genfer CERN entdeckten Forscher Hinweise, die das Standardmodell der Physik gleichzeitig bestätigen und schwächen

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Materie besteht nach dem Standardmodell der Physik aus Fermionen und nicht-elementaren Teilchen, die aus Fermionen aufgebaut sind. Fermionen existieren demnach in zwei Varianten: als Quarks, die der starken Wechselwirkung unterliegen (auch Farbwechselwirkung genannt), und aus Leptonen, die der elektroschwachen Wechselwirkung unterliegen, also der Kombination aus Elektromagnetismus und schwacher Wechselwirkung. Zu den Leptonen gehören das Elektron ebenso wie die verschiedenen Neutrinos.

Darstellung des Zerfalls des B0-Mesons im CMS-Detektor. Bild: CMS/CERN

Zu jedem der Elementarteilchen gibt es dabei ein Antiteilchen. Sowohl Leptonen als auch Quarks unterscheidet man zudem in Generationen. Zu jeder Generation gehören zwei Partner (etwa Elektron und Elektron-Neutrino), die bei Umwandlungen meist gemeinsam auftreten, aber sich bezüglich der elektroschwachen Wechselwirkung unterschiedlich verhalten. Von Generation zu Generation wächst die Masse. Allen Fermionen gemeinsam ist ein halbzahliger Spin.

Für die Wechselwirkungen zwischen den Fermionen sind die Vektor- oder Eichbosonen zuständig: das Photon für die elektromagnetische, das Gluon für die Farbwechselwirkung und Z- und W-Bosonen für die schwache Wechselwirkung.

Etwas abseits steht in diesem Bild das Higgs-Boson: Es vermittelt keine Wechselwirkung und ist damit auch nicht als Austauschteilchen tätig. Stattdessen hat es eine andere wichtige Funktion. Dass die schwache Wechselwirkung so schwach ist, lässt sich nur dadurch erklären, dass ihre Austauschteilchen, die Z- und W-Bosonen, besonders schwer ausfallen (und sich, anschaulich formuliert, nicht besonders weit bewegen können, ohne zu zerfallen). Das W-Boson ist zum Beispiel 80 Mal so schwer wie ein Proton und hat damit etwa die Masse eines Kalium-Atoms.

Die versteckte Symmetrie

In der Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung ist es jedoch nur schwer möglich, diese Massen direkt in die Formeln einzupflegen - sie würden als eigene Terme dafür sorgen, dass sich bei einer Änderung einiger Parameter die komplette Theorie ändert (was die Theorie ad absurdum führen würde). Die Physiker sagen, die Gleichungen sind dann nicht mehr eichinvariant. Deshalb braucht man einen externen Mechanismus, der über eine Wechselwirkung den Z- und W-Bosonen Masse verleiht.

Die Idee dazu hatten gleich drei Teams in den 1960er Jahren. Dabei griffen die Physiker auf einen Trick zurück, der ursprünglich bei der Erklärung der Supraleitung eingesetzt worden war: den spontanen Symmetriebruch. Damit die Gleichungen transformationsinvariant bleiben (und weil das besser aussieht), müssen sie symmetrischer Art sein. Der Trick besteht nun darin, diese Symmetrie so zu gestalten, dass sie zwar in den Formeln vorhanden ist, aber in der Natur nicht realisiert wird. Eine solche Symmetrie nennen die Forscher versteckte Symmetrie: Sie ist zwar vorhanden, aber nicht zu beobachten.

Zur praktischen Umsetzung wählte man ein Feld, dessen Struktur an den Boden einer Sektflasche erinnert. Stellen Sie sich vor, Sie müssten eine Metallkugel in einer Sektflasche genau auf die Spitze der Wölbung bugsieren. In diesem Moment wäre die Flasche samt Kugel exakt rotationssymmetrisch. Doch die Kugel bleibt dort nicht liegen: Die Symmetrie bricht spontan, und die Kugel rollt ins Tal.

1961 bewies Jeffrey Goldstone, dass diesem (später Higgs-Feld genannten) Konstrukt die Existenz eines masselosen Teilchens ohne Spin (Spin = 0, also ganzzahlig, damit ist es ein Boson) entspricht, das die Bezeichnung Nambu-Goldstone-Boson erhielt. Zunächst sah alles nach einem bloßen Trick aus, denn ein solches Teilchen war experimentell bisher nicht gefunden worden. 1964 wiesen die oben schon genannten Physikerteams unabhängig voneinander nach, dass sich die Technik auch in die Theorie der schwachen Wechselwirkung einbauen lässt.

Das Higgs-Boson...

Doch erst Peter Higgs zeigte, dass auch nach der die Masse verleihenden Interaktion mit Z- und W-Bosonen noch etwas übrig bleiben müsste - ein schweres Teilchen ohne Spin, eben das Higgs-Boson oder Higgs-Teilchen. Genau genommen verbleibt eine der insgesamt vier Komponenten des Higgs-Feldes übrig, während die anderen drei von den Z- und W-Bosonen (experimentell 1983 identifiziert) konsumiert werden (und ihnen Masse verleihen).

Diese Prognose lässt sich überprüfen - was allerdings wegen der hohen Energie beziehungsweise Masse (etwa die eines Zinn-Atoms) und kurzen Lebensdauer (10-22 Sekunden) des Higgs-Bosons lange gedauert hat. Tatsächlich zeigten 2012 Messungen des Beschleunigers am Schweizer CERN, dass es das Higgs-Boson mit großer Wahrscheinlichkeit gibt.

...und das Standardmodell

Obwohl dadurch erneut überprüft, sind sich die Forscher sicher, dass das Standardmodell nicht ewig halten kann. Denn es erklärt gerade einmal vier Prozent der Masse des Universums. Zu Dunkler Energie und Dunkler Materie weiß es nichts zu sagen. Die Physiker sind deshalb immer auf der Suche nach Messergebnissen, die das bekannte Modell in Frage stellen und auf neue Physik deuten.

Einen solchen Hinweis könnte das neutrale B-Meson liefern, oder besser: die neutralen B-Mesonen. Es gibt sie nämlich in zwei Geschmacksvarianten. Sorte Nummer 1, das "normale neutrale B-Meson" oder auch B0, besteht aus einem schweren Bottom-Anti-Quark und einem leichten Down-Quark. Typ Nummer zwei, das "seltsame neutrale B-Meson" B0S, enthält statt des Down-Quarks ein Strange-Quark.

B-Mesonen und die Messung von Zerfallsraten

Was die beiden B-Mesonen für die Physiker so spannend macht: Mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zerfallen sie in zwei Myonen, und zwar über eine Zwischenstation: die beiden Quarks müssten Top-Quarks untereinander austauschen und zwei W-Bosonen aussenden. Das Standardmodell liefert nun sehr genaue Voraussagen über die Wahrscheinlichkeit dieses Prozesses: Beim seltsamen B-Meson findet er in vier von einer Milliarde Fällen statt, beim normalen B-Meson sogar nur in einem von zehn Milliarden Fällen.

Forscher am CERN ist nun endlich gelungen, diese Zerfallsraten zu messen. Im Fachmagazin Nature berichten sie darüber. Das Ergebnis ist zunächst enttäuschend, wenn man auf neue Physik hofft: Für das seltsame B-Meson ergaben sich Wahrscheinlichkeiten im Einklang mit dem Standardmodell. Etwas Hoffnung darf aber doch bleiben: Das normale neutrale B-Meson zerfällt deutlich öfter über den beschriebenen Prozess, sogar viermal so oft - nur leider ist die Auswertung nicht signifikant genug, um hier schon von einer Entdeckung sprechen zu können.

Spannend wäre das, weil die Forscher schon eine Idee haben, wie sich das Standard-Modell ergänzen lassen könnte: Die Supersymmetrie ordnet jedem Fermion (halbzahliger Spin) als "Superpartner" ein Boson (ganzzahliger Spin) zu, wobei sich beide ineinander umwandeln können. Quarks werden zu Squarks, Leptonen zu Sleptonen... Leider sind bisher in der Natur keine dieser Superpartner beobachtet worden, obwohl ihre Energien teilweise in experimenteller Reichweite liegen.

Wären jedoch Superpartner am Zerfall des neutralen B-Mesons beteiligt, hätte das eine wichtige Folge: Die Zerfallswahrscheinlichkeit würde steigen, und zwar in die Bereiche, die die CERN-Forscher gemessen haben. So gelänge dann ein indirekter Nachweis der Superpartner. Jedenfalls wenn der LHC nächstes Mal Ergebnisse mit höherer Signifikanz erbrächte...

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