Der Sturm hat sich gelegt

Nach Mythen und Hypes steht jetzt die "pragmatische Wende" ins Haus - der Reader "Praxis Internet" beweist das

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Zweifellos hat das Internet im letzten Jahrzehnt seine kulturstiftende und kulturprägende Kraft für die moderne Gesellschaft bewiesen. Mit dem Netz haben sich neue Techniken des sozialen Miteinanders, des kulturellen Umgangs und des kommunikativen Austausches entwickelt. Und im und durch das Netz sind auch völlig neue Moden, Spleens und Spielformen entstanden oder gestaltet worden. Vor allem in westlichen Nonstop-Gesellschaften werden sie seitdem exzessiv genutzt, gehegt und gepflegt.

Ein von Stefan Münker und Alexander Roesler soeben in der edition suhrkamp erschienener Band mit dem simplen Titel: "Praxis Internet" zeugt davon. Er will die gängigen diskursiven Praktiken und Techniken nachzeichnen, die sich im Umgang mit dem Netz gebildet haben und in die Gesellschaft diffundiert sind. Damit wird der jüngst zu beobachtende Trend, wonach der Mediendiskurs weg von abstrakten Abhandlungen hin zu pragmatischen Verwendungsweisen strebt, weiter bestätigt und verstärkt (Neuer medienphilosophischer Fundamentaldiskurs.

Unerreichbar sein

Dennoch will oder kann der Band vollmundige Wunschbilder und blumige Legenden, die sich um das Netz ranken, nicht ganz vermeiden. So dürfte etwa die Behauptung von A. Broekmann, wonach das Online-Sein "tief in die Prozesse der Subjektivierung" eingreife und soziale Lebenswelten und Handlungsräume grundlegend verändere und neu erfinde, in seiner Pauschalität nach wie vor überzogen sein.

Das gilt vielleicht für ein paar Communities, die es sich im digitalen Raum bequem gemacht haben. Und das mag ebenso für den einen oder anderen Freelancer, Netjunkie und digitalen Sklaven gelten, der für seinen technisch unbegabten Chef oder Promi die Post auswertet, Interviewanfragen klärt und Termine koordiniert, oder auch für ein paar abgefahrene Typen wie den Massenmörder von Erfurt. Für das Gros der kleinen und infamen Leute, die jeden Tag die Probleme des Einkaufens, Kochens und Versorgens des Nachwuchses zu bewältigen haben und Tag für Tag unter den Marotten ihrer Arbeitskollegen, ihres Lebensgefährten und ihrer Nachbarn leiden, trifft das sicherlich noch immer nicht oder nicht so bald zu.

Andererseits halten es viele, darunter auch ein nicht unbedeutender Teil des jugendlichen Publikums, mit Clifford Stoll und anderen digitalen Aussteigern: sie misstrauen dem fröhlichem Singsang, das die Netzindustrie auf das konnektive Leben anstimmt ebenso, wie der angeblichen Leichtigkeit des Seins, die Anbindung und Vernetzung dem Netzbewohner versprechen, und bevorzugen stattdessen die Unwägbarkeiten des analogen Lebens im Offline. Ein hohes Gut und ein Wert an sich ist es, weder vom Wabbeln eines Handys belästigt noch vom blechernen "Sie haben Post" gestört und abgelenkt zu werden. Zeit haben, in den Tag hinein leben und für einen Sender unerreichbar zu sein wird, je mehr der Zwang zum Angeschlossensein wächst, zunehmend zum Privileg und Luxus eines exklusiven, unabhängigen und souveränen Lebens.

Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit

Das Skript, das Harald Preissler und Joachim Reske über das konnektive Arbeitsleben entwerfen und am Beispiel einer fiktiven E-Lancerin entfalten, erinnert mich jedenfalls nachhaltig an diesen exklusiven Luxus. Vor allem dieser Abschnitt sei allen Networkern, Freelancern und anderen Lonesome Eagles wärmstens empfohlen, die vor Massenbüros fliehen, auf gewerkschaftliche Organisierung pfeifen, an Bastelbiographien Gefallen finden und sich vom outgesourcten Arbeitsleben ein höheres Maß an Freiheit und Selbstbestimmung erwarten. Denn mit dem Multitasking wachsen auch die individuellen Zwänge.

In dieser vernetzten Welt ist das Daten- und Verkehrssystem längst vollständig privatisiert. Nur wer bereit ist extra zu löhnen, darf auf die Überholspur. Die Fun- und Freizeitplanung liegt in den Händen professioneller Coaches. Sie bieten dem Kunden maßgeschneiderte Workshops: Kindern den Besuch von Monster-Movies und Erlebnisparks, gestressten Müttern ganzheitliche Kurse für die geplagte Seele. Um Kreditnahme, Versicherungsfragen und andere Serviceleistungen des Alltagslebens kümmern sich Dienstleister, die für den Kunden personenbezogene Packages schnüren. Für Gourmetabende oder Schlemmerwochenende mit Freunden, Kollegen oder Familie sorgen wiederum spezielle Küchenportale, die Vorschläge erarbeiten und die Gerichte dafür liefern. Arbeit und Freizeit gehen bruchlos ineinander über. Gelebt wird dort, wo es Arbeit gibt. Leben bedeutet, es in die eigene Hand zu nehmen, eine unaufhörliche Arbeit an sich selbst zu verrichten. Nur wenn es zum begehrten Produkt wird, kann dieses Leben am Markt meistbietend verhökert werden. Wer mit dreißig immer noch Erwerbsarbeit leistet, gilt in bestimmten Branchen als tot. Sich fit zu halten und sich dem Tempo der wechselnden Beziehungen anzupassen, ist deshalb überlebensnotwendig. Wer nicht mit der Zeit geht, so lautet die Botschaft der Jüngeren an die Älteren, geht mit der Zeit.

Selbstverständlich hält das vernetzte Leben auch diverse Verlockungen und Qualitäten für diesen "Lebensunternehmer" bereit. Auch der E-Lancer und Online-Worker will schließlich bedient, gekauft und umworben sein und werden. Allerhand schöne Dinge und Markenartikel versüßen die Tücken der vernetzten Arbeitswelt und erleichtern die selbstgewählte Fremdbestimmung, das Nonstop-Engagement für Firmen, Marken und Personen.

Die "Lebensunternehmerin" besitzt allerlei erstrebenswerte Waren und Güter, beispielsweise ein erlesenes Automobil, in dem ein Autopilotsystem die Navigation für sie übernimmt und ein Audioplayer ihr dabei von ihrem Lieblings-Kulturportal die beruhigenden Klänge von Kurt Weill einspielt. Den Theaterabend, den sie mit ihrem Freund nach einem erneuten vierzehntägigen Arbeitstag gemeinsam verbringen will, muss sie allerdings wieder mal sausen lassen. Die jederzeitige Erreichbarkeit, der ständige Zugriff auf ihre Person und ihren Körper, den das vernetzte Automobil und das wearable computing erlauben, machen diesen Plan zunichte. Die Rede, die sie für ihre Chefin gerade geschrieben und ihr gemailt hat, muss umgeschrieben werden. Das Thema: "Die Arbeitswelt in der neo-analogen Ökonomie."

Nichts Neues unter der Sonne...

Ansonsten bietet der Band für den exzessiven Telepolis-Kunden wenig Neues. Meist werden bekannte Themen und Stoffe durchgearbeitet, die von meist jüngeren Autoren und Autorinnen nachgezeichnet, kommentiert und eingeordnet werden. Sie reichen von den verschiedenen Formen und Optionen des politischen Hacktivismus, die I. Arns vorstellt, über die Wiederkehr "barocker Formen", die N. Adamowsky in zeitgenössischen Computerspielen entdeckt, bis hin zu den Möglichkeiten und Grenzen des Gender Swapping, denen Ch. Funken nachstellt.

Und während Ch. Schulzki-Haddouti zum wiederholten Mal auf die Gefahren des Hijackings personenbezogener Daten aufmerksam macht, V. Grassmuck erneut eine Lanze für offene Standards und ein neues Urheberrecht bricht, das die nachhaltige Nutzung der Wissensallmende auch für nachfolgende Generationen garantiert, und S. Münker und A. Roesler dem Netz wegen seiner interaktiven Struktur die massenmediale Tauglichkeit absprechen, warnt C. Leggewie vor einer Remilitarisierung, die dem Cyberspace nach dem elften September droht, und die Ankunft einer Bürgergesellschaft zu verunmöglichen droht.

...dafür aber wie Diogenes in der Tonne surfen

Da mit Ausnahme des Infowar fast alle Bereiche (Politik, Ästhetik, Kunst, Ökonomie, Literatur ...) abgehandelt werden, bietet der Band dem Leser eine genuinen Überblick über die derzeitig gängigen Praktiken, die im und rund um das Netz kursieren und verhandelt werden. Der Nutzen des Buches dürfte deshalb neben seinem erschwinglichen Preis gerade in seiner kompendiumhaften Form liegen.

Zum anderen aber auch und vor allem, wo jetzt die Sonnenstrahlen auf die Terrasse, in die Biergärten oder Schwimmbäder zum Plaudern, Tratschen und Knutschen unter Anwesenden einladen und das nachmittägliche Hocken vor dem Bildschirm zur täglichen Qual wird, in seiner extremen Handlichkeit. Sie bietet nämlich die Möglichkeit und die Gewähr, im Grünen, unter freiem Himmel und im Liegestuhl noch mal in Ruhe und entspannter Haltung nachzulesen, was sich im Netz in den letzten Jahren ereignet hat. In dieser Weise habe ich das Buch auch genutzt. Und genau das ist auch der Grund, warum ich es hier vorstelle und empfehle.

Praxis Internet, hrsg. von Stefan Münker und Alexander Roesler, edition suhrkamp (2254), Frankfurt 2002, 280 Seiten, 11 Euro