Der stadtgewordene Pilzrausch

"Weird Fiction": Jeff Vandermeer und die schöne Hölle seiner urbanen Visionen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Weltenschöpfer wollen viele Phantastik-Autoren sein, und wenn ihre Texte etwas taugen sollen, brauchen sie auch ein Minimum an Talent in dieser Disziplin. Aber kaum einer treibt das Spiel so weit und beherrscht es so perfekt wie der Amerikaner Jeff Vandermeer.

Während die Fantasy vor Jahren noch ein ausgelutschtes Genre war, das die ewig gleichen, von Tolkien geprägten Klischees verhandelte, stellt sich die Sache heute ganz anders dar. Vorläufer der "Urban Fantasy" wie Michael de Larrabeiti und Emma Bull haben in den Achtzigern das Feld bereitet, auf dem heute die "Weird Fiction" gedeihen kann, ein brodelnder Sud aus Steampunk-, Mystery-, Fantasy- und ab und zu auch Science Fiction-Elementen, der im Moment im Vergleich zur reinen Science Fiction eindeutig die interessanteren Texte hervorbringt.

Stadt der Verrückten von Jeff Vandermeer

Das gilt nicht etwa nur für England oder die USA, sondern auch z. B. für Frankreich, wo ein Buch wie "La Horde du Contrevent" Ende letzten Jahres den "Grand Prix de Limaginaire", einen der bedeutendsten Phantastik-Preise des Landes gewann. Wohlgemerkt unter der Voraussetzung, dass außer dem engagierten Kleinverlag "La Volte" niemand das Buch drucken wollte. Wie ist das Werk von Jeff Vandermeer in diesem Zusammenhang einzuordnen?

Der 1968 geborene Amerikaner schreibt eindeutig Weird Fiction; wie z.B. auch sein britischer Kollege China Miéville (vgl. Magie und Revolution) handhabt er die verschiedenen Genres und Subgenres souverän, auch bei ihm ist eine phantastische Stadt Ziel aller Sehnsüchte, Ursprung aller Schrecken. Vandermeer hat alles, was die besten Autoren und Autorinnen seiner literarischen Bewegung auch haben - und eine Bewegung ist es, auch wenn sie kein Zentrum und kein explizites Programm hat. Er ist dem Horror ein wenig näher als andere und der Science Fiction ein wenig ferner, aber der Stallgeruch ist der gleiche. Worin übertrifft er dann die unmittelbare Konkurrenz?

Briefe aus der wahnsinnigen Stadt Ambergris

In den Fächern Sprache und Konstruktion. Vandermeers Sprache kommt in ihren allerbesten Momenten an die Kafkas heran und die Schrecken, die er beschreibt, hätte Poe nicht besser ausdenken können. Wir sprechen hier von phantastischer Weltliteratur, keine Frage. Der größte Schaden, den sich Vandermeer selbst zufügt, und der ihn dann doch den Rang der beiden Klassiker verfehlen lässt, ist eine minimale Disziplinlosigkeit: ein Hauch weniger Deutlichkeit bei der Beschwörung des Alptraums, ein Hauch weniger Drastik, und das Ganze würde noch gewinnen.

Aber was nicht ist, kann noch werden - das ist bei Vandermeer keine bloße Floskel, denn er schreibt seit dem Anfang der Neunziger im Grunde an einem einzigen Buch, und die Chancen stehen offenbar gut, dass das bis zum Ende seiner Karriere so bleiben wird. "City of Saints and Madmen" heißt es, erscheint immer wieder in veränderten Ausgaben und Gestalten und passt sich damit seinem Thema an, der wahnsinnigen Stadt Ambergris, in der Vandermeer immer wieder neue Viertel entdeckt.

Ambergris, der stadtgewordene Pilzrausch, der buchstäblich auf den Knochen eines jahrhundertealten Genozids steht - und die Bewohner schauen den Spätfolgen des Massenverbrechens mir einer Mischung aus Faszination und Ekel zu oder leugnen, dass es diese Spätfolgen überhaupt gibt. Ambergris, das früher Cinsorium hieß, und von seltsamen Humanoiden namens "Graycaps" bewohnt war, scheinbar grundfriedlichen Wesen, die sich um nichts in der Welt mehr kümmerten als um ihre Pilzkulturen. Mit denen sie auch buchstäblich in den Untergrund abtauchten, als die Gründer von Ambergris aufkreuzten und sie niedermetzelten.

Aber wehe, wenn die Graycaps zum Scherzen aufgelegt sind: von den Katakomben der Stadt aus, die allein sie beherrschen, schlagen sie mit verheerender Wucht zu und vernichten ohne Plan und Strategie, aber mit einem perversen Sinn für grotesken Humor Menschenleben, immer begleitet von ihren Pilzen, die sich im entscheidenden Moment nicht als Menübeilage auf Abruf, sondern als tödliche Sporenschleudern erweisen.

Krakenforscher, genialer Maler, gelangweilter Historiker

Nicht, dass die Standardmenschen über der Erde viel nachvollziehbarer handeln. In Ambergris löst die Kunst Bürgerkriege aus. Etliche Religionen, darunter der "Truffidianismus" und die "Kirche des siebenzackigen Sterns" kämpfen miteinander um Vorherrschaft. Bizarre parawissenschaftliche Theorien machen die Runde. Und einmal im Jahre findet das "Festival des Süßwasserkrakens" statt, das als lahm und misslungen gilt, wenn es nicht in Massaker und Orgien oder eine Kombination von beidem ausartet. Vandermeer lässt sich in vielfacher Verkleidung von diesem sozialen schwarzen Loch verschlucken.

Mal ist er ein verrückter Krakenforscher, der von der Begeisterung für seinen Forschungsgegenstand buchstäblich übermannt wird, mal ein gelangweilter Historiker, der einen geschichtlichen Abriss über die Stadt nur mit größtem Widerwillen herunterschreibt; mal ist er ein genialer Maler, der von seinen Auftraggebern zum Mord am größten Komponisten seiner Zeit gezwungen wird, mal ein Spross der bestimmenden Handelsdynastie von Ambergris, der sich auf die Spur der Graycaps setzt und offenen Auges in sein Verderben rennt. Und natürlich führt sich Vandermeer in sein Geschichtengeflecht selbst ein, als Insasse einer Psychiatrie, der festgehalten wird, weil er darauf beharrt, Ambergris nur erfunden zu haben.

Man könnte dieser Spiele, dieser vielen Texte, die sich gegenseitig kommentieren, negieren und unterwandern, überdrüssig werden, wenn Vandermeer nicht ein so großartiger Erzähler wäre. Sein Repertoire an Haltungen, Stilen und Tricks scheint unermesslich, bizarre Geschichten fliegen ihm offensichtlich nur so zu. Letztes Jahr ist ein neues, buchlanges Addendum zum Ambergris-Universum erschienen "Shriek: An Afterword", geschrieben aus der Perspektive einer Schwester des Historikers, der uns in "City of Saints and Madmen" bereits die Frühgeschichte der Stadt näher gebracht hatte. Muss man diesen vorerst letzten Brief als Nachwort, als Abschied Vandermeers von einer jahrzehntealten Obsession begreifen? Wahrscheinlich nicht. Schade wäre es allemal, denn dass der Autor weiterhin mit all seinen Charakteren durch seine Schöpfung wandert und von den giftigen Wundern berichtet, die er dort entdeckt; dass er auf diese Weise die Leibnitzsche Idee umkehrt, nach der einst die Bibliotheken Städte werden müssen, wäre vielleicht für ihn nicht gesund, aber für den Leser von Vorteil.