Die nukleare Büchse der Pandora: Indien und Pakistan steuern einer atomaren Auseinandersetzung entgegen

Die Lunte, die zum atomaren Pulverfass im indischen Subkontinent führt, brennt bereits

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Wenn Misstrauen, Angst und Hass regieren, gewinnt die Unvernunft meist die Oberhand. Auf die Atommächte Indien und Pakistan, wo derzeit die Nerven besonders blank liegen, trifft dies in ganz besonderem Maße zu. Wieder einmal rasseln dort die Säbel - allerdings mit einem Unterschied. Erstmals stehen sich an der Waffenstillstandslinie in der Kaschmir-Region über eine Million Soldaten gegenüber. Und erstmals gewinnt das atomare Schreckgespenst derart reale Konturen, dass sogar England und Frankreich aus Angst vor einem potenziellen Atomkrieg das Botschaftspersonal zum größten Teil aus Pakistan abgezogen haben.

Warum in haben wir uns den Luxus geleistet, zahlungswillige Multi-Millionäre vom Schlage eines Dennis Tito oder Mark Shuttleworth als Weltraumtouristen in den Orbit zu schießen. Hätte man stattdessen nicht besser engstirnige und nationalfixierte Politiker wie etwa den pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf und den indischen Ministerpräsidenten Atal Behari Vajpayee in die Schwerelosigkeit entlassen, damit diese den Overview-Effekt er- und durchleben und dabei lernen, in Zukunft weitreichende Entscheidungen unter globaleren Gesichtspunkten zu treffen. Wäre es nicht weitaus sinnvoller gewesen, jenen Unwissenden das Erlebnis zuteil werden zu lassen, das der Shuttle-Astronaut Sultan Bin Salman al-Saud dereinst während eines Shuttleflugs mit folgenden Worten beschrieb:

Am ersten Tag deutete jeder von uns auf sein Land. Am dritten oder vierten Tag zeigte jeder auf seinen Kontinent. Ab dem fünften Tag gab es für uns nur noch eine Erde.

Kaschmir - ein kleines Fleckchen Erde

Während sich die bilateralen Beziehungen zwischen den Supermächten USA und Russland weiter normalisieren und das beidseitige Atomwaffenarsenal um Zweidrittel reduziert werden soll, vollzieht sich auf dem subindischen Kontinent eine höchst gefährliche, diametrale Entwicklung, die in einem Atomkrieg münden könnte. Gestritten wird um ein Fleckchen Erde namens Kaschmir, eine Region im Himalaya, die gerade mal eine Größe von 222.000 Quadratkilometern aufweist.

Auslöser für die jüngsten Spannungen zwischen beiden Staaten war der Angriff auf ein indisches Militärlager am 14. Mai, bei dem 34 Menschen - überwiegend Frauen von Soldaten und Kinder - getötet wurden. Indien macht von Pakistan aus operierende muslimische Extremisten für den Überfall verantwortlich. Beim Kampf der Separatisten im indischen Teil Kaschmirs kamen seit 1989 bis zu 70 000 Menschen ums Leben. Seit dem vergangenen Dezember haben Indien und Pakistan ihre Truppen entlang der Grenze verstärkt. Indien beschuldigt Pakistan, für einen Terroranschlag auf das indische Parlament mitverantwortlich zu sein und hatte militärische Aktionen gegen Separatistenstellungen auf pakistanischem Gebiet erwogen. Heute stehen sich an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir über eine Million schwer bewaffnete Soldaten gegenüber, wobei vereinzelte Kämpfe und kleinere Scharmützel an der Grenze zu Kaschmir, wo schon seit 1947 scharf geschossen wird, auf der Tagesordnung stehen.

Seit den drei blutigen Kriege von 1948, 1965 und 1971, die Indien und Pakistan mit Beginn ihrer Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 geführt haben, kennzeichnen zwei grundlegende Spannungen das indisch-pakistanische Verhältnis: ein territorialer Streit und der Widerspruch in der jeweiligen Staatsideologie und der Territorialkonflikt um die Hochgebirgsregion von Kaschmir, deren Verbleib am Ende der britischen Kolonialherrschaft ungeklärt war.

Pakistan konventionell hoffnungslos unterlegen

Wenig hoffnungsvoll stimmen vor allem die großen Unterschiede, die zwischen beiden Staaten auf nahezu allen Ebenen zum Ausdruck kommen - wie etwa das vollkommen unterschiedliche Staatsverständnis. Seit seiner Gründung hinkt Pakistan seinem Nachbarn in fast jeder Hinsicht hinterher und spielt bis dato stets die Rolle des Reagierenden. Einerseits ist das islamische Land in punkto Land/Größe, Bevölkerung, Wirtschaftskraft und konventionellen Waffen dem Riesen Indien hoffnungslos unterlegen. Andererseits verfügt die 152,33 Millionen Einwohner starke und 796.095 Kilometer Quadratkilometer große "föderative Republik" immerhin über 20 bis 40 einsatzfähige Atombomben, wobei pro Bombe rund 20 Kilogramm Spaltmaterial verwendet wird. Aber auch hier hat Indien (Bevölkerung: 1,05 Milliarden, Landesfläche: 3, 29 Mio km²) einen deutlichen Vorsprung. Es wird vermutet, dass Neu-Delhi bisher etwa 50 bis 100 Plutonium-Sprengköpfe hergestellt hat.

"Jeder Sprengkopf auf beiden Seiten hat wahrscheinlich etwa die Stärke der Atombombe, die die USA 1945 über Hiroschima abgeworfen hat, also rund 15.000 Tonnen TNT", erklärt David Albright, der am Institute for Science and International Security in Washington lehrt und forscht. Indien werde vermutlich seine Kampfflugzeuge vom Typ MiG mit Atombomben bestücken, Pakistan werde eher auf seine Raketen vertrauen, insbesondere solche vom Typ M-11 chinesischer Bauart mit einer Reichweite von 300 Kilometern. "Beide Seiten könnten gerade dabei sein, die Sprengköpfe zu montieren", warnt der Forscher, der wie das Gros seiner Kollegen den Subkontinent als die weltweit gefährlichste und anfälligste Region für den Einsatz von Nuklearwaffen einstuft. Sollte sich dort in den nächsten Tagen und Wochen die Krise weiter verschärfen, könnten die Führer und autorisierten Verantwortlichen beider Staaten schnell unter Zugzwang geraten und den Startknopf unvermittelt drücken.

Kein rotes Telefon

Unvermittelt deshalb, weil zwischen Pakistan und Indien kein rotes Telefon einen direkten Draht der jeweiligen Staatschefs zueinander garantiert. Hinzu kommt, dass die pakistanischen Atomsprengköpfe höchst unzureichend gesichert sind. Bei ihnen kann infolge des Fehlens eines elektronischen Kodesicherungs-Systems zur Schärfung der Gefechtsköpfe praktisch jeder, der gerade im Besitz der Raketen ist, die Flugkörper mit der tödlichen Fracht starten.

Zwei von ihnen, die jeweils einen Atomsprengkopf tragen können, wurden am Wochenende trotz internationaler Prostete gestartet; gottlob allerdings nur zu Testzwecken und ohne nukleare Bestückung. Nachdem Pakistan am Samstag eine Mittelstreckenrakete vom Typ Hataf-5 mit einer Reichweite von 1.500 Kilometern erprobt hatte, folgte am Sonntagmorgen erstmals der Start der neu entwickelten Kurzstreckenrakete vom Typ Hataf-3 (Reichweite: 290 Kilometer). "Wir wollen keinen Krieg, aber wir sind zum Krieg bereit", so der Kommentar von Präsident Pervez Musharraf nach den Raketentests.

Doch ungeachtet des von Pakistan gezielt zur Schau getragenen atomaren Säbelrasselns reagierte Neu-Delhi bereits am Freitag gelassen auf den von Islamabad angekündigten Test: "Die indische Regierung ist nicht sonderlich von diesen Raketenpossen beeindruckt", sagte Außenamtssprecherin Nirupama Rao. Der Test diene innenpolitischen Zwecken und habe nichts mit der "gegenwärtigen Lage" in Kaschmir zu tun.

England stellt sich auf Atomkrieg ein

Interessanterweise zeigt sich über die aktuelle Entwicklung weniger Indien als vielmehr das britische Militär höchst beunruhigt, das sich nach einem Bericht der Londoner Zeitung Times offenbar auf die Folgen eines Atomkriegs zwischen Indien und Pakistan gezielt einstellt und ernsthaft darüber nachdenkt, wie auf einen beidseitigen Nuklearschlag am besten reagiert werden kann. Die Besorgnisse der britische Experten, die eine atomaren Schlagaustausch zwischen Pakistan und Indien als eine "reale Möglichkeit" einstufen, gehen bisweilen sogar so weit, dass zurzeit Evakuierungspläne für britische Staatsbürger in Indien und Pakistan entworfen werden. Darüber hinaus wurde letzten Mittwoch bereits aus Sicherheitsgründen der Großteil des britischen, aber auch des französischen Botschafterpersonals aus Pakistan abgezogen. Selbst Deutschland zieht in Erwägung, alsbald sein Botschaftspersonal in Pakistan zu verringern. "Wir reagieren damit auf die gestiegene Gefahr terroristischer Anschläge", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am Samstag in Berlin.

Die ehemalige Kolonialmacht England scheint für die Vorgänge auf dem subindischen Kontinent besonders sensibilisiert zu sein. Kein geringerer als der britische Außenminister Jack Straw sieht die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung für gegeben. Seiner Ansicht nach könne der Militäraufmarsch in der Krisenregion leicht in einen nuklearen Konflikt münden, "in einer Art, wie wir es noch nie zuvor gesehen haben", verdeutlichte Straw am Montag bei der Botschafterkonferenz des Auswärtigen Amtes in Berlin. "Es ist ein sehr gefährlicher Moment." Beide Seiten hätten Atomwaffen und die Kapazität sie zu nutzen, warnte Straw, der mit Blick auf seinen Besuch auf dem indischen Subkontinent am Dienstag sagte: "Es gebe ganz klare Grenzen der Diplomatie von außen, deswegen mache ich mir keine Illusionen über das, was ich ausrichten kann und was nicht."

Warnende und hoffnungsvolle Stimmen

Während Indiens Ministerpräsident Vajpayee am Sonntag in einer vom Fernsehen live ausgestrahlten Rede erklärte, dass es eine Grenze für die Geduld Indiens gäbe, und dass die Lage an der Grenze zu Pakistan sehr "ernst" sei, wurde sein Gegenüber, General Pervez Musharraf, im pakistanischen Fernsehen in einer mit Spannung erwarteten Rede an die Nation noch deutlicher: "Die Spannungen sind auf dem Höhepunkt", so der Präsident. Die Attacke auf das indische Parlament vom 13. Dezember habe man bedauert und als einen Akt von Terroristen verurteilt. Indien habe dies jedoch nicht akzeptiert. "Wir wollen keinen Krieg, wir wollen Frieden", so Musharraf, "doch sollte gegen uns Krieg geführt werden, werden wir mit allen Mitteln verteidigen."

Für Bundesaußenminister Fischer gehört der Konflikt um die umstrittene Provinz Kaschmir zu den vielen Gestaltungsaufgaben, die Europa "künftig erheblich mehr an Aufmerksamkeit und Ressourcen" abverlangen werden. Auch für den Kaschmir-Konflikt gelte, dass er nur dem Anschein nach sehr weit weg sei. "Aber die Folgen einer Eskalation würden uns unmittelbar betreffen," so Fischer.

Nach Ansicht des pakistanischen Physikers Zia Mian von der Princeton-Universität im US-Staat New Jersey befinden sich beide Staaten derzeit in einem Wettlauf, ihre Arsenale auszubauen. "Die pakistanischen Urananlagen arbeiten, so weit wir das wissen, in drei Schichten rund um die Uhr." Am ehesten könnte sich Pakistan zu einem atomaren Angriff genötigt sehen, wenn es sein nationales Überleben gefährdet sehe - etwa durch einen Vorstoß der indischen Armee weit auf pakistanisches Gebiet oder durch eine Seeblockade, glaubt Mian.

Ähnlich bewertet dies der Politologe Sumit Ganguly von der Universität von Texas. "Wenn die Inder tief nach Pakistan vorstießen und keine Anstalten machten, den Vorstoß zu beenden, dann könnten die Pakistaner mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen." Allerdings sei nicht davon auszugehen, dass Indien so "dumm" sei, eine nukleare Vergeltung bewusst zu provozieren.

Sollte aber das Unvorstellbare dennoch Realität werden, so könnte dies für 30 Millionen Inder und Pakistaner den sofortigen Tod bedeuten, ganz zu schweigen von den strahlenbedingten Langzeitfolgen für die Überlebenden. So lautet zumindest die Einschätzung der Natural Resources Defense Council mit Sitz in Washington, die im Januar mittels eines Computermodells ein virtuelles Szenario entwarf, wonach jeder Staat ein Dutzend Sprengköpfe über große Städte des Gegners "detonieren" ließ.

Nicht minder tröstlich fiel auch das computerkreierte Schreckensszenario eines indisch-pakistanischen Forscherduos aus, dessen Ergebnis Anfang dieses Jahres in dem angesehenen US-Wissenschaftsmagazin "Scientific American" veröffentlicht wurde. In dem Beitrag verweisen die Autoren auf die Gefahr, dass das militärisch unterlegene Pakistan bei einer kriegerischen Auseinandersetzung die Atomwaffe als letztes Mittel anwenden könnte. Anstelle eines gezielten Warnschusses würde Pakistan gleich eine indische Großstadt direkt angreifen. Träfe etwa eine 15 Kilotonnen-Bombe die Stadt Bombay, dann würden allein in den ersten Monaten zwischen 150.000 und 850.000 Menschen sterben, so die wenig hoffnungsvoll stimmende Prognose der Forscher (Vgl.Dr. Seltsam lässt grüßen - Atomares Damoklesschwert über dem indischen Subkontinent).

Etwas optimistischer fällt indes das Fazit des Südasien-Kenners und dort zurzeit tätigen ARD-Hörfunkkorrespondenten Michael Weidemann aus, der ungeachtet der ganzen Spannungen die Gefahr eines Atomkriegs zwischen beiden Nationen für ausgesprochen gering hält. "Angesichts der fast vollständigen Zerstörung, die Indien und Pakistan im Falle eines nuklearen Schlagabtauschs bevorstünde, mögen Vajpayee wie Musharraf vor einem realen Waffengang zurückschrecken."

Bleibt nur zu hoffen, dass das Vermittlungsangebot des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der Anfang Juni beide Regierungschefs zu Gesprächen am Rande eines Asiengipfels in Almaty in Kasachstan empfängt, wirklich dabei hilft, die drohende Eskalation einzudämmen. Immerhin - trotz aller bisherigen Hiobsbotschaften gibt es gleichwohl ein positives Signal: Beide Seiten haben ihre Teilnahme an der Konferenz vorläufig zugesagt.

In der New York Times (Ausgabe: 27.05.2002) findet sich unter dem Artikel "Musharraf says Pakistan Stands at Crossroads of War" ein kurzer Video-Mitschnitt der Rede von Präsident Pervez Musharraf (Registrierung erforderlich)