"Fuck the Women and Children"

Satire Darf Alles, Zwei

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Beginnen wir mit einem ziemlich guten Witz, um uns für die Wartezeit zwischen Teil Eins und Teil Zwei zu entschädigen:

Ein Schiffsunglück. Der Dampfer versinkt. Der Kapitän und die Mannschaft drängen in die Rettungsboote.

Ein Pfarrer an Bord fragt den Kapitän:

"What about the women and children?"

Der Kapitän antwortet:

"Fuck the women and children!"

Sagt der Pfarrer:

"Yeah. But will there be time?"

Sie verstehen, der Witz dreht sich um die Doppelbedeutung des Ausdrucks "fuck the women and children". Einerseits heißt das: "Scheiß’ auf die Frauen und Kinder". Andererseits: "Fickt die Frauen und Kinder". Und der Pfarrer — wir vermuten, ein Katholik, aber jeder andere würde die Witzfunktion ebensogut erfüllen — denkt hier natürlich an die päderastische Variante, und deswegen fragt er: "Schön und gut, aber werden wir noch genug Zeit haben dafür?"

Das ist doch ein eminent zeitgenössischer Witz, denn vor zehn oder 20 Jahren gab es bereits weltweit die Tatsache der kinderbetätschelnden Übergriffe in katholischen Werksbetrieben, aber kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, einen Pfarrer routinemäßig als Kinderschänder darzustellen. Das ist heute anders.

Aber wie ist das mit dem versinkenden Schiff — mit den Kindern, die hier ebenso routinemäßig den Wellen des Meeres geopfert werden? Das ist ein Element des Witzes, das soo neu ist, dass man es als zeitgenössische Zutat noch nicht einmal erkennt. Man glaubt, es sei ein Witz aus dem 19ten Jahrhundert. Oder aus dem frühen 20sten. Dampfer, Rettungsboote, Kapitän, Pfarrer. Schon das Personal wirkt veraltet.

Der Witz hat gewissermaßen noch keine moderne Form gefunden, um seinen Inhalt zu transportieren.

Und wenn er so anfinge: Ein afrikanischer Schlepperkahn mit 700 Menschen an Bord versinkt vor Lampedusa …

Dann könnte man den Rest der Geschichte nicht mehr weiter erzählen, weil dann der Witz schon im ersten Teil gestorben wäre.

Man könnte auch keinen Witz erzählen, der mit einer Zugankunft im KZ Theresienstadt beginnt. Das Orchester spielt Wagner. Aber die völlig verschmutzten Reisenden wollen zunächst einmal duschen. — Nein, das verbietet sich.

(Obwohl ja die grotesken Komödieneffekte nicht von mir erfunden sind. Sie sind Fakt, Original-Nazi-Inszenierungen, das Orchester, die vorgeblichen Duschen, die sich als Vergasungsanlagen herausstellten. Der englische Humor-Schriftsteller P. G. Wodehouse, der eine Zeitlang in einem KZ interniert war, wähnte sich in einem bizarren Ferien-Camp. Er konnte den Ernst der Lage überhaupt nicht erfassen.)

Mit Swift nach Libyen

Ich beendete Teil Eins dieses Artikels mit Jonathan Swifts Satire Ein bescheidener Vorschlag. Hier empfahl der Satiriker und Pfarrer (tatsächlich, ein Kirchenmann!) Swift seinen Zeitgenossen in Irland, damals, vor mehr als 300 Jahren, doch ihre zahlreichen Kinder, die sie selber nicht durchfüttern konnten, entweder selber zu futtern oder als zartes Schweinefleisch (ein nur von Milch genährtes Spanferkel nennt man ein "suckling pig"!) nach London zu verkaufen. [Anm. d. Red.: Auch das deutsche Spanferkel hat seinen Namen vom germanischen "spänen" (säugen).]

Ich sagte schon, dass Swift diese Story nicht geschrieben hat, um seine Leser damit zu amüsieren. Ihm war nicht richtig zum Lachen zumute.1

Er wollte aufrütteln, es war ein journalistischer Verzweiflungsschrei, ein "cri de coeur", wie man das auf Englisch nennt. Es ist dies selbstverständlich ein französischer Ausdruck, quasi ein "Fremdwort", das sich im Englischen ausgebreitet hat, weil die Engländer selber zu einem solchen Ausdruck nicht fähig sind; sie bewahren sich lieber die "stiff upper lip", die (wie mit Botox) gefrorene Gesichtsmaske; aber die französische Bedeutung, "ein Schrei aus dem Herzen" ist ganz genau so im Englischen erhalten geblieben, als "a passionate outcry (as of appeal or protest)" — also als ein leidenschaftlicher Aufschrei, wie ein flehentliches Bitten oder ein Protestschrei.

Ich bin überzeugt, die Iren waren damals ihrem Swift nicht dankbar für diese grandiose Entgleisung - aber heute, drei Jahrhunderte später, wissen wir auf diese Weise immer noch, wie superbeschissen es dem irischen Volk damals gegangen ist. Das Schweigen wurde gebrochen. Man hätte sich gewünscht, dass es einen "Swift" gegeben hätte, als die Züge in Theresienstadt einfuhren, oder heute, wenn die Schlepperkähne vor Lampedusa in den Fluten versinken.

Kommen wir also zum Heute. Und wenden uns einem Artikel aus der New York Times zu. Begleitet wird er eingangs von einem Foto von drei afrikanischen Jungs, gekleidet in T-Shirts und modisch bedruckten Sportjacken, die nicht einmal sonderlich nach europäischer Kleidersammlungskiste aussehen. Die Kids wirken, als seien sie kürzlich an einem sonnigen Tag irgendwo in mediterranen Gefilden fotografiert worden. Man sieht die frisch geweißelte Außenwand eines Hauses, dazu ein farbbekleckstes metallenes Treppengeländer. Doch das Foto trägt, ebenso wie die Ortsmarkierung des NYT-Reporters, den Stempel "Zawiya, Libya".2

Dies sind nun keine anonymen afrikanischen Kids, sie haben richtige Namen und ein dazugehöriges Alter. Sie heißen Efrem Fitwi (8) und Hermon Angosom (8), sowie Filimon Burust (circa 8). Sie stammen aus Eritrea, und befinden sich, auf diesem Foto, in einem Gefangenenlager in Libyen.

Man sieht den Kleinen an, dass sie nicht "auf der Nudelsuppn dahergeschwommen" sind, wie man in Österreich sagen würde. Sie sind keine Naivlinge. Jeder Einzelne von ihnen ist alles andere als ein hölzernes Bengele wie Pinocchio, der dem Fuchs und der Katze in die Fänge gerät (oder wie sein deutsches Pendant, Zäpfel Kern, in der Fassung von Otto Julius Bierbaum, der ebenfalls ein Opfer seiner Häscher wird).

Nein, diese Jungs stehen im Leben, seit sie auf ihren eigenen zwei Beinen stehen können. Sie sind von Anfang an wie kleine Erwachsene unterwegs gewesen, die ihren Beitrag geleistet haben, zum Überleben ihrer Familie. Sie haben keine Schule besucht, sie sprechen von Haus aus Tigrinisch, die semitische Amtssprache in Eritrea - und in Libyen haben sie etwas Arabisch dazugelernt. Sie sind wahrscheinlich Christen - und in Libyen befinden sie sich in einem islamischen Land.

Aber sie sind nichtsdestoweniger Kinder. Wir wissen aus unserer eigenen Welt, wie Achtjährige ticken. Wir können uns nur schwer vorstellen, wie Kindersoldaten in Sierra Leone "drauf" sind, aber wir können uns vorstellen, wir können es im Feuilleton unserer Zeitungen nachlesen, wie schulferne Achtjährige in unserer Welt funktionieren.

Egal, wie ihnen das Leben mitspielt, sie sind Kinder — mit einem kindlichen Verstand ausgestattet, der ihnen die Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit erschwert. Letzten Endes sind sie deshalb doch wieder die perfekten Opfer, die (wie Pinocchio) irgendwelchen Häschern in die Hände fallen.

Der amerikanische Journalist David D. Kirkpatrick, ein gebürtiger New Yorker, ein Weißer, nimmt höchstwahrscheinlich an jedem Tag von Neuem sein eigenes Leben in die Hände, wenn er in dieser massiv anti-amerikanischen Region im östlichen Nordafrika umherspaziert. Er erzählt uns nicht, was wir uns eigentlich selber denken können sollten:

Dass diese Kids (wie räudige Hunde in einem Tierheim) womöglich niemals ein liebevolles Zuhause finden werden. Dass sie abgefüllt sind mit Krankheiten, dass sie vielleicht jeden Tag sexuell missbraucht werden, und dass man die Jungs eventuell deshalb fürs Foto hergenommen hat, weil die Mädchen gar zu offensichtlich "völlig durch den Wind" sind.

Die Mädchen sind vermutlich auch nicht aus freien Stücken mitgegangen. Ihre Odyssee setzt ein, wenn sie sexuell "verwertbar" sind und dauert länger. Hermon hat eine ältere Schwester, "Haben", das ist ihr Name, Alter 22 Jahre. Sie lebt in Norwegen. Wie ihre Reise ausgesehen hat und wie lange sie dauerte, erzählt uns Kirkpatrick nicht.

Der Schwester war es möglich, aus Norwegen mit ihrem Bruder oder seinen Aufpassern zu sprechen, am Handy. Ebenso mit dem in Eritrea "untergetauchten" Vater, aber was den Journalisten betraf, ließ die junge Frau sich auf kein Zitiertwerden ein.

Es ging nun darum, Geld aufzutreiben, um die Kleinen — den kleinen Bruder, Hermon und den anderen, Efrem, auf ein Schiff zu setzen, das sie beide Richtung Lampedusa schippern würde. Um ihren Bruder oder ihre Geschwister (Kirkpatrick bleibt da etwas nebulös) auszulösen, musste "Haben" Geld auftreiben, das sie in dieser Höhe nicht besaß: 3.200 US-Dollar - nach heutigem Kurs 2.816 Euro.

Meine werten Leser und Leserinnen können mitrechnen. Wenn SIE das Leben eines Familienangehörigen lieber heute als morgen retten müssten, und man bäte SIE um ein Lösegeld von knapp 3.000 Euro, woher würden SIE das Geld beschaffen? Bankraub? Antiquitäten verkaufen? Das Auto?

Die 22jährige Haben bat Verwandte und Freunde um finanzielle Unterstützung, so Kirkpatrick. Die "Rettung" nach Norwegen hat der jungen Frau nichts genützt; sie wird auch dort aktiv auf den Strich gegangen sein. Vermute ich. Nach vier Wochen, als sie das Geld beisammen hatte, überantwortete sie es, wie ein kleines Schiff aus Papier, einem ungewissen Geldstrom.

Sind damit die Probleme gelöst? Nun, die kleinen Jungs hatten jetzt 1.600 Dollar für die Reise durch Libyen, und 1.800 Dollar für den Bootstrip durch das Mittelmeer. (Ich weiß, das ergibt 3.400 statt 3.200 Dollar, aber so steht’s im Artikel von Kirkpatrick. Auch bei der NYT scheint man das Kopfrechnen verlernt zu haben.)

Dinghi. Bild: Heiner Sollermann. Lizenz: Public Domain.

In dunkler Nacht wurden die Kids dann in ein aufblasbares Gummiboot — ein Dinghi — verladen, das sie zu einem Schifferskahn bringen sollte, auf dem bereits 200 Menschen auf die Abfahrt warteten. Das Gummiboot erlitt praktisch sofort einen Schaden und wurde wieder an Land gezogen, und die Kinder wurden verhaftet und in das Straflager verbracht. Geld futsch - nun muss Haben, die Schwester, nochmal 600 Dollar für ein Bakschisch (Schmierage) auftreiben, um die Kids aus dem Lager heraus und aufs nächste Boot zu zaubern.

Letztes Jahr starben womöglich Hunderte dieser minderjährigen Passagiere in den Fluten des Mittelmeers. Insgesamt 170.000 Flüchtlinge aller Altersstufen gelangten aber nach Italien.

Ich habe mich bei dieser Darstellung auf die Kinder konzentriert, weil ich die Parallele zur Situation, die Jonathan Swift zu seiner großen Satire — zu seinem Großen Aufschrei — herausforderte, nachzeichnen wollte. Ist es vorstellbar, dass Europa zu keiner Geste fähig ist? Oder die schreibende Zunft — zu keinem Aufschrei? Zu keiner Satire, wo man doch in Europa "ALLES" darf? Alles sagen darf, schreiben darf, denken darf?

Zwei Dinge noch rasch zum Schluss.

Die USA zahlen zur Zeit 1.000 Dollar für jedes in Afghanistan aus Versehen per Drohne ausgelöschte Menschenleben. Das ist also um etwa die Hälfte weniger als das, was "Haben" für ihre Geschwister aufbringen darf.

Und Europa hat auch eine Antwort auf das Problem gefunden.

Es soll EU-Marinemissionen gegen die Schlepper geben, ihre Boote sollen aufgespürt werden und man hofft, auch die Stehplatzpassagiere zu retten (obwohl das nicht ausdrücklich im Programm steht).

SATIRE ist das sicher nicht. Und es ist auch nicht der befreiende Lacher am Ende des Programms. Ich weiß nicht, ob ich einen solchen anzubieten haben werde. Aber einen weiteren Teil auf alle Fälle. Demnächst.

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