"Jedes Kind individuell fördern... NEIN..."

Die von den Parteien in NRW verwendeten Wahlplakate zeigen, wie die Kunst verloren gegangen ist, eindringliche Botschaften über Plakate zu vermitteln

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Plakate werden normalerweise nicht bewusst wahrgenommen. Insbesondere Wahlplakate stehen oft an viel befahrenen Straßen, werden im Vorbeifahren gesehen und können daher eigentlich nur einfachste Botschaften vermitteln. Dieser an sich einsichtige kommunikative Grundsatz scheint im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen nicht zu gelten. Was dazu führt, dass die Botschaften falsch oder gar nicht verstanden werden.

Bei ihrem massenhaften Aufkommen im ausgehenden 19ten Jahrhundert waren Plakate ein nicht zu übersehendes Indiz für die zunehmende Ausbreitung der demokratischen Zivilgesellschaft. Es entstand der "öffentliche Raum", in dem der herrschenden Entmündigung weiter Teile der Bevölkerung entgegengewirkt werden konnte, da er im Prinzip von jedem nutzbar war, sei es von einem Künstler, einem für sein Geschäft Werbenden oder eben von den entstehenden politischen Parteien. Bald wurde das Potential von Plakaten erkannt, massenpsychologisch oder massenpädagogisch wirksam zu sein. Dies korrelierte mit einer zunehmenden Beachtung visueller Kommunikation, von der erwartet wurde, allgemein verständlicher zu sein als die Bildung voraussetzende Wort- und Schriftkultur.

"Ein Bild sagt mehr als tausend Worte." Den berühmtesten Zauberspruch aller gläubigen Bilderanbeter formulierte kein geringerer als der wortgewaltige Kurt Tucholsky 1926. Wohl nur ein zur Bildungselite Gehörender konnte so naiv über die kommunikative Wirksamkeit von Bildern sprechen.

Was ist von dieser Werbebotschaft lesbar, wenn man im Auto daran vorbeifährt? Foto: Chr. Gapp

Selbst nach ihrem massenhaften Missbrauch zur Entmündigung der Bürger in totalitären Systemen, vor allem im Kommunismus und Nationalsozialismus, gehören Plakate weiterhin zum öffentlichen Erscheinungsbild. Der kommunikative Grundsatz, sie sollten nur einfache Botschaften transportieren, gilt weiterhin. Schließlich werden Plakate nur im Vorübergehen, heute meist im Vorbeifahren, gesehen und oft nur unterschwellig wahrgenommen. Komplizierte Aussagen oder Kleingedrucktes haben auf ihnen nichts zu suchen. Diese Grunderkenntnis plakativer Kommunikation scheint in Vergessenheit zu geraten.

Im Vorbeifahren. Foto (M): Chr. Gapp

Was kann ein Autofahrer im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen beispielsweise von einem Plakat der FDP verstehen, das derzeit massenhaft an den Straßenrändern aufgestellt ist? Das Plakat wirbt für individuelle Förderung von Schülern und gegen die "Einheitsschule", welche durch eine halb aufgerollte Sardinendose symbolisiert wird. Der Hauptspruch ist: "Jedes Kind individuell fördern". Das "Nein zur Einheitsschule" ist aber so gedruckt, dass das "Nein" das "...zur Einheitsschule" überstrahlt. Auf dem Plakat finden sich somit gleichzeitig eine Ja- und eine Nein-Aussage. Vorprogrammierte Verwirrung. Im Vorbeifahren bleibt nur hängen "Jedes Kind individuell fördern... NEIN...". Immerhin farblich ist das Plakat der FDP unschwer zuzuordnen, selbst wenn der Parteiname nicht zu sehen ist.

Zumindest in der Qualität ihrer Wahlplakate sind CDU und FDP schon koalitionsfähig. Foto: Chr. Gapp

Die Plakate des Wunsch-Koalitionspartners der FDP sind nicht treffender. "5 Mio. ... Genug ist genug, CDU" ist da zu lesen. "5 Mio.", dabei kann es sich doch nur um die Arbeitslosen handeln. Wer die Zahlenangabe nicht wahrnimmt, der denkt wahrscheinlich, die CDU meine, fast vierzig Jahre SPD-geführte Landesregierung sei genug. Beim nächsten Plakat steht dann auf einmal "1 Mio. ...". Nun, seit so vielen Jahren regieren die Sozis ja nun doch nicht in Düsseldorf. Nur genaueres, im Vorbeifahren kaum zu leistendes Hinsehen kann die Verwirrung entwirren. Gemeint sind 5 Mio. Stunden Unterrichtsausfall und 1 Mio. Arbeitslose in NRW. Beides sind Zahlenangaben, die in diesem Zusammenhang den meisten wohl kaum geläufig sind. Sie eignen sich daher nicht für eine unmittelbare Kommunikation. Sie stiften höchstens Verwirrung.

Natürlich gibt es auch weiterhin die Wahlplakate mit den lächelnden Gesichtern netter Menschen (kommunikatives Stichwort: "Image-Transfer") und den verhübschten, Falten abgeschwächten Politikerportraits. Insbesondere die SPD stellt gerne ihren amtierenden Ministerpräsidenten Peer Steinbrück zur Schau, da der ja noch nie für diese Position in NRW zur Wahl stand. Wer weiß denn schon, wie viele Wählerinnen und Wähler noch gar kein Bild von ihm haben? Die Porträts sind wie vom Fließband. Egal, welche Partei ihre Kandidatinnen und Kandidaten vorstellt, es dominiert das plakatfüllende Frontalporträt. Steinbrücks Teint ist zudem in trendigen, aus psychologisierenden Tatort-Folgen gewohnten blass-blauen Falschfarben gehalten.

Die Grünen werben mit uralten Feindbildern. Jürgen Rüttgers schaut daran vorbei. Foto: Chr. Gapp

Wahrscheinlich hat es nie eine Zeit gegeben, in der es mehr Grafiker, Mediendesigner und Kommunikationsexperten gab als heute. Zusammen mit dem traditionellen Bewusstsein der Parteien über und ihrem Bedürfnis nach Kommunikation, sollte treffende, interessante Plakatkommunikation nicht nur möglich, sondern eigentlich selbstverständlich sein. Stattdessen scheint es so zu sein, dass die Parteien von Plakaten als Kommunikationsmittel nichts mehr zu halten scheinen. Rein rituell werden sie aufgestellt, vielleicht nur deshalb, um die Bevölkerung darin zu versichern, dass sie noch immer Anteil an der Gestaltung des öffentlichen Raumes hat. Daran könnte man nämlich ansonsten zweifeln, denn die politischen Eliten binden die "mündigen Bürgerinnen und Bürger" in die Entscheidungsketten um komplizierte Regulierungen möglichst nicht ein. So wie jüngst im Fall der Europäischen Verfassung. Es gäbe zu ihr einfach keine Alternative, so Kanzler Schröder lapidar. Warum sollte man dann auch mit den "Bürgerinnen und Bürgern" diskutieren?

Die Kunst, kommunikative Plakate zu produzieren, scheint also nicht einfach wegen der Konkurrenz mit andern Medien verloren gegangen zu sein, die für Mediendesigner und Parteien vielleicht spannendere Kommunikationsmittel sind. Selbst sozialistische Propagandatraditionen, in der die Nachfolgepartei der SED stehen sollte, helfen da nicht weiter. Das ist "Armselig... PDS", verkündet eines ihrer Plakate. Was steht im Kleingedruckten "..."? Wer weiß, es darf geraten werden. Das ist aber schlichtweg "Zu dumm... PDS". Zumindest kommunikativ ist die PDS im Westen angekommen. Wenigstens das ist beruhigend.