Karrierebeschleuniger Narzissmus

Der Psychiater Reinhard Haller über die Sucht nach Bestätigung als Massenpsychose

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Der Narzisst sieht das Ziel seiner Bestrebungen in den Lobpreisungen der anderen über seine Person. Er lässt sich also nicht durch eigene Impulse leiten, sondern ist vom Wollen derer abhängig, deren Bestätigung er sucht. Im Grunde kündet also der Narzissmus weniger von einer starken Persönlichkeit, als von deren Zusammenbruch. Nach Ansicht des Psychiaters und Suchtforschers Reinhard Haller, der das Buch Die Narzissmusfalle schrieb, ist das Jahrtausende alte Phänomen heute eine Massenpsychose geworden.

Herr Haller, mit welchen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen hängt die narzistische Persönlichkeitsstörung zusammen?

Reinhard Haller: Narzissmus ist eine psychische Urkraft und gehört zur menschlichen Grundausstattung. Die Entwicklung einer gesunden, starken Persönlichkeit ist ohne Narzissmus gar nicht möglich. Entscheidend ist aber die Dosis: Bei zuwenig Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen kommt es zu Minderwertigkeitsgefühlen und Neurosen, bei zuviel zu narzisstischen Persönlichkeitsstörungen.

Narzissmus hat es also immer gegeben, allerdings konnte er in früheren Jahrhunderten nur von Mächtigen und Reichen, also einer kleinen privilegierten Gruppe ausgelebt werden. Heute ist es zu einer durchaus begrüßenswerten Demokratisierung des Narzissmus gekommen. Das heißt zumindest in der westlichen Welt kann jedermann viele narzisstische Bedürfnisse befriedigen.

Problematisch wird die Entwicklung durch die Dominanz der gesellschaftlichen Stimmung, durch den Narzissmus. Narzissmus ist keine Sünde und keine psychische Störung mehr, sondern er wird zur erstrebten Lebensform, er gilt als Ideal.

Reinhard Haller. Foto: © Christoph Schöch.

Wie wichtig ist Narzissmus, um im Berufsleben voranzukommen?

Reinhard Haller: Narzisstische Züge wie hohes Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen, Zielstrebigkeit und Glaube an die eigene Fähigkeit sind durchwegs Karrierebeschleuniger. Narzissmus stellt also zunächst eine Chance auf eine glänzende Berufslaufbahn dar. Im Lauf der Zeit erweisen sich aber genau diese Eigenschaften als Hindernis. Sie stoßen die Mitmenschen ab. Niemand ist mit der Rolle des Jasagers und Jubelknechtes zufrieden, der Narzisst verliert sein Gefolge, es wird einsam um ihn. Da er keine Kritik zulässt, hebt er von der Realität ab. Wenn er dann nur noch nach seinen eigenen Gesetzen lebt, ist der Absturz vorprogrammiert. Die vielen Betrugs- und Finanzprozesse gegen Spitzenmanager, aber auch die häufigen Suizide sind klassische Beweise.

Inwieweit ist Narzissmus auch Produkt von Erziehung?

Reinhard Haller: Neben einer gewissen Veranlagung - Stichwort: Narzissmus-Gen - ist die Erziehung, besonders in den ersten Lebensjahren entscheidend. Wenn ein Kind nur verwöhnt, bewundert und verhätschelt wird, stellt sich zwangsläufig eine narzisstische Anspruchshaltung ein, die auch im Erwachsenenalter fortbesteht. Aber auch das Gegenteil einer überfürsorglichen Erziehung ist gefährlich. Wird das Urbedürfnis eines Kindes nach den drei großen "Z": Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit nicht erfüllt, wird es ein Leben lang wie ein Süchtiger nach Aufmerksamkeit und Bewunderung trachten. Das Verlangen nach der in der Kindheit vorenthaltenen Liebe wird zur lebensbestimmenden Gier.

Männlicher Narzissmus ist aggressiver, der weibliche hingegen viel eitler

Kommt der Narzissmus bei den Geschlechtern und in allen Gesellschaftsschichten gleichmäßig vor oder ist das Phänomen bei Männern und Wohlhabenden besonders prominent vertreten?

Reinhard Haller: Noch ist Narzissmus bei Männern etwas häufiger als bei Frauen, der Unterschied wird durch die Geschlechterangleichung aber immer geringer. Männlicher Narzissmus ist aggressiver, der weibliche hingegen viel eitler. Naturgemäß sind narzisstische Störungen unter Stars und Promis viel verbreiteter als in der Durchschnittsbevölkerung. Versteckte Formen des Narzissmus kommen aber in allen Bevölkerungsschichten vor, etwa die chronische Gekränktheit, das parasitäre Ausnützen der Mitmenschen oder der ausschließlich amouröse Umgang mit dem anderen Geschlecht.

Welche Begleitphänomene (Konsum, Rauschmittel, Sexsucht?) bringt der Narzissmus mit sich?

Reinhard Haller: Um seinem Lebensprinzip: "Ich, icher, am ichsten" gerecht zu werden, setzt der Narzisst alles in Bewegung und entwickelt nie geahnte konstruktive und destruktive Kräfte. Er sonnt sich im Ruhm von noch größeren Narzissten, er steigert seine Einzigartigkeit durch den Einsatz von Rauschmitteln. Durch ständige Entwertung seiner Mitmenschen ragt er in seiner Durchschnittlichkeit aus der Masse heraus, er bleibt als Einäugiger gleichsam König unter den Blinden. Wie ein Süchtiger wird der Ichling getrieben von zwanghaftem Verlangen nach neuen Erlebnissen, mit denen er die innere Leere vertreiben will.

Die folgenschwersten Auswirkungen zeigen sich in der Kriminologie. Fast alle Serienkiller, Diktatoren, Giftmörderinnen, Vergewaltiger oder Amokläufer leiden an der bösartigen Form, dem malignen Narzissmus. Dieser besteht aus einer Kombination von extremer Egozentrik, Sadismus, Dissozialität und paranoidem Misstrauen gegen die Menschheit.

Sie stellen in Ihrem Buch den Narzissmus nicht nur als etwas rein Negatives dar, sondern als ein fehlgeleitete Entwicklung und Verabsolutierung durchaus positiver Eigenschaften. Welche sind das und können Sie uns diesen Zusammenhang näher erläutern?

Reinhard Haller: Die positive Wirkung einer narzisstischen Entwicklung zeigt sich in Ich-Stärke, in Persönlichkeitsreife, in Selbstvertrauen und gesundem Durchsetzungsvermögen. Normaler Narzissmus, der sich in Eitelkeit oder Stolz manifestiert ist nicht krankhaft, sondern eher lästig. Erst wenn sich all diese Persönlichkeitszüge zuspitzen entsteht eine krankhafte Störung, nämlich der Narzissmus.

Christopher Lasch hat einmal geschrieben: "Narzissmus hat mehr mit Selbsthass als mit Selbstbewunderung zu tun." Stimmen Sie dem zu?

Reinhard Haller: Bei genauer Betrachtung hat Narzissmus nichts mit Eigenliebe zu tun, weil der Narzisst niemanden lieben kann, nicht einmal sich selbst. Vielmehr handelt es sich beim Narzissmus um Eigensucht. Wie der Süchtige vom Verlangen nach den Scheingefühlen der Berauschung getrieben wird, ist der Narzisst süchtig nach oberflächlicher Zuwendung. Hinter der narzisstischen Fassade steckt meist ein sehr fragiles Selbstwertgefühl, häufig sogar Selbstablehnung und Selbsthass.

Der normale oder konstruktive Narzissmus gilt heute hingegen als schick

Merkt ein Narzisst überhaupt, dass er narzisstisch ist?

Reinhard Haller: Die Verdrängung der egozentrischen Anspruchshaltung und der extremen Verletzlichkeit macht den Narzissten oft blind. Er sieht gleichsam - um ein Wort aus der Bibel zu zitieren - den Splitter im Auge der Mitmenschen, nicht aber den Balken in seinem eigenen. In seiner Großartigkeit darf er ja keinen Makel und keinen Fehler haben, auch keine narzisstische Störung. Der normale oder konstruktive Narzissmus gilt heute hingegen als schick, sodass ihn manche Menschen durchaus pflegen und sich zu ihm bekennen.

Ist Narzissmus heilbar? Welche Maßnahmen empfehlen Sie, wenn sich der Lebenspartner zum Narzissten entwickelt?

Reinhard Haller:: Narzisstisches Verhalten bedarf nur dann einer Therapie, wenn jemand darunter leidet: Entweder der Betroffene oder seine Umgebung. Wenn tatsächlich eine Behandlung erforderlich ist, sind die Chancen bei narzisstischen Reaktionen recht gut. Hier haben sich besonders Gesprächs- und Gruppentherapie, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie bewährt.

Bei schweren Formen des Narzissmus sind die therapeutischen Aussichten eher gering. Ein Mensch, der durch und durch narzisstisch ist, wird sich kaum ändern. Wenn sich ein Lebenspartner zum Narzissten entwickelt ist es für den andern sehr wichtig, eine gewisse Distanz zu suchen, seine Autonomie zu bewahren und nicht die Rolle des sogenannten "Komplimentärnarzissten" einzunehmen.

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