Requiem für Hitler

Von links nach rechts: Prälat Ludwig Kaas, Vizekanzler Franz von Papen, Unterstaatssekretär Giuseppe Pizzardo, Kardinal Staatssekretär Eugenio Pacelli und Ministerialdirektor Rudolf Buttmann während des Unterzeichnungsaktes (zwischen Pacelli und Buttmann stehend: Substitut Alfredo Ottaviani). Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-R24391). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

65 Jahre nach dem Niedergang: Der Mythos vom Retter und die Verantwortung der Kirchen

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Dass Adolf Hitler und die NSDAP nach ihrem Machtantritt auf so große Zustimmung stießen, ist und bleibt ohne die begleitende Unterstützung der Volkskirchen nicht erklärbar. In der Gestalt des Führers sahen die meisten deutschen Kirchenfürsten noch bis weit ins Jahr 1944 hinein einen Wundermann, den nur Gott der Nation geschenkt haben konnte. Die Mehrzahl der Deutschen - Katholiken gleichermaßen wie Protestanten - übten sich nur zu gern im Glauben an die nationale Erhebung. Noch im Angesicht der Katastrophe entschied der katholische deutsche Kardinal Bertram, ein Requiem für Hitler feiern zu lassen.

Deutschland während der NS-Herrschaft: 95 Prozent aller Deutschen waren entweder evangelisch oder katholisch. Fast 32 Millionen Deutsche, über 40 Prozent, waren Katholiken. Auch fast die gesamte Bevölkerung der europäischen Verbündeten Deutschlands - ganz Österreich und Italien - war katholisch. Sogar die gefürchtete SS bestand im Jahre 1939 zu fast einem Viertel aus Katholiken, obwohl die SS-Führung darauf drängte, aus der Kirche auszutreten. Wie war es möglich, dass Menschen mit einem von der Kirche geschulten Gewissen bereit waren, jedes von ihren Führern befohlene Verbrechen zu begehen?

Der normale Bürger unterstützte Hitlers Kriege, weil sich die Kriegsziele mit seinem Gewissen vereinbaren ließen. Hitlers Ziele galten auch für den einfachen Kirchenbesucher unstreitig als theologisch legitimiert. Katholische und protestantische Kriegstheologie sind heute gleichermaßen gut überliefert; das Interesse in Wissenschaft und Publizistik ist jedoch auch 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gedämpft. Oft noch wird Geschichte als beliebige Verfügungsmasse gesehen und zweckentsprechend interpretiert.

Militärseelsorge, Kriegserfahrungen der Soldaten im Feld und der Gläubigen an der Heimatfront, der Einsatz von Zwangsarbeitern in kirchlichen Einrichtungen und die NS-Kirchenpolitik, das und vieles mehr wird gern den Spezialisten unter den Historikern oder Sozialpsychologen zur Aufarbeitung überlassen. Dabei ist das Thema brandaktuell, kommt der braun-violette Bodensatz der Geschichte bei passender (oder unpassender) Gelegenheit doch erstaunlich rasch ans Licht.

Ein Beispiel lieferte unlängst der katholische deutsche Ordinarius Gerhard Ludwig Müller. Als der Regensburger Oberhirte im März die laufende Berichterstattung über Missbrauch in der katholischen Kirche mit der kirchenfeindlichen Haltung des NS-Regimes gleichsetzte, mied er bei seinem Vergleich nicht nur die Schuldfrage der Kirche. Müller ignorierte auch geflissentlich einige Jahrzehnte historischer Forschung. Er offenbarte damit stramme systemtreue Vergesslichkeit sowie gravierende staatsbürgerliche Defizite. Der Schuss zielte wohl in Richtung Medien und Öffentlichkeit - in Wahrheit ging er nach hinten los.

Katholizismus und Führerstaat

Die politische Funktion des Katholizismus der Jahre 1933 bis 1945 ist vielfach festgestellt worden und ohne die verquaste Ideologie des papistischen Systems und seiner Getreuen nicht zu begreifen. Georg Werthmann, von 1936 bis 1945 Feldgeneralvikar der Deutschen Wehrmacht und von 1956 bis 1962 Generalvikar der deutschen Bundeswehr, äußerte sich interessanterweise in späteren Jahren einmal so:

Dokumente übernehmen die Rolle von schlechthin idealen Zeugen. Sie sind keinem Erinnerungsverlust unterworfen und erliegen keiner Selbsttäuschung; sie sind sinnlich und geistig unbestechliche Zeugen der Zeit.

Georg Werthmann

Bitter für alle Papisten, zu erkennen: Die großen christlichen Kirchen waren Grundbestandteil der europäischen Kriegsgesellschaften. Dass der Katholizismus '33 bis '45 als nationale und supranationale ernst zu nehmende Widerstandskraft kaum in Erscheinung trat, ist heute unter Historikern unbestritten. Zu den Verfolgten des III. Reiches gehörten eben nicht an vorderster Front der katholische Klerus und seine Schäfchen. Man könnte den Spieß umdrehen und sagen: In großem Stil erwies sich der Krieg ja geradezu als moralischer Bankrott der Volkskirchen und ihrer Anhänger.

Die amtliche Gewissensbindung an den Führerstaat erfolgte katholischerseits per Statut im Sommer 1933, im "Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich", veröffentlicht im Reichsgesetzblatt vom 18. September 1933. Artikel 14 des Konkordats bestimmte das Wohlverhalten des Klerus gegenüber dem NS-Staat. Es hieß dort laut Absatz 2:

Die Bulle für die Ernennung von Erzbischöfen, Bischöfen, eines Koadjutors cum jure successionis oder eine Praelatus nullius wird erst ausgestellt, nachdem der Name des dazu Ausersehenen dem Reichsstatthalter in dem zuständigen Lande mitgeteilt und festgestellt ist, daß gegen ihn Bedenken allgemein politischer Natur nicht bestehen.

Konkordat

Mit diesem Paragrafen war die Bestallung der oberen Amtsinhaber der Kirche in seltsamem Einvernehmen an die Staatsmacht geknüpft. Artikel 16 ergänzt:

Bevor die Bischöfe von ihrer Diözese Besitz ergreifen, leisten sie in die Hand des Reichsstatthalters in dem zuständigen Lande bzw. des Reichspräsidenten einen Treueid nach folgender Formel: "Vor Gott und auf die heiligen Evangelien schwöre und verspreche ich, so wie es einem Bischof geziemt, dem Deutschen Reich und dem Lande … Treue. Ich schwöre und verspreche, die verfassungsmäßig gebildete Regierung zu achten und von meinem Klerus achten zu lassen. In der pflichtmäßigen Sorge um das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens werde ich in Ausübung des mir übertragenen geistlichen Amtes jeden Schaden zu verhüten trachten, der es bedrohen könnte."

Konkordat

Während des ganzen Krieges erhielten die großen Kirchen staatliche Zuschüsse von der Hitlerregierung. Für die katholische Kirche war das geregelt in Artikel 17 und 18 der Abmachung. Am 20. Juli 1933 unterzeichneten Vizekanzler Franz von Papen (Katholik und "Päpstlicher Kammerherr") und Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli (der spätere Papst Pius XII.) im Vatikan den Konkordatsvertrag, der Bestand und Einrichtungen der katholischen Kirche im Reich sichern half. Die beim Unterzeichnungsakt anwesenden Vertreter der abschlusswilligen Vertragsparteien repräsentierten auf der einen Seite den amtierenden Pontifex "Seine Heiligkeit Papst Pius XI.", auf der anderen Seite den Deutschen Reichspräsidenten.

Laut Schlussprotokoll bestand ausdrücklich Einigkeit darüber, dass das Recht der Kirche, Steuern zu erheben, gewährleistet blieb. Pacelli verlieh dem Abgesandten des Deutschen Reiches ein hohes päpstliches Ehrenzeichen: das Großkreuz des Piusordens. Papen erwiderte die Huldigung mit einer fast meterhohen Rokoko-Statue der Madonna mit dem Heiligen Antonius aus feinstem Potsdamer Porzellan.

Der Arm des Staates reichte nach Artikel 30 des Abkommens bis in die kirchliche Liturgie und sorgte für die Verankerung der erwünschten patriotischen Gesinnung der Gläubigen sogar im Gebetsleben. Ziel war die Loyalität der Kirche in Sachen Volk und Reich. Gemäß einer einfachen, aber in den Konsequenzen weitreichenden Selbstverpflichtung hieß es: "An den Sonntagen und gebotenen Feiertagen wird in den Bischofskirchen sowie in den Pfarr-,'Filial- und Klosterkirchen des Deutschen Reiches im Anschluß an den Hauptgottesdienst, entsprechend den Vorschriften der kirchlichen Liturgie, ein Gebet für das Wohlergehen des Deutschen Reiches und Volkes eingelegt." 1933 festgeschrieben, sollte dies zu einer verhängnisvollen liturgischen Praxis bis in die Tage der Katastrophe hinein werden. Der Pakt war geschlossen, die Geistlichkeit, deren Pfründe weitgehend gesichert waren, forderte lauthals dazu auf, den politischen Autoritäten zu folgen (Konkordatstext mit Geheimanhang).

Das Passauer Bistumsblatt, das Mitteilungsorgan des dortigen Bischöflichen Stuhles, artikulierte die Haltung des Klerus am 20. April 1941 unter der Überschrift "Zum 52. Geburtstag des Führers" unzweideutig:

In Deiner Hand, o Gott, liegt die Herrschaft über alle Reiche und Völker der Erde. (…) Laß uns ein heldenhaftes Geschlecht sein und unserer Ahnen würdig werden. Segne die deutsche Wehrmacht, welche dazu berufen ist, den heimischen Herd zu schützen, und gib ihren Angehörigen die Kraft zum höchsten Opfer für das Vaterland. Segne besonders unsern Führer und Obersten Befehlshaber in allen Aufgaben, die ihm gestellt sind. Laß uns alle unter seiner Führung in der Hingabe an Volk und Vaterland eine heilige Aufgabe sehen, damit wir durch Glauben, Gehorsam und Treue die ewige Heimat erlangen …

Passauer Bistumsblatt

An demselben Apriltag 1941, dem "Tag des Führergeburtstags", flog die deutsche Luftwaffe einen schweren Angriff gegen die britische Hauptstadt.

Der Münchner Kardinal Michael Faulhaber schrieb an Hitler: "Uns kommt es aufrichtig aus der Seele: Gott erhalte unserem Volk unseren Reichskanzler." Schnell, aber zu spät begriffen einige Bischöfe, welchen Preis sie für ihren Pakt mit dem Teufel zahlen würden. Die meisten blieben blind. So ermahnte der Osnabrücker Bischof Wilhelm Berning 1936 beim Besuch von Konzentrationslagern die aus religiösen Gründen eingekerkerten Gefangenen zum Gehorsam gegen den Staat und verabschiedete sich mit einem dreifachen "Sieg Heil".

Wappen des Münchner Kardinals Faulhaber. Bild: Ekpah. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Während Hitler dabei war, Europa und die Welt in den mörderischen großen Krieg zu stürzen, posierte Pacelli, inzwischen Pius XII., in den Gärten der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo inmitten von eigens hingestellten jungen Lämmern vor der Kamera. Die Aufnahmen wurden 1955 einem erstaunten Publikum in einer zehnseitigen Reportage in der französischen Starpostille "Paris Match" gezeigt: Der Pontifex als fürsorglicher Hirte. Nicht genug damit, es gab sogar ein Stelldichein als regelrechter Filmstar.

1942 agierte Pius als Darsteller des Dokumentarfilms "Pastor Angelicus" (Der engelgleiche Hirte), wobei er erstmals Einblick in die päpstlichen Privatgemächer gewährte. Zurück in die Gegenwart, Frühjahr 2010: Der Regensburger Bischof Müller hat allen Anlass, vorsichtiger zu sein. Der historischen Wahrheit näher kommt man nur über Redlichkeit im Umgang mit der Geschichte. Und hier weisen die Fakten in die Richtung: "Kirche" als Bollwerk der Verfolgten im Protest gegen das Unrechtsregime gab es nicht. Im Gegenteil, "Kirche" im Nationalsozialismus stand vereint für Gott, Führer und Vaterland. Katholisches deutsches Soldatentum wurde glatt mit Zuversicht, Gotteskraft, Todesbereitschaft und Ewigkeitsglauben gleichgesetzt. In den Gottesdiensten betete man für den Sieg der völkischen Idee und gebrauchte gern die Idiomatik von einem "nationalen Opfergang". Der Münchner Weihbischof Ernst Tewes, während des Krieges als Wehrmachtsseelsorger im Einsatz, bezweifelt in seinen "Erinnerungen" (München 1995), "ob ein Priester je einem geraten hat, den Kriegsdienst zu verweigern. Sie wären wohl auch von ihren Bischöfen nicht gedeckt worden."

Auch schon vergessen: Der deutsche Episkopat schürte während der NS-Herrschaftsjahre emsig den Hass auf den atheistischen "Bolschewismus" und zeigte sich Hitler gegenüber überaus dankbar, dass dieser den Kampf gegen den "wahren" Feind nun endlich konsequent aufnehme. Hitlers Vernichtungskrieg, zumal im Osten, wurde auf die Weise pseudotheologisch legitimiert; der katholische Soldat war Vollstrecker eines höheren Gedankens. Dem entsprach der öffentliche Tonfall in den Gotteshäusern. "Gut, Blut und Leben will ich dir geben", das vielgesungene Kirchenlied war Ausdruck absoluter staatsbürgerlicher Loyalität, fundiert durch Glauben und Papsttreue.

Protestanten: Der Hirt muss Krieger sein!

Dass Protestanten sich bei den Machthabern der "Nationalen Erhebung" manchmal noch unerfreulicher anbiederten, kann den Katholiken kein Trost sein. Bereits im April 1933 bekräftigten protestantische Kirchenvertreter ihre Solidarität mit dem Regime. In einer Osterbotschaft des Evangelischen Oberkirchenrates von Altpreußen hieß es am 16.4.1933: "Die Osterbotschaft von dem auferstandenen Christus ergeht in Deutschland in diesem Jahr an ein Volk, zu dem Gott durch eine große Wende gesprochen hat. Mit allen evangelischen Glaubensgenossen wissen wir uns eins in der Freude über den Aufbruch der tiefsten Kräfte unserer vaterländischen Nation zu nationalem Bewusstsein, echter Volksgemeinschaft und religiöser Erneuerung. Schon im Jahre 1927 hat die evangelische Kirche in ihrer Königsberger Botschaft feierlich erklärt: "Wir sind Deutsche und wollen Deutsche sein. Unser Volkstum ist uns von Gott gegeben … Christentum und Deutschtum sind mehr als ein Jahrtausend eng miteinander verwachsen."

Die evangelische Kirche, die sich als so "freudig bereit zur Mitarbeit an der nationalen und sittlichen Erneuerung unseres Volkes" (ebenda) zeigte, wurde alsbald zur treibenden nationalen Kraft. "Der Hirt muss Krieger sein", orakelte das Braunschweiger Volksblatt 1934. Nach dem Sieg über Frankreich schreibt die Zeitung linientreu: "In tiefer Demut beugen wir uns vor IHM, der unserm Volk die Gnade gegeben hat, so Großes zu vollbringen. Er halte seine schützende Hand über unseren Führer und über alle, die unseres Landes Grenzen schirmen."1 In allen Stadt- und Landeskirchen Braunschweigs wurden Dankgottesdienste abgehalten.

Das protestantische Pfarrhaus als Topos der Kulturgeschichte behandelt der Film "Das weiße Band" von Michael Haneke. "Das weiße Band" legt in beeindruckenden Bildern die Entstehungsbedingungen von Gewalt und Terror offen. Es ist auch ein Film über den Weg, der vom Protestantismus des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts zum Faschismus führt (Die Farbe der Wahrheit).

Die Mehrzahl der protestantischen Pfarrer stand für die nationalsozialistische Bewegung. Luthers Lehre von den zwei Reichen bildete die Grundlage für ein gutes Gewissen. In Wahrheit führte diese Lehre zur Verkürzung des Evangeliums: durch die falsch verstandene Rolle des Staates und seiner Eigengesetzlichkeit. Der Theologe Theodor Kuessner beschrieb das fatale Ineinander von vaterländischer Geschichte und Frömmigkeit in einem Briefwechsel mit seinem Sohn Dietrich.2 Kuessner erinnert an die Emporen der Insterburger Lutherkirche, geschmückt mit den Bildern der Propheten und Apostel, "und nahtlos ging es weiter mit den Bildern der hohenzollernschen Landesfürsten."3 Damit markiert er die Linie bürgerlicher Frömmigkeit und patriotischer Volksverbundenheit. Dem protestantischen Bürgertum unter Hitler kam entgegen, dass das erste Kabinett Legalität und Kontinuität versprach; zu den Ministern zählten auch führende Politiker bürgerlicher Parteien. Neuanfang, nationale Erhebung, Anbruch eines "neuen Tages", lauter Parolen, die das Gefühl und die Instinkte ansprachen und sich während der Olympischen Spiele in Berlin 1936 in einer trügerischen Demonstration zeigten, beeindruckten Protestanten und Katholiken im Reich gleichermaßen.

19. November 1933: Feier zum Luthertag vor dem Berliner Schloß, Fahnenbanner mit DC = "Deutsche Christen" und Hakenkreuz an den Fenstern. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild Bild 102-15234). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Zu Wortführern der Protestanten machten sich Zeitgenossen wie der thüringische Landesbischof Martin Sasse von den "Deutschen Christen", der im November 1938 - kurz nach der Reichspogromnacht - Martin Luthers Abhandlung "Von den Juden und ihren Lügen" neu auflegte, wobei er vielsagend ins Vorwort schrieb:

Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. ... In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet ... der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden ...

Landesbischof Martin Sasse

Artikel 24 des NSDAP-Programms enthielt den Begriff eines "positiven Christentums". Darunter verstand man ein aktionistisches Christsein, ein von jüdisch-römischer "Sklavenmoral" befreites "heldisches Überwindungschristentum". Die "Deutschen Christen" (DC) übten sich in dieser Ideologie und erstrebten als protestantische Bewegung die Angleichung der Kirche an die Nationalsozialistische Doktrin. Sie erhofften sich von der NSDAP einen reindeutschen Volkskörper und die Zusammenführung der zersplitterten 29 evangelischen Kleinkirchen zu einer geeinten und starken "Reichskirche".

Christoph Kleine formuliert in einer Arbeit der Universität Marburg das Programm wie folgt:

Das "deutsch-christliche Programm" von 1932 forderte ein "Positives Christentum, Kampf gegen den Marxismus, gegen Juden, Weltbürgertum und Freimaurerei, Reinerhaltung der Rasse und Schutz des Volkes vor Entartung". Auf einer Großkundgebung in Berlin am 13. November 1933 sagte der Gauobmann der Deutschen Christen von Großberlin, Reinhold Krause, vor 20.000 Zuhörern: "Voraussetzung für den Bau der deutschen Volkskirche sei die Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienst und im Bekenntnismäßigen, [und] Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lernmoral […]". Er forderte zudem, dass "alle offenbar entstellten und abergläubischen Berichte des Neuen Testaments entfernt […] und […] ein grundsätzlicher Verzicht auf die ganze Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus ausgesprochen" werden.

Christoph Kleine

Bischof Sasse, deutschchristlicher Kirchenführer in Thüringen, gehörte zu denen, die seit 1938 die "Entjudung der Kirche" programmatisch vorantrieben. Zu diesem Zweck wurde am 4. April 1939 auf Betreiben maßgeblicher Kreise der Deutschen Christen durch 13 evangelische Landeskirchen in Eisenach ein "Entjudungsinstitut" mit pseudowissenschaftlichem Status gegründet. Sein Leiter wurde Oberregierungsrat Siegfried Leffler. Hauptamtliche Mitarbeiter waren Walter Grundmann, Professor für Neues Testament an der Universität Jena, Heinz Hunger, Pfarrer in Eisenach, und Max-Adolf Wagenführer, Theologe in Jena, als wissenschaftlicher Assistent. Nahezu 200 Mitarbeiter, darunter hohe Geistliche, Konsistorialräte, Professoren, Doktoren, Pastoren, Religionspädagogen und Regierungsbeamte sollten dem Institut in zehn Arbeitskreisen bei der "Entjudung von Theologie und Kirche" zur Verfügung stehen. Damit unterwarfen sich großer Teile des theologischen und kirchlichen Personals der protestantischen deutschen Landeskirchen der NS-Ideologie.

"Blutige Saat" und "Segensernte"

Bereits im Frühjahr 1934, nachdem die Deutschen Christen durch die linientreue Umsetzung des Arierparagraphen alle kirchlichen Amtsinhaber jüdischer Abstammung von der Amtsausübung ausschließen wollten, gründete sich als Gegenbewegung die "Bekennende Kirche" (BK). Auch diese unternahm nichts dagegen, dass Juden, die zum evangelischen Glauben konvertiert waren, von kirchlichen Ämtern ferngehalten und letztendlich sogar ausgeschlossen wurden - von einem Eintreten für die verfolgten Juden insgesamt ganz zu schweigen.

Im Sommer 1934 trafen sich die Landesbischöfe Meiser und Wurm mit Hitler. Sie bekundeten die innerkirchliche Lehropposition der Bekennenden Kirche gegenüber der Lehre der Deutschen Christen, sicherten dem Führer aber die politische Loyalität der Bekennenden Kirche zu. "Widerstand" leistete die BK nur gegen die Versuche des Staates, in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht einzugreifen. "Die BK war eher ein stabilisierender Faktor für die Nazis als ein Hindernis", urteilt der Historiker Karl-Ludwig Sommer in seiner Habilitationsschrift.4 Das Bekenntnis zu "Christus" war für die BK kein Widerspruch zur politischen Ergebenheit gegenüber Hitler. Der als "Kirchenkampf" bezeichnete Konflikt war lediglich ein Streit um innerkirchliche Angelegenheiten, er bedeutete nicht den kirchlichen Widerstand gegen das Unrechtsregime.

Am 21. Juli 1944, unmittelbar nach dem Attentat auf Hitler, ordnete Landesbischof Marahrens im Namen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers unter dem Titel: "Dank für die gnädige Errettung des Führers" ein gebetsvolles Gedenken an. Im Kirchlichen Amtsblatt Hannover legten Bischof und Landeskirchenamt den folgenden Gebetstext als amtliches Muster vor:

Heiliger barmherziger Gott! Vom Grunde unseres Herzens danken wir Dir, daß Du unserm Führer bei dem verbrecherischen Anschlag Leben und Gesundheit bewahrt und ihn unserem Volke in einer Stunde höchster Gefahr erhalten hast. In Deine Hände befehlen wir ihn. Nimm ihn in Deinen gnädigen Schutz. Sei und bleibe Du sein starker Helfer und Retter (…). Sei mit unserem tapferen Heere. Laß unsere Soldaten im Aufblick zu Dir kämpfen; im Ansturm der Feinde sei ihr Schild, im tapferen Vordringen ihr Geleiter. Erhalte unserem Volke in unbeirrter Treue Mut und Opfersinn. Hilf uns durch Deine gnädige Führung auf den Weg des Friedens und laß unserem Volke aus der blutigen Saat des Krieges eine Segensernte erwachsen.

Hier zeigt sich exemplarisch der Moralkodex einer gänzlich missratenen patriotischen "Sinngebung". Im Hintergrund die Ideologie des "gesunden Volksempfindens", eine Orientierung, die an die Stelle von Recht und Moral getreten war. Aber war 1944 das "gesunde Volksempfinden" im Sinne unbedingter Staatsloyalität noch "intakt"? Längst war klar: In den Kriegszielen kam es zwischen NS-Regierung und Kirche zu jener furchtbaren "Teilidentität", von der die historische Wissenschaft heute ausgeht; eine Übereinstimmung, die sich in der "Gemeinsamkeit des Handelns" auf fatale Weise niederschlug. Das "Wegsehen" der Kirchenoberen bei Hitlers mörderischen Feldzügen, die Inkaufnahme der verbrecherischen Befehle sind nicht unerheblich auf die Wirkung der NS-Ideologie bis tief hinein in den kirchlichen Gedankenkosmos zurückzuführen. Nicht nur, um den Krieg zu gewinnen, wurde dort über die Verbrechen hinweggesehen, sondern auch, weil viele Gläubige die Theorie vom "Untermenschen" verinnerlicht hatten.

Vielfach verdrängt bis heute ist auch das Schicksal der - nach gut recherchierten Schätzungen - etwa 200.000 "Euthanasie"-Opfer in Nazi-Deutschland, die in Gaskammern der Tötungsanstalten oder durch Überdosen von Medikamenten und Nahrungsentzug umgebracht wurden. Das geschah nicht ohne Wissen der Kirchen.

Und der Blutzoll der siegreichen Kämpfer? Von den zwischen 1939 und 1945 über 17 Millionen eingezogenen Wehrmachtssoldaten ließen etwa 4,7 Millionen ihr Leben (Tod durch Kriegshandlungen und Verluste deutscher Kriegsgefangener; nicht eingerechnet fast 1,3 Millionen "Wehrmachtsvermisste", anders Wikipedia, vgl. auch hier). Die "Helden" waren in Wahrheit nur Menschenmaterial, aber der Opfermythos wurde auch auf den Gräbern im eisigen Winter des Russlandfeldzuges und im Angesicht des vollständigen Ruins noch zelebriert. Dazu zählte die Ideologie vom doppelten Treuebruch: vom Treuebruch am "Führer", auf den der Soldat vereidigt war, und vom Treuebruch an der "Volksgemeinschaft". Im Sinne der sozialdarwinistischen Idee gab es keine Nachsicht mit den "Minderwertigen", in den eigenen Reihen auch nicht mit "Stimmungslabilen" oder "Willensschwachen".

Was hatten die Kirchen dem entgegenzusetzen? Es waren leer klingende Formeln von Glaube und Manneszucht, "geistiger Wehrhaftigkeit", heldischer Tugend, Tapferkeit, Pflichterfüllung, Gehorsam und Treue bis in den Tod. Mit Hilfe der Kirchen - und nur auf diese Weise - gelang neben der militärischen Mobilmachung eine beispiellose Mobilisierung der Herzen und der Gemüter. Was folgte, war ein spätes, ein viel zu spätes Erwachen.

Ein Requiem für Hitler

Aber wurden 1944/45 alle Deutschen wach, namentlich diejenigen, die in verantwortlichen Stellungen amteten? Die Frage ist wohl berechtigt und auch 65 Jahre nach Kriegsende, im Jahr des Missbrauchsskandals, angebracht. Der damalige Vorsitzende der reichsdeutschen Bischofskonferenz, der Breslauer Erzbischof Adolf Kardinal Bertram, zeigte sich noch im Angesicht der Katastrophe 1945 unbeirrt staatstreu und nationalbewusst. Als "Senior des deutschen Episkopats", das heißt mit dem Anspruch, Sprecher des ganzen deutschen Katholizismus zu sein, hatte Bertram zwischen 1940 und 1944 persönlich mit Hitler korrespondiert.

Adolf Kardinal Bertram, Fürstbischof von Breslau (14.3.1859 - 6.7.1945)

Und nun, unmittelbar nachdem Hitler seinem Leben in der Reichskanzlei ein feiges und schmähliches Ende gesetzt hatte, gab der 86jährige Kirchenobere, selbst schon aus Breslau geflohen und von Krankheit gezeichnet, Anfang Mai 1945 noch eigenhändig allen Pfarrämtern seiner Erzdiözese Anweisung,

ein feierliches Requiem zu halten im Gedenken an den Führer und alle im Kampf für das deutsche Vaterland gefallenen Angehörigen der Wehrmacht, zugleich verbunden mit innigstem Gebete für Volk und Vaterland und für die Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland.

Erzbischof Adolf Kardinal Bertram

Die eigenhändige Niederschrift dieser Anweisung ist erhalten; ob sie noch ausgeführt wurde, ist unklar. Sie zeigt aber die Stilisierung des "Führers" als eines Heiligen bis zum bitteren Ende, bis über den Tod hinaus, allen offenkundigen Erweisen seines pathologischen Charakters und seiner kriminellen Absichten zum Trotz. Hier wird der Verlust an moralischer Orientierung und Glaubwürdigkeit auf oberster Leitungsebene besonders sinnfällig; Gut und Böse zu unterscheiden war einer bis zur Selbstaufgabe angepassten Kirche im III. Reich offensichtlich nicht mehr möglich. Die Theologie des Nationalismus hatte ihren innersten Kern bloßgelegt, der auf Machterhalt angelegt war. Mit welchen Folgen?

Kardinal Bertram, Manuskript der Anweisung zum Requiem für den "Führer"

Die frommen Steigbügelhalter des NS-Staates überstanden den Zusammenbruch des tausendjährigen Reiches erstaunlich gut. Wie Phönix aus der Asche stiegen beide Kirchen zu neuer Machtfülle auf. Neue und alte Privilegien bewiesen die erstaunliche Stabilität der'kirchlichen Systeme abseits jeder Logik: Wohl auch ein Kunststück kollektiver Vergesslichkeit weiter Bevölkerungskreise ("Keine Schuld, keine Verdrängung").

Die klerikale Verbundenheit mit den tragenden Ideen des Nationalsozialismus sollte plötzlich in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit keine Rolle mehr spielen; Nationalstolz; Opfermythos und Mannesehre suchten nach anderen Ausdrucksformen. Auch die manchmal zitierte Enzyklika "Mit brennender Sorge" Pius’ XI. hatte den Lauf der Dinge nicht aufgehalten, hatte die politische Meinungs- und Willensbildung der NS-Diktatur, ihrer Propagandisten und Satrapen weder verändert noch gestoppt.

Der Zivilisationsbruch, den der Holocaust bedeutet, war nicht abgewehrt worden. Aber er war auch kein Naturereignis, als das ihn die Propheten einer rassistischen und nationalbiologistischen Ideologie verkündet hatten und als das man ihn nach 1945 gar zu gern wieder sehen wollte.

Erstaunt reagierten Juden und auch viele Katholiken auf die von Benedikt XVI. im Februar 2008 formulierte Karfreitagsfürbitte für die alte tridentinische Liturgie. Darin heißt es: "Lasset uns auch beten für die Juden: Dass unser Gott und Herr ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus als den Heiland aller Menschen anerkennen." Das war zwar keine Rückkehr zur Formulierung von den "treulosen" Juden, die noch unter Pius XII. gegolten hatte, aber Vertreter des Judentums und viele Katholiken erblickten darin eine Aufforderung zur Judenmission, die der Vatikan prompt dementierte.

In den heutigen Strukturen der Macht, deren Umrisse hinter den jahrzehntelang verschwiegenen Missbrauchsfällen sichtbar werden, erkennt man den Schatten der Vergangenheit wieder. Einer unrühmlichen Vergangenheit, die selbst dem offenkundigsten Verbrecher und Täter noch Asyl gewährte. "Ich erinnere mich in tiefer Dankbarkeit an die Hilfe katholischer Priester bei meiner Flucht aus Europa und entschied, den katholischen Glauben zu honorieren, indem ich Ehrenmitglied wurde", ließ Adolf Eichmann 1961 eine erstaunte Öffentlichkeit wissen.5

1945 lag Deutschland in Trümmern - und suchte verzweifelt nach einer geistigen Orientierung. Die Frage, inwieweit eine ganze Generation am Entstehen einer menschenverachtenden Diktatur und an deren furchtbaren Verbrechen mitschuldig war, stand im Raum, wurde jedoch angesichts der äußeren wie inneren Not ebenso schnell verdrängt. Die Kirche brachte es sogar fertig, in der Stunde Null das moralische Gewissen der am Boden liegenden Nation vorzutäuschen.

Von Proudhon ist der Spruch überliefert: "Es ist überraschend, dass wir am Grunde der Politik stets der Theologie begegnen." Das wäre ein guter Satz ins Stammbuch des Regensburger Bischofs Gerhard Ludwig Müller. Er sieht 65 Jahre nach Kriegsende die Kirche verfolgt und greift zu politisch inkorrekten Vergleichen. Während die katholische Welt durch den anhaltenden Missbrauchsskandal verunsichert ist, päppeln die Verantwortlichen Groll gegen angebliche Verschwörer und machen sie unter den Journalisten aus.

Aber noch in einem anderen Punkt liegt der Regensburger Ordinarius voll daneben. Indem er die heutige Rolle kritischer Medien der NS-Propaganda der Hitlerjahre gleichstellt, zeigt er nämlich, dass er nicht nur unter Erinnerungsverlust leidet, sondern auch grundsätzlich nicht verstanden hat, wie Demokratie funktioniert. Vom moralischen Auftrag und der Verantwortung seiner Kirche vor der Geschichte ganz zu schweigen.

Literatur und Quellen (Auswahl)