Top-Autor: Israel durch Krieg in Existenzkrise, Armee startet Räumung in Rafah

Sorgt sich um Israel: Yuval Noah Harari. Bild: World Economic Forum, CC BY-NC-SA 2.0

Top-Autor warnt vor verheerenden Folgen für Israels Zukunft. Regierung setze auf Isolation und Gewalt. In Rafah deutet sich indes eine weitere Eskalation an.

Israel steht vor historischen politischen Entscheidungen, die das Schicksal des Landes und der gesamten Region für Generationen beeinflussen könnten. Doch laut dem Historiker und Autor Yuval Noah Harari haben Premierminister Benjamin Netanyahu und seine politischen Partner wiederholt bewiesen, dass sie nicht in der Lage sind, solche Entscheidungen zu treffen. In der liberalen israelischen Tageszeitung Haaretz lancierte er unlängst einen dramatischen Appell.

In den kommenden Tagen wird Israel historische politische Entscheidungen treffen müssen, die sein Schicksal und das Schicksal der gesamten Region für Generationen prägen könnten. Leider haben Benjamin Netanjahu und seine politischen Partner wiederholt bewiesen, dass sie ungeeignet sind, solche Entscheidungen zu treffen. Die Politik, die sie über viele Jahre hinweg betrieben haben, hat Israel an den Rand der Zerstörung gebracht.

Bisher haben sie weder Reue für ihre Fehler der Vergangenheit noch die Bereitschaft gezeigt, die Richtung zu ändern. Wenn sie weiterhin die Politik bestimmen, werden sie uns und den gesamten Nahen Osten ins Verderben führen. Anstatt sich in einen neuen Krieg mit dem Iran zu stürzen, sollten wir zunächst die Lehren aus Israels Fehlern in den vergangenen sechs Kriegsmonaten ziehen.

Harari

Die Auswirkungen des Krieges

Harari stellt fest, dass Krieg ein militärisches Mittel zur Erreichung politischer Ziele ist und der Erfolg eines Krieges daran gemessen wird, ob die politischen Ziele erreicht wurden. Nach dem verheerenden Massaker vom 7. Oktober hätte Israel die Geiseln befreien und die Hamas entwaffnen müssen.

Doch diese Ziele hätten nicht die Einzigen sein dürfen. Angesichts der existenziellen Bedrohung Israels durch den Iran und seine Chaos-Agenten hätte Israel auch seine Allianz mit den westlichen Demokratien vertiefen, die Zusammenarbeit mit moderaten arabischen Kräften stärken und an der Etablierung einer stabilen regionalen Ordnung arbeiten müssen.

Harari zur humanitären Katastrophe in Gaza

Die humanitäre Katastrophe in Gaza und die sich verschlechternde Situation im Westjordanland entzünden das regionale Chaos, schwächen die Allianzen Israels mit den westlichen Demokratien und erschweren es Ländern wie Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien, mit Israel zu kooperieren.

Harari warnt, dass, wenn Israel sein Verhalten gegenüber den Palästinensern nicht ändert, der Hochmut und die Rachsucht des Landes eine historische Katastrophe verursachen könnten.

Die Folgen von sechs Monaten Krieg

Nach sechs Monaten Krieg seien viele der Geiseln immer noch in Gefangenschaft und die Hamas sei immer noch aktionsfähig. Indes sei der Gaza-Streifen verwüstet und viele Tausende der dort lebenden Menschen getötet worden. "Die meisten Bewohner dort sind jetzt ausgehungerte Flüchtlinge", so Harari.

Zusammen mit Gaza ist auch das internationale Ansehen Israels in Trümmern und das Land wird selbst von vielen seiner ehemaligen Freunde gehasst und geächtet.

Die Samson-Syndrom

Harari argumentiert, dass das Versagen der Netanyahu-Regierung während des Krieges nicht zufällig ist. Es ist die bittere Frucht vieler Jahre katastrophaler Politik. Die Entscheidung, in Gaza eine humanitäre Katastrophe zu verursachen, resultiert aus einer Kombination von drei langfristigen Faktoren:

  • mangelnde Sensibilität für den Wert palästinensischer Leben;
  • mangelnde Sensibilität für Israels internationales Ansehen;
  • verzerrte Prioritäten, die Israels wirkliche Sicherheitsbedürfnisse ignorierten.

Der Weg aus der Echo-Kammer

Harari warnt, dass große Teile der israelischen Öffentlichkeit blind für das sind, was vor sich geht. Viele Israelis sind in einer Echo-Kammer gefangen, die ihnen den Sieg verspricht, obwohl sie am Rande der Niederlage stehen. Er fordert die Netanyahu-Regierung auf, die Verantwortung zu übernehmen und sofort zurückzutreten, damit jemand anderes eine neue Seite aufschlagen kann.

Harari fordert die Einrichtung einer neuen Regierung, die von einem anderen moralischen Kompass geleitet wird, die humanitäre Krise in Gaza beendet und beginnt, das internationale Ansehen Israels wieder aufzubauen. Wenn Israel seine Politik gegenüber den Palästinensern nicht ändert, so warnt er, wird es allein gegen den Iran stehen und sein Ende könnte dem des biblischen Samson ähneln, der in ohnmächtiger Wut das Haus auf die Köpfe aller stürzen ließ. Harari im Wortlaut:

Wie die Japaner im Jahr 1945 sind viele Israelis im Jahr 2024 in einer Echokammer gefangen, die ihnen den Sieg verspricht, obwohl wir am Rande der Niederlage stehen. Wie kann man diese Echokammer durchbrechen? Es wäre unklug, auf die Atombombe zu warten, oder darauf, dass Gott im Radio spricht.
Die Regierung Netanjahu, die in so vielem versagt hat, muss endlich die Verantwortung übernehmen. Es ist die Netanjahu-Regierung, die die katastrophale Agenda verabschiedet hat, die uns hierher gebracht hat, und es ist die Regierung, die eine Samson-ähnliche Politik der Rache und des Selbstmords verfolgt. Wehe uns, wenn dieselben Samsons jetzt die wichtigsten strategischen und politischen Entscheidungen in der Geschichte Israels treffen dürfen.
Diese Regierung ist an einem Punkt angelangt, an dem sie das Unerträgliche ertragen, ihr Scheitern eingestehen und sofort zurücktreten muss, damit jemand anderes eine neue Seite aufschlagen kann.

Harari

Räumung von Rafah hat begonnen

Das israelische Militär hat die Zwangsumsiedlung palästinensischer Zivilisten aus der überfüllten Grenzstadt Rafah im Süden des Gazastreifens eingeleitet, so das israelische Armeeradio. Die Aktion konzentriert sich auf einige Randbezirke der Stadt. Die betroffenen Personen sollen in Zeltstädte in den nahe gelegenen Städten Chan Junis und Al Mawasi am Mittelmeer gebracht werden.

Evakuierung betrifft etwa 100.000 Personen

"Wir haben heute Morgen mit einem Einsatz von begrenztem Umfang begonnen, um die Bewohner im östlichen Teil von Rafah vorübergehend zu evakuieren", erklärte ein Militärsprecher in einer Online-Pressekonferenz. Laut Armeeangaben sind etwa 100.000 Personen von der Zwangsmaßnahme betroffen.

Rafah ist als letzte Hochburg der militant-islamistischen Palästinenser-Organisation Hamas im Gaza-Streifen bekannt. Israel plant, die in der Stadt verbliebenen Bataillone der Hamas zu zerschlagen.

Geiseln in Rafah vermutet

Es wird angenommen, dass in der Stadt an der Grenze zu Ägypten auch Geiseln festgehalten werden. Vorangegangene indirekte Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas in Kairo über eine neue Feuerpause und die Freilassung von Geiseln im Austausch für palästinensische Häftlinge blieben jedoch ohne Ergebnis.