Von Viren und Menschen

Ein Bürgerkrieg stand am Ursprung des HIV 2-Virus

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Spätestens seit HIV und SARS ist uns bewusst, dass gefährliche Krankheiten von Tieren auf Menschen überspringen können. Doch was genau passiert dabei eigentlich? Während die Sache bei SARS noch ziemlich unklar ist, erhellt eine neue Arbeit das Dickicht um den Ursprung eines bislang recht obskuren HIV-Stamms. Die Geschichte von mutierenden Viren und Menschen im Bürgerkrieg ist ein lehrreiches Beispiel dafür, wie Politik, Individuen, Hygiene und genetischer Zufall fatal zusammen wirken können.

"Zoonosen" lautet der ziemlich nichtssagende medizinische Name für Infektionskrankheiten, die ihren Weg von Tieren zu Menschen finden können oder gefunden haben. Während für die meisten Zoonosen gilt, das Menschen sich zwar bei Tieren, nicht aber untereinander anstecken können, gibt es Ausnahmen von dieser Regel. SARS ist eine solche Ausnahme, bei der ein Virus, das die Barriere zwischen Tieren und Menschen möglicherweise sogar mehrfach in beiden Richtungen überwunden hat, jetzt auch von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. HIV ist ein anderes Beispiel.

Wie Phönix aus der Asche: Warum wird ein Keim urplötzlich zum Problem?

Wie hat man sich so einen "Sprung" zwischen Tier und Mensch vorzustellen? Wer die SARS-Berichterstattung liest, der könnte mitunter den Eindruck gewinnen, dass ein unhygienischer Keimpfuhl die Quelle allen Übels war, eine rückständige Ecke der Welt, in der Tiere und Menschen auf engem Raum zusammen wohnen und was auch immer mit einander treiben.

Das ist natürlich Unfug. Die Übertragungswege sind in der Regel kompliziert und unvorhersehbar. Viren, die lange Zeit, vielleicht über Jahrhunderte, ohne Schaden anzurichten unter Affen, Schweinen oder anderen Tieren weiter gegeben wurden, können durch irgendein äußeres Ereignis plötzlich zu einer Gefahr für den Menschen werden. Ein solches Ereignis kann zum Beispiel eine genetische Mutation des Virus sein. Es kann aber auch ein Ereignis sein, das von Menschen gemacht wurde, ein Bürgerkrieg etwa. Oder beides, wie im Falle des HIV 2-Virus, dessen wahrscheinliche Historie jetzt von belgischen Forscher in den Proceedings der National Academy of Sciences rekonstruiert wurde (PNAS) - eine Fallstudie, die keinem AIDS-Opfer mehr hilft, die aber viel sagt über die moderne Welt und ihre medizinischen Probleme.

Als HIV 2 zur Seuche wurde, lag der "Sprung" bereits ein halbes Jahrhundert zurück

Der bei weitem wichtigste AIDS-Erreger, das Virus HIV 1, wurde 1984 entdeckt. Zwei Jahre später stießen Forscher auf einen weiteren, verwandten Keim, der ebenfalls das klinische Syndrom AIDS mit den es definierenden, opportunistischen Infektionen verursacht, in einer etwas langsamer verlaufenden Form allerdings. Der Chronologie folgend wurde dieser Keim HIV 2 genannt. Von beiden Viren sind mittlerweile eine ganze Reihe von Subtypen bekannt, die hier nicht weiter interessieren sollen. Während HIV 1 für die weltweite AIDS-Epidemie verantwortlich zeichnet, ist HIV 2 ein bislang weit überwiegend auf Westafrika beschränktes Phänomen. Dort allerdings ist der Keim - genauso wie HIV 1 - ebenfalls epidemisch.

Seit wann gibt es HIV 2 bei Menschen, und warum gerade in Westafrika? Der Biologe Philippe Lemey und seine Kollegen aus Leuven, Oxford und Sydney glauben, diese Fragen beantworten zu können. Sie haben die Gensequenzen zahlreicher HIV 2-Viren verglichen, sowohl von infizierten Menschen als auch von infizierten Affen. Und sie haben aus diesen Daten mit Hilfe komplizierter statistischer Berechnungen Stammbäume ermittelt. Diese geben einerseits Aufschluss darüber, wann in etwa HIV 2 von den meerkatzenähnlichen Mangabenaffen auf den Menschen übertragen wurde, andererseits aber auch darüber, was das Virus danach gemacht hat. Lemeys entscheidender Punkt: Die genetischen Daten zeigen, dass zwischen der Übertragung auf die Menschen und dem Beginn der HIV 2-Epidemie in dem von ihnen untersuchten Landstrich in Guinea-Bissau rund ein halbes Jahrhundert lag.

Wahrscheinlich, so die Forscher, hätten die in Guinea-Bissau zeitweise haustierartig gehaltenen Mangabenaffen das Virus Anfang des 20. Jahrhunderts in zwei Formen an die Menschen weiter gegeben, ähnlich wie auch bei uns heute noch Schafe oder Wellensittiche Krankheiten auf den Menschen übertragen können. Eine neue genetische Mutation mag die Ursache dafür gewesen sein, dass auch eine Übertragung von Mensch zu Mensch möglich wurde. Wie auch immer, das HIV 2-Virus war im frühen zwanzigsten Jahrhundert in der menschlichen Population angekommen. Ein ernsthaftes Problem war es noch nicht.

Die Zeugen der Anklage: Soldaten, Ärzte und eine kleine Stadt

Dazu wurde es laut den epidemiologischen und genetischen Daten der Forscher erst irgendwann zwischen 1955 und 1970, ein Zeitraum, der in der Geschichte von Guinea-Bissau in etwa mit dem Unabhängigkeitskrieg gegen die Kolonialmacht Portugal korreliert. Er tobte von 1963 bis 1974. Ein Zusammenhang zwischen HIV 2 und diesem Krieg war schon einmal vermutet worden, doch genaue epidemiologische Daten, die diese Hypothese gestützt hätten, gab es bislang keine. Die Arbeit von Lemey liefert diese Daten nun, doch sie liefert auch noch eine Reihe weiterer Beobachtungen, die sich wie das Protokoll eines Indizienprozesses lesen.

So waren die ersten Europäer, die mit dem hier seltenen HIV 2-Virus auffielen, Portugiesen, die, wie sich heraus gestellt hat, fast alle zu den 35.000 portugiesischen Soldaten im Befreiungskrieg gehört hatten. Innerhalb von Guinea-Bissau, andererseits, ist es vor allem eine Altersgruppe, in der das HIV 2-Virus besonders häufig vorkommt - jene Altersgruppe, aus der damals ein großer Teil der Befreiungskämpfer rekrutiert wurde.

Retrospektive Daten zeigen außerdem, dass es gegen Ende des Krieges vermehrt zu bis dahin ungeklärten Zwischenfällen nach Bluttransfusionen kam, ein Hinweis darauf, dass wohl viel mit unsterilen Nadeln gearbeitet wurde. Speziell aus dem Armeelazarett in der kleinen Stadt Canchungo liegen nach Angaben der Forscher eine Vielzahl derartiger Berichte vor - Canchungo ist heute der Ort in Guinea-Bissau mit dem höchsten HIV 2-Vorkommen.

Die Seuchengleichung: Keim plus Mensch macht Epidemie

Was sich hier heraus schält ist ein Szenario, in dem ein Virus, das bei einem geringen Anteil der Bewohner Guinea-Bissaus bereits seit Jahrzehnten vorhanden war, durch ein Ereignis wie den Befreiungskrieg plötzlich zur Epidemie wurde. Verantwortlich dafür war nicht notwendigerweise eine neue Mutation, also Zufall, sondern eine kriegsbedingt plötzliche Veränderung der sozialen Gegebenheiten.

Eine hohe Zahl von Bluttransfusionen, eine Verschlechterung der hygienischen Bedingungen, ein kriegsbedingt verändertes Sexualverhalten und eine wohl wie in allen Kriegen erhöhte Zahl von Vergewaltigungen ergaben ein explosives Faktorengemisch. Alles zusammen reichte letztlich aus, um dem Virus den Übertritt aus einer "stabilen" Infektion in eine Epidemie zu verwandeln.