Wann Außenpolitik wirklich feministisch wird

Außenministerinnen Baerbock, Joly bei der Nato. Bild: Alexandros Michailidis, Shutterstock.com

Westliche Regierungen rühmen sich einer "feministischen Außenpolitik". Zugleich versinkt die Welt in Kriegen und Konflikten. Unsere Gastautorin erklärt den Widerspruch.

Die 2020er-Jahre sind die gewalttätigsten seit Ende des Kalten Krieges. Angriffe, Ausschreitungen, militärische Konflikte und Kriege in Syrien, Palästina, Jemen, Somalia und anderen Orten führten zu viel Leid. Die realistische, kapitalistische, militaristische, patriarchalische Welt bietet keine Lösung für Konflikte, Ungerechtigkeiten, Tod und weiteres menschliches und ökologisches Leid.

2022 erlebten wir die Rückkehr des Krieges nach Europa. Der Krieg des Putin-Regimes gegen die Ukraine ist ein imperialer Krieg, so wie es die US-Kriege gegen Irak, Afghanistan, Syrien usw. waren.

Viele Kommentator:innen berufen sich auf "Realismus", "Realpolitik", "Strategien und strategische Planung" und behaupten, dies sei, worum es in den internationalen Beziehungen gehe. Ist das wirklich so? Um das zu verstehen, sollten wir auf die Anfänge der Disziplin zurückblicken.

Internationale Beziehungen

Die Disziplin der Internationalen Beziehungen begann mit der expliziten Suche nach Frieden. Getroffen vom Ausmaß des Leids, der Todesopfer, der Zerstörung und der Vernichtung, die vom Ersten Weltkrieg ausgingen, kamen Denker zusammen, die als Liberale bzw. Idealisten bezeichnet wurden.

Natürlich war der Erste Weltkrieg nicht der erste Krieg. Wohl aber der Erste Weltkrieg, dem Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Die Idealisten wurden durch die Schrecken dieses Krieges motiviert und sagten, dass es bessere Wege geben müsse, um internationale Angelegenheiten zu regeln.

Sie entwickelten eine Reihe von Institutionen, Verfahren und Praktiken, um den Krieg im internationalen System zu kontrollieren oder sogar auszuradieren.

Für die Idealisten waren Unwissenheit und mangelndes gegenseitiges Verständnis die Hauptursachen für internationale Konflikte. Ihr nachhaltigster Beitrag war die Idee einer akademischen Disziplin, die die Welt der internationalen Politik untersuchen und analysieren sollte. Dieser Gedanke führte 1919 zur Gründung einer akademischen Abteilung für internationale Politik in Aberystwyth, Wales.

Das Ziel dieser neuen Disziplin war die Schaffung von Wissen, mit dem Frieden gefördert und/oder geschaffen werden sollte. Die Disziplin Internationale Beziehungen beruht damit auf der Verpflichtung zum Frieden.

Leider führte der weitere Weg nicht immer und überall zum Frieden: Holocaust, der Zweite Weltkrieg – sogar noch tödlicher als der Erste, der Kalte Krieg, zahlreiche regionale Kriege, ethnische und religiöse Konflikte. Nach dem Ende des Kalten Krieges beobachten wir nun die erneute Verhärtung der Weltpolitik. Was ging da schief?

Wo sind die Frauen?

Das Problem bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen auf globaler Ebene: Frauen waren und sind in der Disziplin und auf den höchsten Ebenen der internationalen Politik zu selten zu sehen und zu hören. Internationale Politik gilt nach wie vor als "a men’s world" – eine "Männerwelt". Staatspräsidenten, Minister (auch Außenminister) und Diplomaten sind weltweit meist Männer.

Zuhal Yeşilyurt Gündüz

Daher stellte Ann Tickner 1992 in ihrem Buch "Gender in International Relations" die bedeutsame und heute immer noch aktuelle Frage: Warum gibt es so wenige Frauen in meiner Disziplin?"1 Inwieweit spiegeln sich in der Disziplin der Internationalen Beziehungen die Erfahrungen und das Wissen von Frauen wider?

Hier trafen feministische Theorie und Internationale Beziehungen aufeinander. Feminismus war eine große Herausforderung für die Disziplin. Feminist:innen betonten, globale Politik kann sich nur entwickeln, wenn sie eine Geschlechterperspektive hat und die Erfahrungen und das Wissen von Frauen einbezieht.

Die wichtigste Frage war eine sehr einfache und gleichzeitig sehr schwierige: Wo sind die Frauen? Diese Frage ist auch im Jahr 2024 nicht beantwortet.

Außenpolitik

Außenpolitik beschreibt die Interaktionen eines Staates mit anderen Staaten. Außenpolitik versucht "nationale Interessen" zu schützen – in erster Linie wirtschaftliche, militärische oder kulturelle – und beinhaltet das Engagement eines Staates in internationalen Angelegenheiten, wie die Beteiligung an Handelsabkommen oder humanitären Hilfsaktionen.

Das ist eine mögliche Definition der Außenpolitik. Doch das Problem dabei ist, dass sich diese Art von Außenpolitik auf Macht konzentriert und auf den Einsatz von militärischer Gewalt, um Menschen und/oder Nationen zu bedrohen und/oder zu beherrschen. Diese Definition von Außenpolitik beruht auf der Idee des Schutzes und der Ausweitung neoliberaler Wirtschaftspraktiken. Diese aber vertiefen die Armut, untergraben Gemeinschaften und zerstören die Umwelt.

Frauen und andere marginalisierte Gruppen sind von dieser Art außenpolitischer Praktiken besonders betroffen. Konflikte, wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung, die alle ihre Wurzeln in der Außenpolitik haben, wirken sich unverhältnismäßig stark auf Frauen aus.

Strukturelle Gewalt

Für den kürzlich verstorbenen Gründer der Friedensforschung Johan Galtung bedeutet Frieden die "Abwesenheit von Gewalt". Er schreibt2:

Gewalt ist vorhanden, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre tatsächliche somatische und mentale Verwirklichung unter ihrer potenziellen Verwirklichung liegt.

Das bedeutet, dass Gewalt die Menschen daran hindert, ihr volles Potenzial auszuschöpfen.

"Strukturelle Gewalt" (structural violence) ist Gewalt, die in Strukturen angelegt ist und sich in ungleichen, ungerechten Machtverhältnissen und damit ungleichen, ungerechten Chancen äußert. Das führt zu sozialer Ungerechtigkeit. So lösen systematische Ausgrenzung, Marginalisierung und Ausbeutung strukturelle Gewalt aus, durch die marginalisierte Menschen aufgrund der ungleichen und ungerechten Verteilung von Ressourcen zu kürzeren, weniger wohlhabenden und weniger gesunden Lebensperspektiven verurteilt sind.

Strukturelle Gewalt bedeutet wirtschaftliche Unsicherheit der Menschen, die sich aus den nationalen und internationalen Strukturen der politischen und wirtschaftlichen Unterdrückung ergibt.

Johan Galtung unterscheidet zwischen "negativem Frieden", der die Abwesenheit von (persönlicher) Gewalt bedeutet, und "positivem Frieden", der darüber hinausgeht und die Abwesenheit von struktureller Gewalt bedeutet.3 Es kommt also darauf an, nicht nur negativen, sondern und vor allen Dingen positiven Frieden zu erreichen.

Feminismus und internationale Beziehungen

Feministische Wissenschaftlerinnen im Bereich der Internationalen Bezie hungen zielen darauf ab, diese Beziehungen zu verändern, indem sie die Unsichtbarkeit von Frauen beenden und die geschlechtsspezifische Brille (gendered lenses) in allen Bereichen aufsetzen, um eine genderspezifische Sicht auf das Leben, die Gesellschaft sowie die Innen- und Außenpolitik zu haben.

Die feministische Sichtweise lehnt die Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik ab und zeigt, wie sehr diese Bereiche ineinander übergehen und sich gegenseitig beeinflussen. Eine Außenpolitik, die im luftleeren Raum ohne Menschen und gegen Menschen realisiert wird, ist einfach nicht möglich. Gender, Umweltschutz, Menschenrechte, Gesundheit, Bildung, Migration, Bevölkerung, Armut und noch vieles mehr sind Themen nicht nur der Innensondern gleichzeitig auch der Außenpolitik.

Internationale Beziehungen als ein "überfüllter Ballsaal"

In diesem Sinne bedient sich Cynthia Enloe, eine der bedeutsamsten Feministinnen der Disziplin, einer innovativen Metapher für die internationalen Beziehungen4:

Ein wirklich komplizierter, überfüllter Ballsaal. Manche Leute tanzen Hip-Hop, während andere auf derselben Tanzfläche Walzer tanzen. (...) Ich stelle mir die überfüllte Tanzfläche mit verschiedenen Bands vor, die unterschiedliche Musik spielen. Dann sehen wir all die Leute, die nicht tanzen dürfen und dankbar sein sollen, dass sie überhaupt hereingelassen werden, um den Tänzern zuzusehen. Und dann sind da noch all die Leute, die den Ballsaal vor und nach dem Tanz reinigen, die draußen stehen in der Kälte oder in der brütenden Hitze.

Wie fade und einfach, um nicht zu sagen simplizistisch, steht der feministischen Tanzfläche in der Betrachtung internationaler Beziehungen die Schachbrett-Analogie gegenüber. Cynthia Enloe betont: "Die Entwicklung einer feministischen Analyse bringt uns eine hohe Toleranz für Unordnung. Eines der Dinge, die ich bei vielen der renommiertesten außenpolitischen Analysten so frustrierend fand, (…) ist ihr leichtes Abgleiten in die Schachbrett-Analogie."5

In diesem Sinne bringt Feminismus neuen Wind in die Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen.

Was passiert, wenn Feminismus und Außenpolitik zusammenkommen? Dann geht es nicht nur um "gender issues", sondern um eine Veränderung der Außenpolitik weg von patriarchaler Gewalt und Militarismus, hin zur Krisenprävention und hin zum Frieden.6

Feministische Außenpolitik stellt sich gegen jegliche Form von Gewalt: psychologische, wirtschaftliche, körperliche, sexuelle, strukturelle usw. Gegen jede Form der Gewalt bedeutet auch gegen Waffen, Gewehre, Bomben und dergleichen.

Daher kann es nicht sein, dass Schweden – der Vorreiter in feministischer Außenpolitik – gleichzeitig Waffen an Saudi-Arabien verkaufte, die dieser Staat gegen den Jemen, einen der ärmsten Staaten der Welt, benutzte. Es kann auch nicht sein, dass Deutschland einen höheren Waffenverkauf hat als je zuvor in der Geschichte, seitdem es eine "feministische Außenpolitik" betreibt.

Um es kurz und knapp auszudrücken: Internationale Beziehungen bedeutet die Suche nach Frieden. Feministische Außenpolitik kann und darf keine Gewaltpolitik verfolgen – niemals. Eine Außenpolitik, die sich auf Waffen, Gewalt und Militarismus bezieht, verliert das Recht, sich als feministisch zu bezeichnen.

Prof. Dr. Zuhal Yeşilyurt Gündüz, geb. 1970, Studium u.a. der Politikwissenschaft an der Universität Bonn, hier auch Promotion, seit 2015 Professorin an der TED Universität in Ankara, Senior Research Fellow am WeltTrends-Institut für Internationale Politik, zuhal.gunduz@tedu.edu.tr

Der Artikel erschien zuerst in unserem Partnermedium in WeltTrends 200 – Multipolare Geopolitik