War der polnische Regierungschef einst kommunistischer Geheimagent?

Im Internet kann es ganz Polen lesen

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Der Sejm-Abgeordnete Tomasz Karwowski wirft dem Ministerpräsidenten Jerzy Buzek vor, dass er in der Volksrepublik Polen Geheimagent war und unter anderem gegen die damalige demokratische Opposition spionierte. Einzelheiten der bereits seit Wochen schwelenden Affäre waren bisher eher unbekannt, nun kann sie aber ganz Polen auf der Internetseite von Karwowskis Partei KPN-Ojczyzna (Konföderation für ein unabhängiges polnisches Vaterland) erfahren.

Im online veröffentlichten offiziellen Gerichtsantrag fordert der rechtsorientierte Abgeordnete ein Lustrationsverfahren gegen Jerzy Buzek und reicht Beschwerde gegen die Entscheidung vom Sachverwalter des öffentlichen Interesses vom 5. Mai ein. Mit dem Wort "Lustration" bezeichnet man in Polen die Überprüfung von hohen Staatsbeamten sowie von Angestellten im öffentlichen Dienst auf eine mögliche geheimdienstliche Vergangenheit im realsozialistischen Polen vor 1990. Diese "Agentenjagd" wurde vom Anfang an ausschließlich von rechtsorientierten Politikern aus den "Solidarnosc"-Kreisen befürwortet. Schliesslich wurde aber, nachdem sie 1997 die Parlamentswahlen gewonnen hatten, ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Ca. 23 000 Bürger wurden dadurch verpflichtet, eine schriftliche Erklärung abzugeben, in der sie ihre mögliche Agententätigkeit zwischen 1945 und 1990 gestehen oder verneinen sollten. Wer sie gesteht, hat nichts zu befürchten (aber nur theoretisch, denn er wird sowieso entlassen). Wer aber lügt, verliert sofort seinen Posten und darf 10 Jahre lang im öffentlichen Dienst bzw. im bisherigen Beruf nicht mehr tätig sein. Der Sachverwalter des öffentlichen Interesses entscheidet darüber, ob jemand die Wahrheit sagt oder lügt, denn ihm obliegt es, ein Verfahren vor dem Lustrationsgericht einzuleiten.

Die Lustrationsidee, so wie es die Opposition vorsah, wurde sofort zum Werkzeug des politischen Kampfes. Bereits vor einigen Jahren hat sie zum Absturz der Regierung von Jan Olszewski geführt. Heute ist es nicht anders: Obwohl die "Solidarnosc" alle Posten, die mit der Lustration etwas zu tun haben, mit eigenen Vertretern besetzt hatte, ohne der Opposition wenigstens eine symbolische Kontrollmöglichkeit gelassen zu haben, ist es gerade die Rechte, die mit der Vergangenheit Ärger hat. Kein Wunder, denn in der Volksrepublik Polen wurden ja gerade die damaligen Oppositionellen sowie die katholischen Priester vom Staatsicherheitsdienst (SB) angeworben. Mitglieder der regierenden kommunistischen Partei, die sich in den oppositionellen Bund der Demokratischen Linken (SLD), waren nicht interessant: Agenten brauchte der Staat schliesslich in der "Solidarnosc".

Vorwürfe gegen den heutigen Mitisterpräsidenten gab es bereits vor einem Jahr in der Presse, sie waren aber vor allem in Schlesien bekannt, wo Buzek in den 80er Jahren in der konspirativen "Solidarnosc" aktiv war. Im Rest von Polen hörte kaum jemand davon, bis der Sachverwalter Nizienski den entsprechenden Lustrationsantrag von Karwowski ablehnte. Karwowski weist jedoch darauf hin, dass Buzek als Regierungschef u.a. der Vorgesetzte des Innenministers und des Geheimdienstchefs ist, und gerade diese Menschen verwalten SB-Archive, wo sich möglicherweise kompromittierende Beweise befinden. Inzwischen hat Karwowskis Parteikollege etwas riskiert: er zeigte nämlich auf einer Pressekonferenz Auszüge aus der streng geheimen Begründung von Nizienskis Beschluss. "Der Wahrheit wegen bin ich gern bereit, hinter Gitter zu gehen", meinte er zu den Journalisten.

Karwowski behauptet in seinem Antrag, Buzek wurde bereits 1971 vom Militärischen Aufklärungsdienst geworben und sollte in Grossbritannien, wo er ein wissenschaftliches Stipendium bekam, "die neuesten Technologien der Kampfgasentsorgung für den Warschauer Vertrag" ausspionieren (Buzek ist Chemiewissenschaftler). Wegen des Verdachts, dass er vom britischen MI 5 umgedreht wurde, habe das Militär, so Karwowski, auf Buzeks Mitarbeit verzichtet und ihn dem Sicherheitsdienst SB zur Verfügung gestellt. Danach sollte Buzek, laut Karwowski, zuerst in akademischen Kreisen und nach den Streiks von 1980 innerhalb der "Solidarnosc" spioniert haben. Für all das gebe es Beweise, und zwar Zeugenaussagen und Dokumente, die Karwowski dem Antrag beilegte, aber auf der Internetseite nicht veröffentlicht wurden.

In Polen sind fast alle Medien stark bis sehr stark rechtsorientiert und demzufolge auch regierungstreu. Und damit sind sie sich sicher: Buzek sei kein Agent, und KPN-Ojczyzna wolle mit ihren Vorwürfen einfach aus dem politischen Nichts nach oben. Der Privatfernsehsender TVN erklärte bereits in seiner Hauptnachrichtensendung "Fakty", er werde über Karwowskis Vorwürfe nicht weiter berichten, solange das Lustrationsgericht nicht sein Urteil verkündet. Die kleine, oft exotisch wirkende Partei KPN erfreut sich in Polen keiner großen Popularität und hat im politischen Leben fast gar nichts zu sagen. Man nimmt sie, und somit auch ihre Vorwürfe, nicht allzu ernst. Selbstverständlich widmet man auch den detaillierten Beschuldigungen gegen Buzek nur wenig Platz. Umso größer ist die Rolle des Internet. Zum ersten Mal stand nun während der KPN-Pressekonferenz die URL der Partei unterm Logo...

Als man vor ein paar Jahren dem linken Regierungschef Jozef Oleksy Spionagetätigkeit für den KGB vorgeworfen hatte, urteilten die meisten Medien in Polen genauso schnell: schuldig. Oleksy musste gehen, obwohl die Ermittlungen seine Unschuld bewiesen. Bis heute dauert der Prozess Kwasniewski vs. "Zycie". Die rechte Zeitung hatte nämlich geschrieben, dass der ehemalige polnische Staatspräsident vor Jahren seine Ferien zusammen mit einem KGB-Agenten verbracht habe ...

Die Agentenjagd geht also weiter.