Was würde Bourdieu dazu sagen?

Bild: Stefan Selke

Lifelogging Teil 1

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In einer großen Berliner Buchhandlung liegt ein Stapel meines Buches "Lifelogging" neben einem dicken Buch des französischen Star-Soziologen Pierre Bourdieu ("Über den Staat"). Zugegeben, ich bin gerührt. Niemand ist vor Eitelkeiten geschützt. Auch ich nicht. Diskutiere ich doch zu Beginn jedes Semesters den wunderbaren Dokumentarfilm "Soziologie als Kampfsport", der einige öffentliche Auftritte von Bourdieu zeigt. Dieses Semester wurde ich von einer Studentin sogar gefragt, ob ich ein "Bourdieu-Fan" sei. Keine schlechte Frage, vielleicht nur eine eher ungewöhnliche.

Als erste Reaktion auf die Bücherauslage entstand der Impuls, ein Foto mit dem Smartphone zu machen, um dieses Bild dann in Facebook zu veröffentlichen. Zum Glück war die Kamerafunktion meines Smartphones defekt und ich musste aus technischen Gründen auf den "Beweis" meiner "Nähe" zu Bourdieu verzichten. Aber konnte ich auch persönlich darauf verzichten? Diese selbstkritische Frage drängte sich mir unmissverständlich. Willkommen beim Thema Lifelogging! Willkommen bei der Suche danach, was umfassende digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung mit uns selbst und der Gesellschaft macht.

Als Soziologe analysiere ich den Trend der digitalen Selbst- und Fremdvermessung aus gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive. Worum es dabei nicht geht, ist die Beschreibung technischer Funktionsweisen blickender Lämpchen und Sensoren. Vielmehr bin ich auf der Suche nach den mit Lifelogging verbundenen Denkstilen, dem rahmenden Zeitgeist und der schleichenden Veränderung unserer kulturellen Matrix. Begleitet wird das Buch von einigen kurzen (an der Hochschule Furtwangen produzierten) Videos, in denen die typischen Felder von Lifelogging sowie die kulturalistischen Kernthesen komprimiert dargestellt werden. Mit meinen Online-Beiträgen möchte ich in loser Folge einige grundlegende Thesen zum Boom von Lifelogging liefern, bislang nicht behandelte Anwendungsfelder vorstellen sowie ergänzende Aspekte beleuchten - denn das Phänomen Lifelogging entwickelt sich immer weiter, wird mit angrenzenden Themen verknüpft und durch die Brille neuer (technischer und politischer) Entwicklungen interpretiert.

Zurück zu meinem Beispiel: Was hätte es mir gebracht, den Bücherstapel zu fotografieren? Wäre das wirklich eine bessere Grundlage für meine Erinnerungen? Wie objektiv wäre dieses Foto, was würde es beweisen? Das alles sind Fragen, die auftauchen, wenn es um Lifelogging geht. Jedenfalls dann, wenn unter Lifelogging die Summe aller Selbstvermessungs- und Lebensprotokollierungsmethoden verstanden wird, die gegenwärtig mit digitalen Heinzelmännchen (Mini-Sensoren, Mini-Kameras etc.) möglich sind.

Der mediale Hype um die Online-Plattform und Interessensgemeinschaft "Quantified Self" hat das Thema der Selbstvermessung leider stark verengt. Ein Ziel meines Buches besteht daher gerade darin, möglichst viele Facetten von Lifelogging zusammenhängend und kritisch in den Blick zu nehmen. Denn es gibt einen blinden Fleck: Während in den Feuilletons über die Gefahren der digitalen Überwachungskultur diskutiert wird und Kongresse über die "Vermessung der Welt" und "Big Data" in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik aus dem Boden schießen, werden die individuellen und gesellschaftlichen Risiken freiwilliger digitaler Selbstvermessung noch nicht ausreichend in den Blick genommen. Eine öffentliche Debatte wäre wünschenswert, denn es geht nicht allein um die NSA und deren Spielzeuge, sondern auch um unsere private Lebenswelt und die darin eingesetzten Selbstvermessungsinstrumente.

Immerhin bringt mich die Begegnung mit dem Bücherstapel auf die Frage, was wohl Bourdieu über Lifelogging gedacht hätte. Kaum jemand hat die sozialen Demarkationslinien der Gesellschaft so genau untersucht, wie der französische Soziologe ("Feine Unterschiede", "Elend der Welt"). Würde Bourdieu heute Geschmackspräferenzen und Distinktionsmechanismen der modernen Gesellschaft empirisch abbilden wollen, müsste er auf einen unglaublich heterogenen Datensatz zurückgreifen.

Vergleichsweise einfach war noch sein gesellschaftliches Radar während der anlogen Ära. Er würde bei seiner Untersuchung neue soziale Spaltungen zwischen digitalen Versagern und digitalen Konformisten erkennen. Das würde ihn vielleicht zum Kern des soziologischen Verständnisses von Lifelogging führen: Daten sind nicht allein deskriptiv, sie sind vielmehr normativ. Sie schaffen (neue) Erwartungen, Standards und Regeln. Mit dem Begriff "Doxa" beschrieb Bourdieu, wie in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern soziale Spielregeln entstehen und mit welcher Wirkmächtigkeit sie sich entfalten (z.B. im akademischen Milieu). Genau das passiert mit der privaten Selbstvermessung in nahezu allen lebensweltlichen Bereichen. Wir alle tragen dazu bei, dass neue Spielregeln entstehen, an die wir uns dann selbst halten müssen.

Das Verfahren, das dazu angewandt wird, kann als rationale Diskriminierung beschrieben werden. In modernen (d.h. vor allem auch: neoliberalen) Gesellschaften wird kaum noch jemand aus ethischen, rassistischen oder sonstigen irrationalen Motiven ausgeschlossen. Diese Leerstelle wird mit den smarten Datensammlungen über unsere Leistungsfähigkeit gefüllt, eine Form der Distinktion, die sich oberflächlich betrachtet als sehr rational darstellt, die jedoch letztlich nicht weniger diskriminierend ist.

Die Priester und Schamanen innerhalb der Lifelogging-Bewegung insistieren in ihrem Manifesten mittels vielfältiger Heilsversprechen geradezu darauf, dass Daten nicht lügen können und daher objektiv seien. Das ist genau das, was Max Weber unter intellektualistischer Rationalisierung verstand, den unbedingten Glauben daran, dass prinzipiell alles erklärbar sei. Seine "Entzauberungsthese" wurde weltberühmt.

Lifelogging passt nun einerseits sehr gut in dieses Programm des prinzipiellen Wissens. Es bedient ein Bedürfnis nach Ordnung und Kontrolle. Andererseits wird damit eine schleichende Wiederverzauberung der Welt im Gewand unbedingter Vernunft betrieben. Der Glaube an die Aussagefähigkeit der freiwillig und eigenständig erhobenen Daten wird in vielen Anwendungsfeldern übersteigert, gar zum Fetisch. Die Wiederverzauberung der Welt durch Lifelogging und der darin enthaltene Glaube an die universalistische Orientierung durch Daten ließe sich auch so ausbuchstabieren: Ist es wirklich rational, sich so rational zu verhalten? Oder zeugen die vielen Beispiele und Anwendungsfelder von Lifelogging - Gesundheitsmonitoring, Ortsnachverfolgung, Leistungserhebung, Erinnerungsstütze und digitales Lebensarchiv - nicht vielmehr von einer irrationalen Verdrehung unseres Selbst- und Weltbezugs?

Das ist jedenfalls die Grundthese des Buches. Wir blicken in den digitalen Spiegel, aber wir sehen nicht uns selbst, sondern wir sehen uns so, wie wir sein sollten. Das bedeutet die Normativität der Daten. Wir werden bald sehr genau spüren, was es bedeutet, kein idealer Kunde, kein idealer Arbeitnehmer und kein idealer Mensch mehr zu sein. Genau darin besteht die grundlegende Überlastung und Überforderung durch Lifelogging.

Ich war jedenfalls froh, dass ich gerade kein Foto vom Bücherstapel machen konnte. Ich habe versucht, mir dieses schöne Bild einzuprägen und als Erinnerungsspur auf diese Weise vorrätig zu halten. Eines Tages werde ich dann Studierende damit nerven, indem ich diese kleine Geschichte erzähle, aber dieses Recht werde ich mir dann als alter Mann herausnehmen. Vielleicht oute ich mich dann auch als Bourdieu-Fan.

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