"52 Jahre der Stille sind zuende"

Die palästinensischen Flüchtlinge im Internet

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Im letzten September besuchte der heutige Ministerpräsident Israels, Ariel Scharon, den Haram al-Scharif/Tempelberg in Jerusalem und löste damit den Aufstand gegen die israelische Besatzung aus. Die israelische Armee versucht seitdem verstärkt, die Intifada unter anderem mit der Abriegelung palästinensischer Städte einzudämmen. Zeitgleich nahmen palästinensische Flüchtlinge aus Palästina und dem Libanon, die über 50 Jahre lang voneinander isoliert waren, über das Internet wieder Kontakt miteinander auf.

Nach Angaben des BADIL-Zentrums in Bethlehem wurden im Laufe des ersten israelisch-arabischen Krieges von 1948 über 700.000 Palästinenser vertrieben. Die meisten flüchteten in die angrenzenden arabischen Staaten, wo sie vor allem in Syrien und dem Libanon in Lagern leben. Im Krieg von 1967, in dem Israel das Westjordanland und den Gazastreifen besetzte, wurden weitere 350.000 Palästinenser zu Flüchtlingen, viele davon zum zweiten Mal.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) hat aktuell über 3,7 Millionen Flüchtlinge und ihre Nachkommen registriert und versorgt die Ärmsten unter ihnen in den 59 Lagern in der Region. Nur ungefähr ein Drittel der Flüchtlinge leben noch in den palästinensischen Gebieten. Teilweise sind die Bewohner ganzer Dörfer zusammen geflohen und haben sich entlang alter Nachbarschaftszusammenhänge in den Lagern wieder gefunden. Die Erinnerung an die alte Heimat wird so lebendig erhalten. Ein palästinensisches Kind, das noch nie seine Heimat betreten hat, weiß genau, wo die Wurzeln und das Land seiner Familie liegen.

Viele Familien und Gemeinschaften wurden jedoch auseinandergerissen, ohne die Möglichkeit, sich wiederzusehen. Telefongespräche sind wegen des anhaltenden Kriegszustandes nur schwer möglich. Und Israel stellt sich vehement gegen die Rückkehr der Flüchtlinge.

Die Birzeit-Universität nördlich von Ramallah, der Pionier des palästinensischen Internet, bemüht sich seit einiger Zeit um die Vereinigung der geografisch zerstreuten Flüchtlinge im Cyberspace. Und die Arbeit des Across Border-Projekts (ABP) hat Erfolg. Am 30. September des letzten Jahres saßen die Nutzer des Computerzentrums im Lager Deheische bei Bethlehem gebannt vor ihren Rechnern, als sich das libanesische Lager Burdsch al-Schamali mit den Worten meldete: "52 Jahre der Stille sind zuende."

"Wir wollen die Flüchtlinge dazu befähigen, ihr Anliegen transparent zu machen", so Lubna Hammad, eine Projektmitarbeiterin. "Dazu ist es notwendig, die Arbeit der auf die verschiedenen Lager verteilten Menschen zu vernetzen." Ihre Gruppe finanziert und unterweist die gewählten Komitees in den Lagern ein Jahr lang in den verschiedensten Feldern, die notwendig sind, um ein Computerzentrum selbstständig zu unterhalten. "In den jeweiligen Komitees sind alle Bevölkerungsgruppen vertreten. Die Räumlichkeiten müssen behindertengerecht und besonders für alte Menschen leicht erreichbar sein."

Außer den beiden Lagern bei Bethlehem und im Südlibanon sind die Flüchtlinge in Khan Junis im südlichen Gazastreifen online. Fünf weitere Zentren in den palästinensischen Gebieten sollen in Kürze folgen. "Die derzeitigen Abriegelungen machen diese Vernetzung innerhalb Palästinas besonders wichtig", erklärt Marwan Tarazi, Direktor des Computerzentrums der Universität und Mitinitiator des Projekts. "Heutzutage braucht man ja schon Computer, um nur die Leute aus Ramallah mit der Universität zu verbinden, weil die Israelis so oft die Straßen sperren."

Die Gelder für die Einrichtung eines Zentrums mit einem Dutzend Computern, einem Server und einer Standleitung – etwa 60.000 US-Dollar – werden von verschiedenen internationalen Hilfsorganisationen bereit gestellt. Zusammen mit den Anleitern von Across Borders entwickeln die Flüchtlingsgemeinschaften eine eigene Homepage. Und nach dem Einführungsjahr müssen die Nutzer sich selbst versorgen. "Die einzelnen Gruppen sind dann in der Lage, Computerkurse anzubieten", sagt Lubna Hammad. Sie vermitteln Kenntnisse in web-design, Programmierung und e-publishing. In den Lagern ist die Arbeitslosenrate besonders hoch. Dazu kommt, dass den Flüchtlingen im Libanon der Zugang zu vielen Berufszweige versperrt ist. "Unsere Initiative eröffnet ihnen sozusagen einen völlig neuen Arbeitsmarkt und Berufszweige, die sich auch aus dem Lager heraus bedienen lassen."

Die Dachorganisation von Across Borders steht den einzelnen Zentren nach dem ersten Jahr weiterhin beratend zur Seite. "Unsere angesehene Stellung als Teil der Universität von Birzeit hilft uns bei vielem", erklärt Hammad, "beispielsweise bei Verhandlungen mit PalTel." Die palästinensische Telefongesellschaft stellt den Computerzentren der Flüchtlingslager ihren Service zuerst umsonst, später verbilligt zur Verfügung.

Ein besonderes Anliegen des Projektes ist es, die Geschichte der Flüchtlinge zu dokumentieren. "Die erste Generation ist bereits sehr alt, und ihr Leben wird bisher fast ausschließlich in mündlicher Überlieferung transportiert", so Hammad weiter. "Wir bieten den Menschen Schreibkurse an, damit sie ihre Erlebnisse für die Nachwelt festhalten."

Das Ganze erhält so auch eine politische Dimension. Die Flüchtlinge pochen auf ihr von den Vereinten Nationen verbrieftes Recht zur Rückkehr nach Palästina. In den israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen ist diese Angelegenheit jedoch zunehmend in den Hintergrund geraten. Israel ist nicht einmal dazu bereit, seine Schuld am Schicksal der Flüchtlinge anzuerkennen. Die Palästinenserführung selbst sieht den Staats- und Wirtschaftsaufbau in Gefahr, würden die Hunderttausende von Flüchtlingen in die von ihr verwalteten Gebiete kommen.

Viele Flüchtlinge in den Lagern außerhalb Palästinas wollen jedoch gar nicht mehr nach Palästina zurück. Sie erhoffen sich von der israelischen Anerkennung ihrer Vertreibung, einen Reisepass und Reparationszahlungen, um in ihren jeweiligen Fluchtländern oder im westlichen Ausland ein neues Leben beginnen zu können.

Andere kämpfen weiterhin für die Rückkehr nach Palästina. Ihre Möglichkeiten, dieses Anliegen der internationalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind aber beschränkt. Mit dem Across Borders-Projekt ist ein Anfang gemacht, diese Lücke zu schließen.

Peter Schäfer, Ramallah