60 Jahre Grundgesetz - 60 Jahre Meinungsfreiheit?

Am 23. Mai 2009 begehen wir nicht nur den 60. Jahrestag der Bundesrepublik Deutschland, sondern es jährt sich auch zum 60. Mal die Verkündung des Grundgesetzes (GG)

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Die für uns heute selbstverständlich wirkenden Freiheitsrechte des Grundgesetzes sind es – historisch wie geografisch gesehen – allerdings nicht. Keine deutsche Verfassung (von 1848, 1871 oder 1919) war so lange und erfolgreich in Kraft wie die bundesdeutsche.

Faksimile des Grundgesetzes. Bild: Bundestag

Die Vorläufer und ihre Bedeutung für das heutige Grundgesetz

  1. 1848: Die nach der Revolution von 1848 entworfene Paulskirchen-Verfassung enthielt einen Katalog der „Grundrechte des Deutschen Volkes“ in 9 Artikeln, die unter Art. IV die „Preßfreiheit“ vorsah: „Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern.“ Doch nach Auflösung des Frankfurter Paulskirchenparlamentes im März 1849 wurde von der antidemokratischen Reaktion unter dem österreichischen Kanzler Fürst von Metternich die Vorzensur wieder eingeführt.
  2. 1871: In der Bismarckschen Reichsverfassung von 1871 gab es keinen Grundrechtskatalog. Da die einzelnen Länder die bürgerlichen Grundrechte regelten, waren diese in den Verfassungen der Einzelstaaten verbürgt. Einen Grundrechtskatalog auf Reichsebene gab es erst seit 1919.
  3. 1919: Die Weimarer Verfassung war die erste praktizierte demokratische Verfassung Deutschlands. Allerdings hatte der Grundrechtskatalog gegen die restaurativen bzw. totalitären Kräfte nur wenig geholfen, wie das „Dritte Reich“ zeigte. Zahlreiche Artikel der Weimarer Verfassung (u.a. auch die Grundrechte) waren direkt der Paulskirchenverfassung von 1848 entnommen und flossen ihrerseits wieder in das heute geltende GG ein, wobei man aus den Weimarer Fehlern lernte und z.B. die Macht des Staatsoberhauptes wie auch die direkten Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger begrenzte.

Das Grundgesetz von 1949

Dass es nach nationalsozialistischer Diktatur, Zweitem Weltkrieg und bedingungsloser Kapitulation Hitler-Deutschlands 1945 nur vier Jahre dauerte, bis die Bundesrepublik gegründet wurde und sich ein Grundgesetz geben konnte, ist erstaunlich und nicht zuletzt den Alliierten zu verdanken.

Das Grundgesetz wurde nach Vorarbeiten eines von der Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder bestellten Sachverständigenausschusses im sog. Herrenchiemseer Verfassungskonvent vom Parlamentarischen Rat erarbeitet und am 8.5.1949 in Bonn beschlossen. Bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 galt es nur für die westlichen Besatzungszonen bzw. die „alten Länder“.

Das Grundgesetz regelt die rechtliche und politische („freiheitlich-demokratische“) Grundordnung der Bundesrepublik sowie das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Es ist in 13 Abschnitte gegliedert. Der für diesen Zusammenhang wichtigste Abschnitt I enthält mit den Artikeln 1-19 die Grundrechte, die nach den Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung und vor allem dem Nationalsozialismus den Verfassungsvätern und -müttern besonders wichtig waren.

Das erste Grundrecht ist die Menschenwürde: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 GG). Weitere Grundrechte sind u.a.: Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3), Glaubensfreiheit (Art. 4), Postgeheimnis (Art. 10) und die für unseren Zusammenhang besonders wichtige Meinungsfreiheit durch Art. 5. In Absatz 1 heißt es: „Eine Zensur findet nicht statt“. Absatz 2 weist jedoch die Schranken der Meinungsfreiheit auf, durch die „Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Absatz 3 verfügt: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“

In den weiteren Grundrechten des ersten Abschnittes werden u.a. die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Versammlungsfreiheit, die Berufsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung gewährt. Vor allem um kriminelle, terroristische und andere extremistische Gefahren abzuwehren, wurden manche Grundrechte allerdings im Laufe der Geschichte durch zahlreiche Verfassungsänderungen eingeschränkt, z.B. durch diverse „Lauschangriffe“ (1998), Vorratsdatenspeicherung, BKA-Gesetz etc. Die Diskussion um das Thema Freiheit oder Sicherheit ist bis heute zu keinem endgültigen Abschluss gekommen.

Die weiteren 12 Abschnitte regeln u.a. die allgemeinen Grundsätze über Staatsform, Regierung, Gesetze, Verteidigung usw. Der besonders wichtige Art. 20 legt u.a. fest, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Das Grundgesetz kann nur mit einer 2/3-Mehrheit des Bundestages geändert werden, wobei basale Verfassungsgrundsätze nicht berührt werden dürfen (siehe Art. 19).

Bis zur Wiedervereinigung (durch den Beitritt der DDR) handelte es sich beim Grundgesetz um eine provisorische Verfassung, die den Status des geteilten Deutschlands als Provisorium dokumentierte. Sie gilt nun für das gesamte Deutsche Volk, wie in der Präambel des Grundgesetzes steht.

Das Bundesverfassungsgericht überwacht als unabhängiges Verfassungsorgan die Einhaltung der Grundrechte und überprüft die Rechtmäßigkeit der vom Gesetzgeber beschlossenen Gesetze. Als obersten Hüter des Grundgesetzes kommt dem Bundesverfassungsgericht auch die heikle Rolle als „primären Kunstfreiheitsinterpret“ (J. Würkner) zu.

Umstrittene Meinungsfreiheit

Einige der maßgeblichen höchstinstanzlichen Urteile zur Meinungsfreiheit, die Rechtsgeschichte geschrieben haben, sind:

Die Sünderin

Das Melodram „Die Sünderin“ (1950) von Willi Forst mit Hildegard Knef und Gustav Fröhlich in den Hauptrollen war der erste Skandalfilm der jungen Bundesrepublik. Nicht nur eine kurze Nacktszene der Knef, sondern vor allem die „Verharmlosung von Prostitution und Selbstmord“ führten zu einem polizeilichen Aufführungsverbot, zu einem kurzzeitigen Austritt der Kirchen aus den Gremien der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft FSK und zu priesterlichen Brandreden von den Kanzeln katholischer Kirchen. Das Bundesverwaltungsgericht hob 1954 das vom Koblenzer Gericht 1952 bestätigte polizeiliche Verbot auf. Es wurde festgestellt, dass die Kunstfreiheit nicht der polizeilich zu schützenden Sittenordnung unterliegt.

Lüth-Urteil

Als der Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth 1950 zum Boykott des neuen Films des „Jud Süß“-Regisseurs Veit Harlan aufrief, wurde ihm das per Einstweiliger Verfügung untersagt. Gegen dieses Verbot vom Landgericht Hamburg legte Lüth Verfassungsbeschwerde ein. 1958 gab das BVerfG seiner Klage statt und hob die Bedeutung der Meinungsfreiheit als „Grundlage jeder Freiheit überhaupt“ (BVerfGE 7, 198, 208) heraus. Dieses frühe Urteil zur Äußerungsfreiheit gilt bis heute als richtungsweisend (BVerfGE 7, 198).

Spiegel-Affäre

Das Magazin „Der Spiegel“ hatte am 10. Oktober 1962 unter dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ über die militärische Situation in Deutschland und der NATO berichtet. Wegen Verdachts des Landesverrats wurde daraufhin u.a. gegen Rudolf Augstein als Verleger Haftbefehl und ein Durchsuchungsbeschluss der Räume des SPIEGEL-Verlags in Hamburg und Bonn wurden erlassen. Der Verlag erhob Verfassungsbeschwerde gegen diese Anordnung. Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerde 1966 zurück. Obwohl das Bundesverfassungsgericht anerkennt, dass die Bevölkerung auch über wichtige Vorgänge in der Verteidigungspolitik informiert werden muss, bewertet es hier den Verdacht des Landesverrats als gravierender und sieht die Durchsuchung und Beschlagnahme als angemessenes Mittel an, dem Verdacht nachzugehen. Bei der Abwägung zwischen Freiheit vs. Ordnung kam hier dem Bestand des Staates das höhere Gewicht zu (BVerfGE 20, 162).

Auf die „Cicero-Affäre“ 2007, bei der es wegen eines politischen Artikels ebenfalls zu Durchsuchungen und Beschlagnahmen von Redaktionsräumen kam, die vom Bundesverfassungsgericht hingegen als unrechtmäßig gewertet wurden, kann hier nur hingewiesen werden (siehe BVerfGE 117, 244).

Mephisto

Klaus Manns zuerst 1936 in Amsterdam erschienene Roman beschreibt den Aufstieg des Bühnenkünstlers Hendrik Höfgen im „Dritten Reich“. Zwar hatte Mann erklärt, „Alle Personen dieses Buches stellen Typen dar, nicht Portäts“, doch die Charakteristika ließen den Schluss zu, dass mit Höfgen sein ehemaliger Schwager Gustaf Gründgens gemeint war. Als die Nymphenburger Verlagsanstalt 1963 nach Gründgens Tod eine Neuauflage ankündigte, klagte sein Adoptivsohn auf Unterlassung, da die Persönlichkeitsrechte seines Stiefvaters posthum verletzt würden. Der Fall ging durch alle Instanzen: Das Landgericht Hamburg wies die Klage ab, das Oberlandesgericht Hamburg verbot 1966 die Publikation. Der Bundesgerichtshof bestätigte 1968 das Verbot; die Verfassungsbeschwerde des Verlags wurde 1971 abgewiesen.

Damit betrifft Klaus Manns Roman das neben „Esra“ einzige höchstinstanzliche Literaturverbot aufgrund von Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Trotz des formal noch bestehenden Verbotes veröffentlichte der Rowohlt Verlag 1981 eine Neuauflage des „Mephisto“, als die Verfilmung von István Szabó mit Klaus-Maria Brandauer in die Kinos kam (BVerfGE 30, 173).

Tanz der Teufel

Kurz nach Veröffentlichung auf dem deutschen Markt beschlagnahmte das Amtsgericht München 1984 diesen Horrorfilm von Sam Raimi sowohl auf Video als auch als Kinofilm. Der Verleih VCL/Kinowelt legte dagegen Widerspruch ein. Der Rechtsstreit dauert fast zehn Jahre und ging bis zum höchsten Gericht. 1993 urteilte das BVerfG: „Das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG läßt es nicht zu, den Begriff „Mensch“ in § 131 Abs. 1 StGB dahin auszulegen, daß er auch menschenähnliche Wesen umfaßt.“ Nachdem ca. 40 Sekunden aus dem Film herausgeschnitten worden waren, wurde das Verbot aufgehoben. § 131 StGB („Gewaltverherrlichung“) wurde übrigens nach dem Verfassungsgerichtsurteil dahingehend geändert, dass fürderhin auch Gewaltverherrlichung gegenüber menschenähnlichen Wesen strafbar sein können (BVerfGE 87, 209).

Josefine Mutzenbacher

Der um 1900 anonym (vermutlich vom „Bambi“-Autor Felix Salten) verfasste Roman um eine anfangs als minderjährig dargestellte Wiener Prostituierte erregte nicht nur die Leserschaft dieser zunächst als Privatdruck veröffentlichten Abenteuer, sondern schrieb auch Rechtsgeschichte. Das Buch wurde 1968 indiziert und war Gegenstand zahlreicher Beschlagnahmen und Prozesse, z.B. durch das Landgericht München 1971. Als der Rowohlt-Verlag eine offizielle Publikation wagte, ging er durch alle Instanzen und versuchte erfolglos, die neuerliche Indizierungsentscheidung der Bundesprüfstelle 1982 anzufechten. Schließlich legte der Verlag Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein.

Dieses hob 1990 die Entscheidung der Bundesprüfstelle mit der Begründung auf, es fehle eine Abwägung mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit, denn „ein pornographischer Roman kann Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sein“ (BVerfGE 83, 130ff.). Nachdem die Bundesprüfstelle diese Abwägung in einem neuerlichen Verfahren durchgeführt und das Buch erneut in die Liste der jugendgefährdenden Schriften eingetragen hatte, endete ein zweiter Prozess gegen diese Entscheidung vor dem Oberverwaltungsgericht Münster, das in seinem Urteil keinen Zweifel daran ließ, dass es sich bei dem Werk um Kinderpornografie handele und die von der Bundesprüfstelle vorgenommene Abwägung mit der Kunstfreiheit nicht zu beanstanden sei. Die Revision gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts wurde vom Bundesverwaltungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen. So befindet sich die gut hundertjährige „Wiener Dirne“ bis heute auf dem Index der jugendgefährdenden Medien.

Benetton

Die betont provokanten Werbekampagnen der italienischen Bekleidungsfirma Benetton und seines Fotografen Oliviero Toscani waren vor allem in den 1990er Jahren Gegenstand von kontroversen Debatten um die Grenzen von Tabus und Kunstfreiheit. Während die Werbetreibenden in den Schockfotos eine kritische Hinterfragung herkömmlicher Vermarktungsstrategien sahen, riefen Bilder z.B. von Neugeborenen mit Nabelschnur, Aidskranken oder blutverschmierten Kampfanzügen Proteste und Skandale hervor.

1995 wurden einige Plakate vom Bundesgerichtshof verboten, da es sich u.a. bei dem Motiv „H.I.V. Positive“ um Schockwerbung handele, die gegen die Menschenwürde verstoße. Dieses Urteil wurde vom BVerfG aufgehoben, da es die Tragweite der Meinungsfreiheit verkenne (BVerfGE 102, 347).

„Soldaten sind Mörder“

Zu einer Kontroverse um Meinungsfreiheit und Ehrenschutz führte die Verwendung des Kurt-Tucholsky-Zitates „Soldaten sind Mörder“ Mitte der 1980er Jahre. Es gab mehrere Anklagen und Verurteilungen wegen Volksverhetzung und Beleidigung. 1988 beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft in Schleswig-Holstein Werbeplakate, die den gleichnamigen Titel des Buches von Gerhard Zwerenz zeigte. 1991 wurde ein Sozialarbeiter verurteilt, der einen Aufkleber mit dem Zitat bei einer Antikriegsdemonstration gegen den Golfkrieg trug. Der Prozess ging vom Amtsgericht Krefeld bis hin zum Bundesverfassungsgericht, das 1995 im Wesentlichen die Praxis der Freisprüche bestätigte und den Fall an das AG Krefeld zurückverwies. Erst im Juli 1996 bestätigte das Oberlandesgericht Düsseldorf den Freispruch. Dabei war Tucholsky selbst, der diese Äußerung 1931 in der „Weltbühne“ in einem Text über die Feldgendarmerie im Ersten Weltkrieg veröffentlicht hatte, damals vom Vorwurf der Beleidigung der Reichswehr freigesprochen worden (BVerfGE 93, 266).

Caroline von Monaco

Zwar hat jeder Mensch das „Recht am eigenen Bild“, Prominente müssen aber als „absolute Personen der Zeitgeschichte“ mehr hinnehmen, was die Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte in der Presse anbetrifft. Doch auch sie brauchen gerade von den Paparazzi der Boulevardmedien nicht alles gefallen zu lassen.

Seit Anfang der 1990er Jahre versuchen Prinzessin Caroline und ihre Anwälte zu klären, wo die Grenze zwischen berechtigtem öffentlichen Interesse an der Berichterstattung und dem Schutz der Privat- oder gar Intimsphäre verläuft. Matthias Prinz, Anwalt der monegassischen Prinzessin Caroline, strengte mehrere Prozesse an, bei denen sie z.B. vom Burda Verlag 1996 über 180.000 DM Schmerzensgeld zugesprochen bekamen, da die „Bunte“ 1992 eine fingierte Titelgeschichte mit einem Artikel auf der Basis einen falschen Interviews gedruckt hatte. Der BGH hielt in einem anderen Prozess die Veröffentlichung von Schnappschüssen für gerechtfertigt, wenn sie nicht heimlich aufgenommen wurden, wogegen Caroline Verfassungsbeschwerde einlegte.

Vor allem der Unfalltod von Lady Diana 1997 entfachte die Diskussion um die die journalistische Ethik neu. 1999 erging das Caroline-von-Monaco-Urteil II vom Bundesverfassungsgericht. Der BGH hätte zwar nicht hinreichend berücksichtigt, dass die abgebildeten Kinder einen besonderen Schutz genießen, und verwies in diesem Punkt das Urteil zurück an den BGH. Ansonsten bestätigte es aber die Rechtmäßigkeit von Fotos Prominenter in alltäglichen Situationen. Dagegen legte Caroline Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein, der 2004 entschied, dass durch die Veröffentlichung der Bilder das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8. der Europäischen Menschenrechtskonvention) verletzt worden sei. Vor allem die Boulevardmedien kritisierten diese Entscheidung (BVerfGE 101, 361).

Eine einzige Tablette. Bild: ARD

Contergan – Nur eine einzige Tablette

Der zweiteilige Fernsehfilm sollte im Herbst 2006 in der ARD ausgestrahlt werden. Das verhinderte zunächst das Unternehmen Grünenthal, welche das Schlafmittel seinerzeit vertrieben hatte, per einstweiliger Verfügung vom Landgericht Hamburg (Persönlichkeitsrechte verletzen Dokudrama).

Am 15. Mai 2007 hob das Landgericht Hamburg die letzten einstweiligen Verfügungen des Pharma-Unternehmens gegen den WDR und die Produktionsfirma Zeitsprung auf. Wegen einer geplanten Aufführung des Films auf dem Filmfest München wurden von den Klägern Eilanträge beim BVerfG gegen den Film gestellt. In einer am 5. September 2007 veröffentlichten Eilentscheidung wiesen die Bundesverfassungsrichter die Klagen des Contergan-Herstellers Grünenthal sowie eines Anwalts ab. In einem Beschluss vom 29. August 2007 wies das Bundesverfassungsgericht auch den Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung gegen den Film zurück.

Es stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheit der Rundfunkanstalt zur Gestaltung und Verbreitung ihres Programms dar, wenn sie durch Erlass einer Eilanordnung an der Erstausstrahlung eines Spielfilms zu einem nach Gesichtspunkten der tagesaktuellen Bedeutsamkeit gewählten Zeitpunkt und in einem nach medienspezifischen Gesichtspunkten gewählten Kontext gehindert wird. [...] Die Abwägung der aufgezeigten Folgen ergibt nicht, dass die den Beschwerdeführern bei der Verweigerung einer Eilentscheidung drohenden Nachteile schwerer wögen als die mit ihrem Erlass verbundenen Beeinträchtigungen der Belange der Rundfunkanstalt und des Informationsinteresses der Öffentlichkeit.

BVerfG: Pressemitteilung vom 5. September 2007

Im Hauptsacheverfahren am 25. Januar 2008 hat sich das Landgericht Hamburg erneut mit dem Fall befasst und in der Urteilsverkündung am 18. April 2008 die vier Unterlassungsklagen abgewiesen.

Esra

Auch wenn sich reale Personen in Romanen verunglimpft sehen, kann es zu Unterlassungsklagen, einstweiligen Verfügungen oder Verbotsprozessen kommen.

Der rechtshistorisch bedeutendste Fall der Gegenwart betrifft Maxim Billers Roman „Esra“, der eine ganze Reihe Gerichtsverfahren nach sich zog (Das Literaturgericht). Das Münchner Landgericht ordnete im März 2003 an, dass er nicht mehr vertrieben oder beworben werden dürfe. Am 23.7.2003 hob das Oberlandesgericht München die Verfügung unter der Auflage auf, dass bis zum Hauptverfahren nur noch die "entschärfte" Fassung vertrieben werden dürfe. In der "bereinigten" Fassung fehlen auf richterliche Anordnung hin alle Wörter, die Rückschlüsse und Bezüge auf die Klägerinnen (eine Mutter und ihre Tochter, die sich in den Romanfiguren wiedererkannten) zulassen könnten.

Das Flickwerk aus geweißten Leer-Stellen gehörte zu den seltsamsten Neuerscheinungen des Bücherherbstes 2003. Laut Oberlandesgericht München im April 2004 blieben beide Fassungen verboten. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil am 21.6.2005, und letztinstanzlich auch das Bundesverfassungsgericht 2007 das Verbot.

Die Kunstfreiheit unterlag den Persönlichkeitsrechten und der Intimsphäre der Klägerinnen (BVerfGE 119, 1).

Das Bundesverfassungsgericht als Bollwerk gegen die Aushöhlung der Grundrechte

Die demokratierelevante Funktion des Grundgesetzes mit seinem umfassenden Grundrechtekatalog gilt zurecht als einer der wichtigsten Pfeiler unserer Gesellschaft.

Der relativ offen formulierte Art. 5 birgt die Chance, dass tatsächlich keine staatliche Vorzensur stattfindet, lässt allerdings nachträgliche Indizierungen und Verbote zu, denn eine völlig schrankenlose Meinungsfreiheit könnte eine Verletzung z.B. der Rechte Andersdenkender, Minderheiten oder Schwächerer bedeuten.

Obwohl laut GG eine (Vor-)Zensur nicht stattfindet, sind doch über 600 Medienobjekte vor allem wegen Gewaltverherrlichung, Pornographie oder Rechtsextremismus bundesweit beschlagnahmt/eingezogen und unterliegen somit einem strafrechtlichen Totalverbot auch für Erwachsene. Die Zahl der zivilrechtlich untersagten Medienprodukte ist nicht einmal bekannt. Zudem befinden sich über 6.000 (Zahl wurde korrigiert, d. Red.) auf dem Index der Bundesprüfstelle. Weitere kritische Punkte in der Verfassungsauslegung waren z.B. das KPD-Verbot 1956, die Notstandsgesetze, der sog. Radikalenerlass und die Berufsverbote sowie die Rasterfahndung.

Im Einzelfall wägt das Bundesverfassungsgericht die jeweiligen Grundrechte gegeneinander ab. Wie unser kurzer Überblick zeigt, entscheidet es dabei im Zweifel zumeist zugunsten der Meinungs- und Kunstfreiheit. Da sowohl der Jugendschutz wie auch die Persönlichkeitsrechte gleichrangige Grundrechte zur Meinungsfreiheit darstellen, fallen dort die Entscheidungen besonders schwer. So ist aktuell das „Esra-Urteil“, das die Verletzung der Persönlichkeitsrechte der dargestellten Romanfigur höher wertete als die Kunstfreiheit von Autor und Verlag, nicht unumstritten.

Außerhalb unseres Themenschwerpunktes der Meinungsfreiheit rufen viele Verfassungsänderungen die Sorge von Kritikern hervor. Es deutet sich ein Trend an, dass (vermeintliche) Sicherheit vor Freiheit steht. Vor allem die Aufweichung des Post-/Fernmeldegeheimnisses (Stichworte z.B. „Lauschangriff“ und „Online-Durchsuchungen“) und der Unverletzlichkeit der Wohnung zur Terrorabwehr wirken bedenklich. Dem Bundesverfassungsgericht kommt dabei die Funktion eines Bollwerks gegen die drohende weitere Aufweichung der Grundrechte zu. Inwieweit das auch noch nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon möglich sein wird, muss sich zeigen.

Roland Seim betreibt zusammen mit Daniel Bettermann das Museum für Kunst- & Pressefreiheit. Seim hat in Büchern und zahlreichen Veröffentlichungen über Zensur geschrieben. In Telepolis ist von ihm erschienen: 50 Jahre gegen "Schmutz und Schund".