9. Mai: Übertriebene Angstmacherei?

Seite 2: Der 9. Mai

Ich werde am 9. Mai vielleicht am Brandenburger Tor vorbeigehen und mir den russischen Gedenkmarsch zum sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten anschauen.

In dem Flyer, der sich an alle richtet, die die "Erinnerung an die Soldaten der Front" wertschätzen, heißt es, dass der unsterblichen Armee gedacht wird, außerdem, dass die Polizei den Zug beaufsichtigen wird. Z.s und Flaggen sind von offizieller Seite her verboten. Das steht nicht auf dem Flyer. Ich werde an S.' Cousin denken, der sich wahrscheinlich zur selben Zeit auf einer ähnlichen Parade in Moskau befinden wird. Mit Sicherheit weiß ich das allerdings nicht, weil er nicht mit mir sprechen will.

Das Einzige, was ich aus seinen, im Sekundentakt eintreffenden Telegram-Nachrichten, entnehmen konnte, als ich ihn gefragt habe, ob er Lust hat zum 9. Mai ein Gespräch mit mir zu führen, war, dass er froh ist, dass alle vom Westen "gebrainwashten" Leute Russland verlassen; so endlich würde das Land gesäubert werden.

Der Krieg sei nicht gegen die Ukraine, er sei gegen die USA. Und ich und wir im Westen würden das schon bald zu spüren bekommen, denn der Krieg habe gerade erst begonnen. Ausrufezeichen, Smiley, Smiley, Smiley.

Ich erinnere mich an den 9. Mai letzten Jahres, den S., I., N. und ich auf einer queerfeministischen Party im Mutabor verbracht haben, die als Gegenreaktion auf die Militärparade stattgefunden hat. Auf dem Rückweg nach Hause sind wir spontan an der Metrostation Park Kultury ausgestiegen und haben uns, dicht gedrängt zwischen Hunderten von Menschen, von der Krymskiy Brücke aus das Feuerwerk angesehen. Am 9. Mai 2022 werden die Türen des Mutabors geschlossen bleiben.

Vielleicht verbringe ich meinen Montagmorgen doch lieber mit einer Freundin ein paar hundert Meter weiter im Tiergarten, zwischen ein paar Kastanienbäumen und einer Rasenbewässerungsanlage. Oder auf der Gegendemonstration "Nein zum Krieg" am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park.

Später an diesem Tag werde ich in der Geflüchtetenunterkunft für unbegleitete Jugendliche arbeiten, zusammen mit den anderen Betreuer:innen werde ich Wäsche waschen, Essen kochen und Neuankömmlinge empfangen. Ich werde sie mit Zahnputzzeug, einem Handtuch, Bettzeug, Badeschlappen, Unterwäsche und Socken versorgen und sie einem Zimmer zuweisen.

Wenn sie Glück haben, kriegen sie ein Einzelzimmer, meistens teilen sie sich das Zimmer allerdings mit einer wildfremden Person. In eine weitere Liste werde ich ihren Namen eintragen, daneben die Nationalität, das Geschlecht, das Alter, welche Sprachen sie sprechen und ob die Eltern noch am Leben sind, bzw. ob die Jugendlichen Kontakt zu ihren Eltern haben. So wird das von der Behörde verlangt. Keine Info gibt die Liste darüber, wie die Jugendlichen nach Deutschland gekommen sind oder was sie bisher erlebt haben.

Am Abend werden wir einen Film einlegen. Letzte Woche wurde "Prinzessin Mononoke" geschaut und die Woche zuvor "Goodbye Lenin". Die Filme werden zufällig ausgewählt, je nach Geschmack des oder der Betreuer:in und abhängig davon, ob es den Film mit ukrainischen, arabischen oder russischen Untertiteln gibt. Die Filmabende haben wir als Gegengewicht zum reingeschmuggelten Alkohol und selbstorganisierten Parties geschaffen. Was sollen die Jugendlichen auch sonst den ganzen Tag machen ohne Alltag, Schule und Hobbies?

Nicht nur einmal ist es in den letzten Wochen dabei zu Prügeleien gekommen. Seitdem werden Küchenmesser von uns Betreuer:innen vorsichtshalber im Büro verwahrt. Und noch später an diesem Tag werde mich mit einem Budweiser an die Spree setzen und S. anrufen, um mit ihm zu besprechen, ob ich ihn in Izmir besuche oder er nach Moskau weiterreisen wird.