Abhauen können Sie woanders

Der deutsche Strafvollzug und das Internet

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Die Vermittlung von EDV-Kenntnissen hat in vielen deutschen Gefängnissen ihren festen Platz. Der Zugang zum Internet ist Strafgefangenen allerdings aus Sicherheitsgründen untersagt. Wie weit Häftlinge die neuen Kommunikationstechnologien nutzen können, ist vor allem abhängig von der Aufgeschlossenheit des einzelnen JVA-Leiters. Die Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel leistet hier Pionierarbeit.

Andere Länder andere Sitten. Während in Dubai verurteilte Wirtschaftskriminelle seit 1998 das Recht haben, ihre Zelle mit modernster Bürotechnologie auszustatten, um ihre Geschäfte möglichst ungehindert fortführen zu können, gehört solcher Komfort für deutsche Häftlinge ins Reich von Tausendundeiner Nacht. Computer und Internet sind in unserer Gesellschaft längst unverzichtbare Instrumentarien geworden, ihre Nutzung ist für Strafgefangene trotzdem keine Selbstverständlichkeit. Zwar hat auch der Strafvollzug erkannt, dass Medienkompetenz eine wichtige berufliche Qualifikation darstellt, aber der Vollzug ist grundsätzlich Ländersache und in welchem Maß ein Häftling Zugang zu den neuen Technologien erhält, hängt leider auch ein Stück weit davon ab, in welchem Bundesland er einsitzt. Hier gibt es ein deutliches Nord-Süd-Gefälle: Während es beispielsweise in Brandenburg zwar nicht usus, aber doch nicht ausgeschlossen ist, dass insbesondere Langzeithäftlingen unter bestimmten Bedingungen (Einzelzelle, Nutzung ausschließlich zu Bildungszwecken) ein PC zur Verfügung gestellt wird, ist dies in Bayern noch unvorstellbar.

Telelernen im Strafvollzug

Etabliert hat sich hingegen bundesweit die Vermittlung von Kenntnissen der gängigen Textverarbeitungs- und Tabellenprogramme sowie der Einsatz von PC und Lernsoftware zu Aus- und Weiterbildungszwecken. Die meisten deutschen Gefängnisse verfügen bereits über Computerkabinette. Auch hier scheint der Norden vorn zu liegen: Bremen, Niedersachsen und Brandenburg haben sich 1998 zum Programm TELiS, Telelernen im Strafvollzug, zusammengeschlossen. Im Rahmen dieses Programms wurden nicht nur mehrere JVAs mit PCs und Lernsoftware ausgestattet, es wurde auch eine auf die Bedürfnisse der Häftlinge zugeschnittene Software entwickelt, die jetzt bundesweit vertrieben wird. Im Rahmen des EU-Programms "Equal" hofft man, diese Arbeit ab Herbst fortsetzen und ausbauen zu können. Das Projekt wird dann "EliS" heißen und das Ziel haben, auch die restlichen Gefängnisse mit modernen Computern auszurüsten. Im Vorfeld werden in Brandenburg bereits die JVA-Lehrkräfte an PC und Internet geschult. Auf einem Bildungsserver können die Lehrer untereinander kommunizieren und Lehrinhalte ablegen.

In Niedersachsen und Bremen sammelt man bereits Erfahrungen mit dem virtuellen Klassenzimmer als Unterrichtsform. Dabei werden Arbeitsgruppen aus mehreren JVAs in einer Art Konferenzschaltung mit einem Tutor verbunden. Die Vernetzung von Haftanstalten bietet dem Vollzug eine ideale Möglichkeit, ein Grundproblem bei der Planung von Schulungsmaßnahmen, nämlich das völlig unterschiedliche Bildungsniveau der Insassen, zu lösen: Fortbildungen lassen sich damit immer dann durchführen, wenn es für den einzelnen Häftling sinnvoll ist und nicht erst dann, wenn in der einzelnen JVA endlich eine Arbeitsgruppe zustande kommt.

Da Computer teuer sind und im Rahmen von EU-Projekten nur geleast werden dürfen, will Brandenburg auch eine Projekt Computerrecycling initiieren. Gebrauchte PCs sollen dann in den Haftanstalten zusammen mit einem Maßnahmenträger aufgerüstet und von der Anstalt günstig erworben werden.

Im Rahmen der in Brandenburg durchgeführten Bildungsmaßnahmen haben die Häftlinge sogar die Möglichkeit, das Medium Internet kennen zu lernen, allerdings nicht online, sondern anhand von gespiegelten Seiten. Innerhalb des EliS-Projekts ist auch hier ein Vorstoß geplant: Experten sollen prüfen, welche technischen Vorrichtungen nötig sind, um Häftlingen einen eingeschränkten Zugang zum Internet zu ermöglichen - natürlich immer nur zu Bildungszwecken.

"Abhauen können Sie woanders" - deutsche JVAs entdecken das Internet für Werbung

Wenn das Internet den Häftlingen auch weitgehend versperrt ist, so haben doch die Vollzugsanstalten seine Nützlichkeit zu Werbezwecken entdeckt. Mit dem Motto "Abhauen können Sie woanders" stellt sich beispielsweise die JVA Celle als moderner Produktions- und Dienstleistungsbetrieb vor. Die bayrischen Haftanstalten bieten sich als "Partner der Industrie und des Handwerks", ihre Produktionsmöglichkeiten als Alternative zur Produktionsverlagerung ins Ausland an). (Eine Info-CD dazu ist beim bayrischen Justizministerium erhältlich!) Bei Arbeitslöhnen von derzeit zirka 2,50 DM pro Stunde ein echtes Schnäppchen! Niedersachsen, das Land des "chancenorientierten Vollzugs", ist Ende Januar mit einem JVA-Shop online gegangen. Hier präsentieren sich die 23 niedersächsischen Haftanstalten mit ihren spezifischen Produkten, Produktionsmöglichkeiten und Dienstleistungen. Im Angebot: Eine breite Palette - vom Schaukelpferd bis zum Gartengrill, vom Partyservice aus der Anstaltsküche bis zu Sortier- und Verpackungsarbeiten oder der Montage von Elektroartikeln und Gebrauchsgegenständen. Ein komplettes Möbelprogramm soll in Kürze folgen.

Mit dem Internet in Haftanstalten neue und insbesondere moderne Arbeitsplätze zu schaffen, daran wagt man selbst im aufgeschlossenen Brandenburg nur ganz vorsichtig zu denken. Doch bei genauer Betrachtung der Produktionsmöglichkeiten, die die JVAs im Internet so preisen, stellt sich doch die Frage, ob diese noch zeitgemäß sind. Ob Berufsbilder wie Schreiner und Schlosser am Übergang zur Informationsgesellschaft noch taugen, oder ob darin vielleicht auch ein Grund für die unzureichende Auslastung der deutschen Haftanstalten mit Aufträgen zu suchen ist. Dabei gibt es in anderen Ländern schon Ergebnisse: Die USA beispielsweise erzielen bei weiblichen Strafgefangenen sehr gute Erfolge mit der Einrichtung von Call Centern.

Planet-Tegel: das Internet-Projekt der JVA Tegel

Die Öffnung des Strafvollzugs hin auf die neuen Technologien liegt weitgehend in den Händen des einzelnen JVA-Leiters. Trotz der massiven Vorbehalte, die es hierzulande zu diesem Thema gibt, hat sich der Berliner Anstaltsleiter Klaus Lange-Lehngut getraut, und so konnte ein weltweit recht einzigartiges Projekt gedeihen: das Internet-Projekt der JVA Tegel. Seit gut drei Jahren haben dort 15 Häftlinge die Möglichkeit, eine eigene Homepage zu gestalten und per E-Mail zu kommunizieren.

1998 ging der Planet-Tegel online, im vergangenen Dezember wurde der Trabant-Tegel ins Netz gestellt. Die Häftlingsgruppe verfügt derzeit über zwei PCs, die zweimal die Woche für jeweils drei Stunden zugänglich sind. Einer der Rechner ist mit der für die Gestaltung der Homepage nötigen Software ausgestattet. Aus Sicherheitsgründen dürfen hier Installationsänderungen nur durch die Anstalt und nicht durch die externen Projektbetreuer vorgenommen werden. Der zweite Rechner dient ausschließlich der E-Mail-Korrespondenz. Aus Sicherheitsgründen erfolgt der Zugang zum Internet über ein Modem, das getrennt vom Rechner in einem Safe verwahrt wird. Die Häftlinge dürfen unzensiert mit der Außenwelt kommunizieren, ihre Mails müssen sich allerdings immer auf das Projekt beziehen. Einen Missbrauch dieser Vorschrift hat es bislang nicht gegeben.

Die geistigen Väter des Planet-Tegel, Roland Brus (bildender Künstler) und Michael Hennig (Diplom-Designer), wollten im und durch das Internet eine Plattform schaffen, um das Gefängnis öffentlich zu machen, um "Stimmen und Biographien hörbar zu machen, die weggeschlossen sind". Es ging ihnen um eine "Archäologie des Alltags" im Gefängnis, darum, das Regelwerk der Abläufe des Anstaltslebens sichtbar zu machen sowie auch die Sprach- und Zeichencodes der Häftlinge. Der Trabant-Tegel ist eine Weiterentwicklung des Planet-Tegel, der Blick soll jetzt stärker nach außen gerichtet und das Medium Internet stärker reflektiert werden.

Jörg Heger ist der EDV-Spezialist unter den freien Mitarbeitern des Tegel-Projekts. Ihm ist das Surf-Verbot der Häftlinge seit langem ein Dorn im Auge. Er möchte noch in diesem Jahr erreichen, dass das Tegel-Team online gehen darf. Um dem Sicherheitsaspekt Rechnung zu tragen, soll dafür der Rechner so konfiguriert werden, dass mittels einer Positivliste wenigstens eine beschränkte Zahl von Servern für das Surfen freigeschaltet wird. Eine Herangehensweise, die womöglich Schule machen könnte.

Hegers Vision reicht aber noch weiter. Ihm liegt daran, dass die Häftlinge intensiver am Computer ausgebildet werden. Einmal damit sie sich besser für die Zeit nach der Entlassung qualifizieren können, aber auch um neue Arbeitsplätze für die Anstalt zu schaffen. Ein Einstieg könnte seiner Meinung nach der "europäische Computerführerschein" (European Computer Driving Licence, ECDL sein. Eine Grundqualifizierung, mit der es möglich wäre, eine Dienstleistung wie die Datenerfassung für Bibliotheken anzubieten. Später könnten weitere Ausbildungen folgen. Etwa die Schulung zum Software-Entwickler für einfache Web-Seiten.

Für die Umsetzung solcher Pläne ist ein Großgefängnis wie die JVA Tegel mit fast 1800 Häftlingen ein idealer Ort. Denn laut Heger könnte ein solches Vorhaben in vielen kleineren Anstalten allein daran scheitern, dass es nicht genügend geeignete Teilnehmer gibt, die die Grundvoraussetzungen für solche Fortbildungen mitbringen: das sind gute Kenntnisse der deutschen Sprache und wenigstens ein Hauptschulabschluss. Derzeit fehlt es auch noch an einer tragfähigen Finanzierung für ein solches Projekt. Die Förderung durch das Arbeitsamt ist schwierig, da viele Sträflinge die Bedingungen des Arbeitsförderungsgesetzes nicht erfüllen. Eine Entscheidung der Anstaltsleitung zu diesen Plänen gibt es ebenfalls noch nicht.

Mehr Sicherheit durch Verbesserung der Sicherheitsstandards?

Gefängnis und Internet stehen einander diametral entgegen: maximale Kontrolle und Unfreiheit einerseits, grenzenlose Freiheit auf der anderen Seite. Strafgefangene im Internet ist von daher ein heikles Thema. Die zuständigen Institutionen halten sich bei Nachfragen lieber bedeckt. Man brüstet sich nicht gern mit guter PC-Ausstattung, um das Pauschalvorurteil vom Luxus-Knast nicht zu nähren und den allgegenwärtigen sozialen Neid zu schüren. Nach einem breiten Konsens der Bevölkerung muss im Gefängnis immer noch zu allererst gestraft werden.

Außerdem sind die Sicherheitsängste massiv: unkontrollierbare Kommunikation zur Planung unerlaubter Geschäfte, Hacken, Logos von Institutionen herunterzuladen und missbräuchlich zu verwenden etc. Das Justizminsterium von Nordrhein-Westfalen bescheidet auf Anfrage, dass es gerade aus Sicherheitsgründen die "maßgeblichen Sicherheitsgesichtspunkte" für das Internet-Verbot nicht mitzuteilen vermag!

Das seit 1977 gültige deutsche Strafvollzugsgesetz hat das Vollzugsziel der Resozialisierung ausdrücklich als gleichrangig neben den Schutz der Allgemeinheit gestellt und konsequent gefordert: Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. Eine gelungene Resozialisierung setzt aber voraus, dass ein Häftling über das nötige berufliche Know-how verfügt, um sich gesellschaftlich wieder eingliedern zu können und ein Leben "in sozialer Verantwortung ... ohne Straftaten zu führen". Solide Kenntnisse im Umgang mit der modernen Informationstechnik gehören heute zu den Basis-Qualifikationen, dies zeigt allein ein Blick auf die Stellenanzeigen. Darüber hinaus sollte man auch darüber nachdenken, ob nicht das Internet die Chance bietet, die Ausgrenzung in sämtlichen Lebensbereichen, die das Gefängnis für den Gefangenen bedeutet, abzumildern. Etwa durch einen elektronischen Arbeitsplatz. Weniger Desozialisierung bedeutet auch weniger Aufwand bei der Resozialisierung.

Man muss sich ernsthaft überlegen, was wirklich im öffentlichen Sicherheitsinteresse liegt: Mehr Sicherheitstechnik oder eine zeitgemäße Resozialisierung. Ein erfolgreiches Unterfangen wie das Internet-Projekt der JVA Tegel wird nicht etwa großzügig mit öffentlichen Mitteln finanziert, es wird überwiegend von ehrenamtlichen Mitarbeitern getragen und ist dringend auf Spenden angewiesen. Was die allgemeinen Sicherheitsbedenken betrifft hat im übrigen Innenminister Otto Schily erst kürzlich bei der Vorstellung der Kriminalitätsstatistik feststellt, dass Deutschland zu den "sichersten Ländern der Welt" gehört.

Der Strafvollzug kann sich den Möglichkeiten, die das Internet bietet auf Dauer nicht verschließen, dies gilt nicht nur für Deutschland. Wie Roland Brus vom Projekt Tegel aus eigenen Erfahrungen weiß, hat man den Handlungsbedarf europaweit erkannt. Das Tegel-Team bemüht sich, hier ein Netz zu knüpfen und das Projekt auch in anderen Ländern vorzustellen: Vor wenigen Wochen erst in Irland, in diesen Tagen steht Italien auf dem Programm. Bei der Ausgestaltung des Strafvollzugs Neues zu erproben, erfordert Mut: Jedes Scheitern ist ein gefundenes Fressen für die Medien. Das Internet-Team der JVA Tegel leistet hier Pionierarbeit.

Links zum Thema:

Häftlings-Webseite aus den Northern Territories Gefängniszeitung der JVA Santa Fu, Hamburg Ulmer Echo, Gefängniszeitung der JVA Düsseldorf Jail Voice, Gefängniszeitung der JVA Ueckermünde Lexikon zum Vollzug