"Abschottung darf keine Option sein"

Die Grünen-Politikerin Ska Keller über ihre Wut über die deutsche Flüchtlingspolitik, störende Rechtspopulisten und ihr schlechtes Gewissen im Europawahlkampf

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Anfang des Jahres wurde Ska Keller per Internet-Abstimmung zur Spitzenkandidatin der Europäischen Grünen für die Europawahl gekürt. Die 32-Jährige setzte sich überraschend gegen die Europa-Fraktionschefin Rebecca Harms durch, die hinter dem französischen Agraraktivisten José Bové lediglich auf Platz 3 landete. Keller, die in Berlin und Istanbul Islamwissenschaft, Turkologie und Judaistik studierte, war zwei Jahre Grünen-Chefin in Brandenburg, ehe sie 2009 ins Europaparlament einzog. Ihre Schwerpunktthemen sind Asyl- und Migrationspolitik sowie Handels- und Entwicklungspolitik . Das Gespräch wurde anlässlich des vierten EU-Afrika-Gipfels in Brüssel geführt.

Frau Keller, Sie sitzen seit fünf Jahren im Europarlamanent – werden Sie noch immer gelegentlich für eine Praktikantin gehalten?

Ska Keller: Glücklicherweise kommt das inzwischen nur noch selten vor, zuletzt vor ein paar Monaten.

Seit Kurzem sind Sie Spitzenkandidatin der Europäischen Grünen, weshalb brauchen die Grünen eigentlich einen Spitzenkandidaten?

Ska Keller: Das machen alle Parteien so. Hintergrund ist, dass laut Lissabon-Vertrag derjenige Spitzenkandidat, dessen Partei bei der Wahl die meisten Stimmen erhält, später auch Kommissionpräsident/in werden soll.

Also eher eine Formalie – und weniger ein Akt der Überzeugung?

Ska Keller: Wie bitte? Es geht darum, wer Gesicht und Stimme der europäischen Wahlkampagne ist!

Anders gefragt: Halten Sie es für realistisch, Kommissionspräsidentin zu werden?

Ska Keller: Leider nein (lächelt). Allerdings soll man niemals nie sagen.

Eines Ihrer Kernthemen ist die Flüchtlingspolitik. Was antworten Sie Ihren italienischen Parlamentskollegen auf deren Vorwurf, Deutschland lasse die Südländer mit den Problemen allein?

Ska Keller: Die Kollegen wissen, dass ich nicht die Sprecherin der Bundesregierung bin. Wir Grüne setzen uns seit jeher dafür ein, die Dublin-Verordnung grundlegend zu reformieren. Es ist nicht hinnehmbar, die Verantwortung für Tausende von Flüchtlingen samt deren Asylverfahren auf wenige Länder zu schieben.

Noch einmal: Müssen Sie das deutsche Vorgehen in Brüssel häufig erklären?

Ska Keller: Ach, das kommt ab und an vor, klar, aber ich sage dann meist, dass ich die deutsche Regierung weder gewählt habe, noch für deren Politik verantwortlich bin. Derlei muss als Antwort reichen. Häufig ist es andersherum: Ich werde in Deutschland in die Rolle gedrängt, die Politik die EU-Kommission zu verteidigen. Aber auch diesen Schuh ziehe ich mir nicht an, denn ich bin nicht die Kommissionsprecherin. Ich mache grüne Politik für ganz Europa – und eben nicht aus irgendwelchen nationalen Interessen heraus.

"Die jetzige Flüchtlingspolitik macht mich in der Tat wütend"

Sie haben eingangs die Dublin-Verordnung erwähnt: Was macht Sie zuversichtlich, dass die zentraleuropäischen Länder, die eine Reform zuletzt stets blockiert hatten, eine solche nach der Wahl angehen?

Ska Keller: Der Druck seitens der Öffentlichkeit ist zuletzt stark gestiegen, das macht mich durchaus optimistisch. Ich hoffe, die starken Staaten sehen endlich ein, dass sie nicht um eine Reform herumkommen. Die Menschen in Europa reagieren geschockt, wenn sie die schrecklichen Bilder hilfloser Flüchtlinge sehen; die Mehrheit der Bundesbürger hält den Ist-Zustand für einen Skandal. Die Menschen, die täglich mit Flüchtlingen zu tun haben, sagen indes schon lange, welch katastrophale Folgen das Dublin-Abkommen hat. Kurzum: Die Rufe nach Veränderung sind zuletzt extrem laut geworden, nun müssen sie endlich erhört werden.

Derartige Veränderungen dauern auf EU-Ebene bekanntlich relativ lange. Wie frustrierend ist das für Sie?

Ska Keller: Die jetzige Flüchtlingspolitik macht mich in der Tat wütend, denn es geht um Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Abschottung darf keine Option sein.

Die Europa-Skeptiker dürften bei der bevorstehenden Wahl so stark werden wie nie zuvor. Welche Folgen hätte das aus Ihrer Sicht?

Ska Keller: Sie würden das Plenum vermutlich noch stärker stören als sie es ohnehin schon tun, Stichwort Geschäftsordnungstricks. Fest steht aber auch: Diese Leute werden es nicht schaffen, das Plenum in seiner Arbeit zu blockieren oder gar handlungsunfähig zu machen. Ohnehin sehe ich eine viel größere Gefahr darin, dass sich konservative Parteien noch weiter auf die Seite der Rechtspopulisten ziehen lassen und sich deren populistische Slogans aneignen. Das wäre fatal.

Und welches Rezept haben Sie dagegen?

Ska Keller: Ich finde es wichtig, dass wir Grüne im Wahlkampf auch sagen, was wir an der EU kritisieren. Ich würde mich nicht in eine Ecke drängen lassen, nach dem Motto "Bist Du für oder gegen Europa?" Denn so einfach ist das nicht. Als Antwort auf die Slogans der Populisten allein mit dem EU-Fähnchen zu wedeln, brächte gar nichts.

Im Februar dieses Jahres wurden in Deutschland über 11 000 Asylanträge gestellt, das sind fast 70 Prozent mehr als im Vorjahresmonat - viele Behörden sind offensichtlich überlastet. Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Ska Keller: Leider wurden in einer Zeit, in der relativ wenige Flüchtlinge nach Deutschland kamen, Kapazitäten abgebaut. Diese Fehlpolitik fällt uns jetzt, in einer Zeit, in der wir es mit vielen Brandherden zu tun haben, auf die Füße. Unheimlich viele Menschen brauchen unsere Hilfe. Und was sagen wir denjenigen, die einen Asylantrag stellen? "Sorry, wir haben hier so viel zu tun, du musst dich erst mal ein paar Jahre gedulden." Das ist ein Armutszeugnis. Die deutsche Politik hätte sich darauf einstellen müssen, denn all diese Entwicklungen waren absehbar. Die Menschen kommen ja nicht aus dem Nichts, nein, die Krisenherde an den Grenzen Europas sind uns lange bekannt. Wer drastisch Kapazitäten abbaut und sich dann wundert, wenn die Behörden irgendwann überfordert sind, handelt nicht nur naiv, sondern fahrlässig.

Mit anderen Worten: Aus Ihrer Sicht müsste zunächst deutlich mehr Geld investiert werden?

Ska Keller: Wir müssen ein besseres Verfahren auf den Weg bringen – und damit meine ich nicht nur die Geschwindigkeit. Es kann nicht sein, dass Menschen viele Jahre auf die Bewilligung ihres Antrages warten müssen. Auch bei der Unterbringung der Flüchtlinge ist enorm viel zu tun. Zudem muss die Residenzpflicht dringend weg, die gibt es auch nur in Deutschland.

Viele Kommunen beklagen sich über die immensen Kosten und fühlen sich vom Bund im Stich gelassen - Ihre Meinung dazu?

Ska Keller: Ja, das ist ein generelles Problem. Die Kommunen sind insgesamt finanziell schlecht ausgestattet, für die Aufgaben, die sie leisten müssen und wollen, fehlt es an allen Ecken und Enden. Ich nehme dieses Strukturproblem sehr ernst.

Was heißt das konkret?

Ska Keller: Ich würde mir eine generelle Reform wünschen, eine Reform, die zum Ziel hat, die Kommunen zu stärken.

"In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren hat sich fast nichts geändert - es gibt noch immer dieselben Probleme"

Sie sagen, wir bräuchten ein Europa, das den Menschen Schutz bietet und sie aufnimmt. Frau Keller, wie sähe ein faires Verteilungssystem für Asylsuchende aus?

Ska Keller: Fakt ist: Flucht ist immer eine erzwungene Migration – niemand flieht freiwillig. Zehntausend aus Syrien, für deren Aufnahme man sich bereit erklärt hat? Das ist eine lächerliche Zahl! Da ist noch viel Luft nach oben.

Wie viele Flüchtlinge sollte Deutschland denn Ihrer Ansicht nach aufnehmen?

Ska Keller: Es ist extrem schwierig, in der Flüchtlingsdebatte mit Zahlen zu argumentieren, denn welchen Betroffenen will man sagen: "Entschuldigung, du musst jetzt in Syrien bleiben, du bist nämlich einer zu viel." Das funktioniert nicht. Wir brauchen mehr Flexibilität. Flüchtlinge sollten beispielsweise in jenem Land Asyl beantragen können, in dem sich ihre Familienangehörigen aufhalten und dessen Sprache sie sprechen. Das starre Festhalten an irgendwelchen Quoten würde dem Einzelfall nicht gerecht. Auch deshalb arbeiten wir daran, die Solidarität unter den Mitgliedsstaaten weiter zu erhöhen.

Wann haben Sie eigentlich zuletzt mit einem Flüchtling gesprochen?

Ska Keller: (Überlegt) In Nienburg, Anfang März. Ich habe an einer Podiumsdiskussion teilgenommen. Auch Flüchtlingsunterkünfte kenne ich nicht nur aus den Medien. Denn wer über Flüchtlingspolitik redet, sollte auch vor Ort genau hinschauen.

Haben Sie dadurch einen neuen Blick auf das Thema gewonnen?

Ska Keller: Ich bin schon seit vielen Jahren mit Flüchtlingen und Migranten im Gespräch, die Debatten sind mir deshalb sehr vertraut. Es ist erstaunlich zu sehen, dass sich in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren fast nichts geändert hat - es gibt noch immer dieselben Probleme.

Was sagen Sie jenen Leuten, die behaupten, die wenigsten Fachpolitiker würden sich regelmäßig mit Betroffenen unterhalten?

Ska Keller: Ich kann nur für die Grünen sprechen: Diejenigen, die Flüchtlingspolitik machen, suchen seit jeher den direkten Kontakt zu den jeweiligen Gruppen. Ob das die anderen Parteien auch derart offen praktizieren, weiß ich nicht. Übrigens: Bei der besagten Veranstaltung waren auch mehrere Landtags- und eine Bundestagsabgeordnete dabei. Es ist also keine Floskel, wenn man sagt: Wir Grüne suchen auf allen Ebenen den direkten Dialog.

Abschlussfrage, Frau Keller: Sie listen auf Ihrer Internetseite all Ihre Flüge auf, inklusive CO2-Ausstoß – welche Botschaft wollen Sie dem Wähler damit vermitteln ?

Ska Keller: Ganz einfach: Dass wir Grüne nicht Wasser predigen und Wein trinken. Derjenige, der über Klimaschutz redet, sollte auch mit einem guten Beispiel voran gehen. Jeder Wähler sollte all das nachvollziehen können.

Sie werden in Zukunft häufiger fliegen....

Ska Keller: Im europäischen Wahlkampf schon, das stimmt.

Haben Sie schon jetzt ein schlechtes Gewissen?

Ska Keller: Ein wenig schon, ja. Leider geht es nicht anders. Immerhin eines kann ich versichern: Ich überlege mir vorab genau, ob der jeweilige Flug wirklich nötig ist. In den meisten Fällen nehme ich nämlich den Zug. Für einen Termin in Spanien zwei Tage unterwegs zu sein, ist zurzeit allerdings keine machbare Option. Dafür hoffe ich auf Verständnis.