Ärzte brauchen gute Augen

Die steile Karriere des Fotohandys in der Röntgenmedizin

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Wozu braucht ein Handy eine Kamera? Wozu braucht ein Fisch ein Fahrrad oder ein Auto eine Waschmaschine? Trotzdem gibt es fast kein Handy mehr ohne Kamera. Nun endlich haben Marketingfachleute eine wirklich sinnvolle Anwendung von Kamerahandys entdeckt. Meint zumindest ein Netzbetreiber.

Warum wurden wohl die ersten Kameras in Handys eingebaut? Wirklich logisch ist diese Kombination nicht, denn bei bestimmungsgemäßer Anwendung eines Mobiltelefons dürfte maximal ein Ohr in Großaufnahme im Bildspeicher landen und bei bestimmungsgemäßer Anwendung der Kamera ist es wiederum sehr schwierig, noch ein Wort zu verstehen.

Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann wird eben ein Hügelchenbild zum Propheten geschickt (Vodafone-Flyer)

Doch die Mobilfunk-Netzbetreiber hofften darauf, dass sich die Handybenutzer nun nicht mehr nur maximal 160 Buchstaben lange Kurzmitteilungen (SMS = Short-Message-Service) sondern umfangreichere und damit teurere Multimedia-Mitteilungen (MMS = Multi-Media-Service) zusenden würden. Und nachdem kein Mensch so lange Briefe auf einer Handytastatur verfassen würde, dachte man an das, was schon im World Wide Web für Traffic sorgt: Bilder! Und wie kommen die Bilder am besten ins Handy? Na mit einer eingebauten Kamera!

Diese Taktik ist allerdings fehlgeschlagen: Zwar wird mit den über die Telefonverträge subventionierten Kamerahandys trotz mäßiger Bildqualität (Das elektronische Foto-Tagebuch) durchaus eifrig fotografiert, denn das Handy hat man im Gegensatz zu einer richtigen Kamera halt sowieso schon dabei. Doch die Bilder werden dann zuhause aus dem Handy geholt und über normale DSL-Anschlüsse vermailt oder auf Blog-Webseiten präsentiert. Der erhoffte MMS-Umsatz blieb bei den Netzbetreibern dagegen bislang aus: Es wird immer noch gesimst und nicht gemimst.

Ausgerechnet im Krankenhaus, wo Handys normal ohnehin verboten sind – weil sie die empfindlichen medizinischen Geräte stören, sagen die einen, weil sie die Einnahmen der krankenhauseigenen Telefonanlage sabotieren, sagen die anderen – soll die Fotohandy-MMS-Spieltechnik nun plötzlich Fuß fassen, wenn man einer Broschüre von Vodafone glauben soll: Ausgerechnet die hochauflösenden Röntgenbilder, die sich erst mit DSL digital verschicken lassen, sollen nun mit verzerrenden und verwackelnden Mini-Kameras als MMS an Handys mit 320 x 240 Pixel-Displays verschickt Diagnosen mit Entscheidungen über Leben und Tod ermöglichen?

„Kollege, da hinten, dieser Pixel zeigt eindeutig einen Schatten, typisch Gehirntumor, da müssen Sie operieren“ (Bild aus Vodafone-Flyer)

Doch tatsächlich, in sechs deutschen Kliniken wurde dies bereits praktisch erprobt:

Der Assistenzarzt fotografiert mit seinem Kamerahandy die Röntgenbilder auf dem Leuchtschirm und verschickt diese Aufnahmen als MMS-Netz zum Fotohandy des diensthabenden Oberarztes. Wenige Sekunden später kann sich dieser mit einem Blick auf das Großdisplay [sic! d. Red.] seines Handys einen ersten Eindruck vom Krankheitsbild machen. Nach einem ausführlichen Telefongespräch mit dem Assistenzarzt können die Ärzte dann schnell eine Entscheidung über das weitere Vorgehen treffen. „Das Aufnehmen und Übertragen der Bilder einschließlich der telefonischen Besprechung des Befundes dauert wenige Minuten“, berichtet Professor Dr. med. Jürgen Piek, Leiter der Abteilung für Neurochirurgie der Chirurgischen Universitätsklinik Rostock. […]

Außerdem werden die Handy-Aufnahmen in den Morgenbesprechungen eingesetzt. Dafür werden die Fotos in den Mobiltelefonen abgespeichert. Bei den Besprechungen ergänzen die Ärzte ihre Schilderungen der Krankheitsbilder neuer Patienten mit den Aufnahmen der Röntgenbilder in den Handys. […]

„In 90 Prozent der Fälle reicht die Bildqualität unserer Fotohandys aus“, erläutert Professor Piek, „um dringende Entscheidungen treffen zu können“.

Aus einem Vodafone-Pressetext

Soso, die Ärzte zeigen sich in der Morgenkonferenz gegenseitig ihre Handys. Das klingt interessant. („Also dieses Hintergrundbild ist aber absolut uncool, da gibts bei Jamba besseres!“ – „Das ist nicht Jamba, das ist Auswurf!“) Da kann man nur hoffen, dass der Arzt Adleraugen hat und nach der per Handy eingeleiteten Operation keine größeren Körperteile fehlen. Wenn beim Patienten statt der gebrochenen Nase allerdings das linke Ohr eingegipst wird, könnte dies die Mobilfunkumsätze ernsthaft schwächen. Ach nein, ich vergaß ja: Die Patienten dürfen im Krankenhaus ohnehin keine Handys benutzen.

Mit UMTS hofft man nun auch wieder einmal auf das Videotelefon. Der Gedanke des Bildtelefons ist so alt wie der des Fernsehens. Doch als Bildtelefone für alle statt des persönlichen Erscheinens vor 25 Jahren in einer Redaktionskonferenz als Thema für Zukunftsvisionen vorgeschlagen wurde – acht Personen von zuhause in Konferenz auf einem Bildschirm –, beantragte ein Kollege sofort erschrocken einen schwarzen Vorhang für sein Gerät, da weder er noch sein Raum vor dem Nachmittag vorzeigbar seien und er sonst gezwungen sei, das Telefon nicht mehr zu beantworten.

Da hofft doch das ganze Büro auf eine Bademantel-Fehlfunktion… (Texas Instruments-Inserat April 2005)

Die tatsächlich von der Telekom noch im ISDN-Zeitalter herausgebrachten “T-View“-Bildtelefone erwiesen sich denn auch trotz funktionierender Technik als Ladenhüter: Die wenigsten Leute wollen sich auf Anruf vor einer Kamera räkeln – von einschlägigen Erwachsenenangeboten einmal abgesehen, bei denen die Verbindung dann aber auch etwas höherpreisiger ist und der Anrufer selbst keine Kamera haben muss.

Wieso der Flop der Festnetztelefonie nun wieder beim Handy erfolgreich sein soll („Schatz, ich komme später, ich muss Überstunden schieben…“ – „Lüg mich doch nicht so an, ich sehe doch genau, dass Du in der Kneipe sitzt!!!“), ist rätselhaft. Doch auch hier soll die Medizin wieder die Rettung bringen – ausgerechnet Bewusstlose sollen bewegte Bilder liefern:

Denkbar wäre, dass Kollegen, die sich an uns wenden, zusätzlich zu ihrem mündlichen Befund Videoaufnahmen vom Patienten, beispielsweise standardisierte klinische Untersuchungen bewusstloser Patienten, per UMTS schicken

Aus einem Vodafone-Pressetext