Ärzte handeln nicht immer rational - erfreulicherweise

Der Gesundheitsökonom Stefan Greß über Probleme im deutschen Gesundheitssystem und mit dem Nebeneinander von privaten und gesetzlichen Krankenkassen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Professor Stefan Greß über Über- und Unterversorgung im Gesundheitssystem, ein Vergütungssystem, das falsche finanzielle Anreize setzt, und unser europaweit einmaliges Nebeneinander von privaten und gesetzlichen Krankenkassen. Greß vertritt das Fachgebiet Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie im Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda.

Das Gesundheitssystem aus Sicht des gesetzlich Versicherten: Er muss lange warten auf den Facharzt. Er bekommt gesundheitliche Dienstleistungen rationiert. Er muss eventuell in Vorkasse treten oder wird von seinem Arzt abgewiesen. Habe ich irgendeinen Missstand vergessen?

Stefan Greß: Na ja, auch der Zugang zum Hausarzt ist für den gesetzlich Versicherten mitunter schwierig. Das gilt nicht nur auf dem Land, wo ja auch die privat Versicherten unter einer geringen Hausarztdichte leiden. Ich habe einige Kollegen, die gesetzlich versichert sind und in der Großstadt wohnen. Auch die warten lange auf einen Termin beim Hausarzt. Die Bundesärztekammer hält das für ein reines Komfortproblem. Aber aufgeschobene Behandlungen bedeuten Unterversorgung und verschlimmern Erkrankungen.

Das Gesundheitssystem aus Sicht des Privatpatienten: Er wird bevorzugt behandelt. Warum eigentlich genau?

Stefan Greß: Das liegt eindeutig am Vergütungssystem. Für gesetzlich Versicherte kriegt der Arzt eine Pauschale. Wenn der Patient mehr als einmal im Quartal den Hausarzt aufsucht, wird es eigentlich unwirtschaftlich für den Arzt. Auch gibt es klare Obergrenzen beispielsweise für Medikamenten-Kosten. Bei Privatpatienten kriegt der Arzt jeden Besuch und jede Maßnahme einzeln vergütet.

Das ist ein klarer finanzieller Anreiz.

Stefan Greß: Ja, Ärzte handeln aus rein ökonomischer Sicht nicht rational, wenn sie private und gesetzliche Patienten gleich behandeln. Erfreulicherweise bestimmen noch andere als wirtschaftliche Faktoren das Handeln des Arztes.

Die vermeintlich privilegierten Privatversicherten leiden unter einer „Überdosis Medizin“, klagte unlängst die Süddeutsche Zeitung. Kriegt also der eine Teil der Patienten zu wenig, der andere Teil zu viele des Guten?

Stefan Greß: Zugespitzt kann man das sicher so sagen. Unnötige Röntgenbilder und Behandlungen? Natürlich passiert das. Die private Krankenkasse zahlt schließlich fast alles, notfalls bezahlt der Patient halt selbst. Schwierig wird es, wenn ein Patient durch unnötige Behandlungen Schaden erleiden kann oder Risiken und Nebenwirkungen ausgesetzt wird. Das macht kein Arzt. Das Vergütungssystem führt gleichzeitig zu Unter-, Fehl- und Überversorgung.

Die privaten Krankenkassen picken sich die Rosinen heraus, sind aber nicht effizienter

Das Prinzip der gesetzlichen Krankenkassen lautet: Die Gesunden subventionieren die Kranken, die Einkommensstarken die Einkommensschwachen. Wird dieses System von der privaten Konkurrenz nicht torpediert?

Stefan Greß: Es findet eine Auslese statt: Die Gesetzlichen versichern Menschen, die im Durchschnitt schlechter verdienen und kränker sind. Das ist klar empirisch belegt. Familienangehörige werden kostenlos mitversichert. Die Privaten picken sich derweil die Rosinen raus, beziehungsweise: die Rosinen kommen freiwillig. Wir nennen das die Selbstselektion der Versicherten. Ein junger Mann, gesund, gutes Einkommen, keine Familie, sprich: ein Mann mit „guten Risiken“ - für den lohnt sich der Wechsel zu den Privaten. Schließlich wird er auf Grundlage des gesundheitlichen Risikos eingestuft - das Einkommen spielt keine Rolle.

Im Gegenzug fehlt der junge Mann, um in der gesetzlichen Krankenkasse die weniger Betuchten und weniger Gesunden gegen zu finanzieren.

Stefan Greß: Nach verschiedenen Studien kostet das die Krankenkassen pro Jahr grob geschätzt fünf bis zehn Milliarden Euro, was immerhin drei bis sechs Prozent ihrer gesamten Ausgaben entspricht. Das gefährdet nicht die Existenz der gesetzlichen Krankenkassen, treibt aber den Krankenkassenbeitrag um einen halben bis ganzen Beitragssatzpunkt nach oben und erhöht so die Lohnnebenkosten. Die Finanzkrise wirft ihre Schatten voraus - der Einnahmeausfall durch die Wirtschaftskrise könnte durch einen Finanzierungsbeitrag der privat Versicherten kompensiert werden.

Sind die privaten Krankenversicherungen denn wenigstens effizienter?

Stefan Greß: Nein, überhaupt nicht! Die Ausgabensteigerung ist bei den Privaten sogar erheblich höher, besonders bei der ambulanten Behandlung.

Wie kommt‘s?

Stefan Greß: Die Privaten haben, im Gegensatz zu den Gesetzlichen, keine Möglichkeit, Verträge mit Leistungsanbietern abzuschließen. Sie haben auch weniger Verhandlungsmacht: In einem Ballungsraum versichert die vor Ort stärkste Privatkrankenkasse vielleicht drei Prozent der Bürger.

Moment: Die privaten Krankenkassen sind machtlos?

Stefan Greß: Nein, das auch nicht. Sie sind eigentlich ganz gut aufgestellt. Das sieht man beispielsweise daran, dass nur ein einziger Lobbyist in der Steuerungsgruppe der Bundesregierung saß, als die Gesundheitsreform 2007 ausgehandelt wurde. Das war der Geschäftsführer des Verbandes der privaten Krankenkassen. Die SPD hat dennoch einige Reformen durchsetzen können, die den Privaten weh tun, zum Beispiel den Basistarif, der einige Umverteilungselemente auch bei den Privaten etabliert.

Selbständige sind heute auch oft Geringverdiener

Unser duales System mit seinem Nebeneinander von privaten und gesetzlichen Vollversicherern ist inzwischen europaweit einmalig. Warum geht Deutschland einen eigenen Weg?

Stefan Greß: Das hat historische Gründe. In der Debatte wird in Deutschland unterschieden zwischen dem schutzbedürftigen Personenkreis, der der Versicherungspflicht in einer sozialen Versicherung unterliegt, und dem nicht schutzbedürftigen Personenkreis, der keine gesetzliche Versicherung benötigt, weil er seine medizinische Versorgung anders finanzieren kann. Diese Unterscheidung ist aber nicht mehr sehr trennscharf: Selbstständige sind eben nicht mehr nur Rechtsanwälte, Notare oder, tja, Ärzte. Sondern oft genug Geringverdiener.

Das Thema Krankenversicherungssystem beschäftigt uns seit Jahren. Alternativen werden angedacht und diskutiert, Stichworte: Bürgerversicherung und Kopfprämie. Warum setzt sich keine dieser Alternativen durch?

Stefan Greß: Die beiden großen Alternativen spielten im Wahlkampf 2005 noch eine erhebliche Rolle. Doch es fand sich keine klare Mehrheit für eine der beiden Optionen. Insofern setzte sich ein Kompromiss durch: Das duale System bleibt, wurde aber mit ein paar sozialeren Elementen ergänzt. Aber die Gesundheitsreform von 2007 konnte die gravierenden Probleme des dualen Systems nur teilweise lösen. Es wird aus meiner Sicht bei Kompromissen bleiben: Die Bürgerversicherung ist politisch nicht durchsetzbar, dafür fehlt die Mehrheit. Die Kopfpauschale spielt keine Rolle mehr, weil die CDU sich von diesem Modell verabschiedet hat.

Stellen wir uns vor, Sie wären für einen Tag König von Deutschland. Welches Krankenversicherungsmodell würden Sie der Republik verordnen?

Stefan Greß: Ich plädiere für ein Modell, das stärker an der Bürgerversicherung orientiert ist. Einkommensstarke sollten stärker belastet werden. Bis dahin muss wenigstens ein fairerer Wettbewerb herrschen zwischen privaten und gesetzlichen Kassen. Erste Schritte auf dem Weg dahin wären die Vereinheitlichung der Vergütungssysteme und ein Finanzierungsbeitrag der privat Versicherten.