Afghanistan: Ist bald St. Nimmerleinstag?

Das Land soll ab 2014 selbst für seine Sicherheit sorgen

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Der Grüne Tom Koenigs, vom Februar 2006 bis Ende 2007 Sonderbeauftragter der UN für die United Nations Assistance Mission in Afghanistan UNAMA, machte sich in vielen Äußerungen für den Einsatz am Hindukusch stark. Einer seiner Schlüsselsätze lautet: "Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Demokraten in Afghanistan."

Befürwortern eines raschen Abzugs hielt er entgegen, dass erst die Bedingungen dafür festgesetzt gehören und der Westen Afghanistan auf dem Weg zu einem Rechtsstaat unterstützen muss. "Das ist es, was mich bestimmt, entgegen dem Votum einer Mehrheit meiner Partei zu sagen: Wir müssen dort bleiben. Das mache ich wegen der Menschen dort, die mir sagen: 'Bitte lasst uns nicht wieder allein.' Das haben wir nämlich 1989 schon einmal gemacht, nachdem die Sowjets von dort abgezogen waren. Die Folge war, dass die Taliban die Macht übernahmen." Heute hat Koenigs gegenüber Deutschlandradio Kultur den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan als "unausweichlich" bezeichnet.

Nach dieser Konferenz spätestens werden es alle glauben, leider auch die Taliban.

"Die Welt ist an der Seite Afghanistans"

Tatsächlich wird nach Medienberichten die heutige Internationale Afganistan Konferenz in Kabul vor allem von den Themen Übergabe und Übergang beherrscht. Die US-amerikanische Außenministerin Clinton beteuert, dass man weiter helfen und unterstützen werde, desgleichen die EU-Außenbeauftragte Ashton. "Die Welt ist an der Seite Afghanistans", sagte Clinton, der geplante Anzug der US-Streitkräfte sei kein Zeichen für erlahmendes Engagement. "Wir gehen nicht weg", wird Ashton zitiert. "Wir werden Sie unterstützen."

In der Abschlusserklärung der Konferenz, die vorab formuliert wurde, heißt es, die afghanischen Sicherheitskräfte sollten bis 2014 zur Realisierung "aller militärischen Operationen in allen Provinzen" in der Lage sein.

Nato: Übergabe bis Ende 2014

Anlass für Spekulationen über die Zukunft des Landes liefern nicht nur die Abzugspläne der USA, sondern auch ein geheimes Dokument der Nato, das am Wochenende veröffentlicht wurde.

In der "Resolution", wie die britische Zeitung Independent das Papier nennt, wurde bereits das Übergabedatum 2014 genannt. Bis dahin sollen afghanische Truppen Schritt für Schritt die Verantwortung übernehmen und ausländische Truppen abziehen.

Die internationale Gemeinschaft bekräftigt ihre Unterstützung für das Ziel des afghanischen Präsidenten Karsai, wonach die Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) bis Ende 2014 militärische Operationen in allen Provinzen anführen und durchführen sollen.

Bis Ende dieses Jahres soll der Übergangsprozess in Gang gesetzt werden. 800 Millionen Dollar sollen für ein Re-Integrationsprogramm bereitgestellt werden, das "in den nächsten 5 Jahren 36.000 ehemalige Kämpfer wieder integrieren soll und 4.000 Gemeinden in 220 Distrikten erreichen". Die Anzahl der Provinzen ohne Opiumanbau soll innerhalb eines Jahres verdoppelt werden, fordert das Dokument.

Kriegsmüde

Noch ist das nur Konzept, eine Absichtsbekundung. Die Motive liegen klar auf der Hand. Der Westen ist kriegsmüde. Umfragen unter der Bevölkerung der Nato-Länder, wie jüngst in den USA, zeigen dies. Deutliche militärische Erfolge gibt es nicht. Im Gegenteil, wie ein kürzlich erschienener Bericht des Afghanistan NGO Security Office (ANSO) feststellt, werden mehr Angriffe der Taliban als im Vorjahr verzeichnet, besonders betroffen sind Entwicklungshelfer, doch auch die ansteigende Zahl der Gefallenen aus dem Lager der westlichen Verbündeten ist ein trauriger Hinweis dafür, dass der Krieg zermürbend ist.

Die militärische Oberhand haben die Taliban, heißt es öfter, als es den westlichen Kommandeuren lieb sein kann. Gleichwohl erregen Äußerungen, die verkünden, dass ein Sieg gegen die Taliban nicht in Sicht ist, keine größere Resonanz mehr. Auf einen, wenn auch nur kurzfristig deutlichen Erfolg der Kandahar-Offensive, die immer wieder aufgeschoben wird, setzt kaum einer mehr. Die COIN (Counterinsurgency)-Strategie wird nicht nur von Kritikern in den Medien grundsätzlich in Frage gestellt: "When it comes to counterinsurgency, don’t do it." Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung, die eine solche Strategie unweigerlich fordert, entzieht ihr das, was sie zum Erfolg braucht, die Unterstützung eben der Zivilbevölkerung.

Ob das irakische Konzept einer Zusammenarbeit mit lokalen Milizen, die vom Westen ausgerüstet wird, auch in Afghanistan funktioniert, ist wegen der dort noch komplexeren Mischung an fraktionierten Interessen, lokalen Gegebenheiten und der Loyalitätswechsel heikel. Zudem sieht sich die militärische Mission in Afghanistan zwei großen Fronten gegenüber, den Taliban und verbündeten Guerillagruppen in Afghanistan und die Taliban sowie verbündeten "Extremisten" in Pakistan (siehe: Pakistan cracks the whip). Alle Welt habe inzwischen gesehen, dass sich der Konflikt militärisch nicht lösen lasse, so Tom Koenigs.

Denn sowohl die Afghanen sagen, länger Krieg halten wir nicht mehr aus, als auch die internationale Gemeinschaft. Deshalb ist es ein realistisches Signal - auch wenn man das, was man wollte, nur in sehr kleinen Teilen erreicht hat in Afghanistan.

Wegmarken

So deutlich die Motive für den anvisierten Abzug der westlichen Militärkontingente sind, so vage sehen die Aussichten für die Zeit nach dem Übergang aus. Wie viel westliche Berater und Militärs werden bleiben, welchen Einfluss werden sie haben, was passiert mit den Militärbasen? Bislang verwehrt man sich zwar offiziell gegenüber Abzugsspekulationen, aber letztendlich laufen die Erklärungen der Nato und der Konferenzbericht genau darauf hinaus. Die wichtigste Frage ist: Schafft es die afghanische Armee die Kontrolle über das Land zu übernehmen? Langjährige Beobachter des Kriegsschauplatzes Afghanistan schätzen deren Fähigkeiten nicht gerade hoch ein:

The problem is that the Afghanistan National Army is 90% illiterate, poorly trained and officered, and has shown no appetite for long slogging battles against insurgent.

Juan Cole

Was wird mit den Geldströmen passieren, die nach Afghanistan fließen sollen? Werden amerikanische Steuergelder vor allem korrupte Politiker, Zwischenhändler mit Kontakten zu den Taliban, große Warlords und kleinere Dorfmilizenführer bereichern, wie dies auch afghanische Regierungsvertreter befürchten, die eine genauere Überprüfung der Geldzahlungen fordern und dass die Hälfte des Geldes direkt an die Regierung geht?

Wie wird die Wiedereingliederung der Taliban funktionieren? Dass Karsai versucht, mit ausgewählten Taliban an den Verhandlungstisch zu kommen, ist seit längerem bekannt, mittlerweile unterstützen die westlichen Verbündeten, auch die USA, seine Pläne. Nur die Taliban selbst halten sich zurück, in ihrer Gewissheit, dass sie auf der Siegerspur sind und pokern können - wenn sie wollen.

Außenminister Westerwelle bezeichnete die Konferenz pauschal als "Wegmarke auf dem Weg zur Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regierung". Im Abschlussdokument sollte denn auch das Ziel verankert werden, dass die Afghanen bis 2014 selbst für ihre Sicherheit sorgen. Andere sehen das nicht so abgehoben. Westler sollten sich darüber bewusst werden, dass der Frieden mit den Taliban, dass man sie an wieder beteiligen will, einen Kompromiss bei Menschenrechten und den Rechten der Frauen einschließt und dass dies das Land um hunderte von Jahren zurückwirft, so urteilt etwa Fouzia Kofi, eine frühere afghanische Abgeordnete. Auch Koenigs spricht aus, was Außenminister Westerwelle in seinen Lehrbuch-Referaten nicht einfällt: dass Bündnisse nicht nur mit Demokraten, sondern auch mit "Feinden der Demokratie" geschlossen werden.

Um den Krieg zu beenden, wird man sich darauf einstellen müssen, dass die unterschiedlichsten Kräfte dort letzten Endes zusammenarbeiten, mit ungewissem Ausgang.