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Akzeptieren wir einen möglichen Atomkrieg?

Eine entmilitarisierte B61-Atombombe im Pima Air & Space Museum, Tucson, Arizona. Bild: Dave Bezaire und Susi Havens-Bezaire, CC BY-SA 2.0

In den 1980er-Jahren gingen in Westdeutschland Hunderttausende gegen das nukleare Wettrüsten auf die Straße. Heute herrscht Apathie. Was ist dazwischen geschehen? Eine kommentierte Presseschau.

Es gibt Risiken, die darf kein Mensch eingehen. Der Atomkrieg, den die Nato derzeit probt [1], gehört dazu. Die FAZ titelte am 17.10-2022 "Die Nato übt Nuklearschläge". Der Text erläutert zum Nuklearkriegsmanöver "Steadfast Noon":

Wie üblich werden die Geschwader in roten angreifenden und in blauen verteidigenden Teams Luftgefechte üben und den Abwurf der Atombomben simulieren. Die Piloten müssen ein spezielles Manöver fliegen, den sogenannten Schulterwurf, um nicht selbst im Tiefflug von der Explosionswelle erfasst zu werden. Wenn 2025 die Umrüstung zu selbststeuernden Bomben abgeschlossen ist, wird das nicht mehr nötig sein.

Angesichts solcher Pläne gab es in den 1980er-Jahren große Friedensdemonstrationen, etwa unter dem Motto "Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen! [2]"

Heute sind bis weit in die einst aus der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung entstandenen Grünen viele Menschen mehr oder weniger offen für die Nuklearstrategie der Nato. Die Bündnisgrünen stimmen der Anschaffung von Tarnkappenbombern F 35 zu [3], die im sogenannten Sondervermögen nach der "Zeitenwende"-Rede von Bundeskanzler Scholz mit bis zu neun Milliarden Euro Anschaffungskosten enthalten sind [4].

Begünstigt wird diese Entwicklung flankiert von einem ständig verbreiteten Schwarz-weiß-Bild: Auf der einen Seite die Nato als gute Weltpolizei, auf der anderen Seite die Gefahr aus dem Osten. Die dafür Verantwortlichen wollen offenbar vergessen machen, mit welchen Spuren der Gewalt Staaten des Nato-Gebiets die Region zwischen dem Persischen Golf, Mittelmeer, Nordafrika und Balkan überzogen haben.

Die dominierende interessengeleitete Darstellung geht selbst mit der Gefahr eines nuklearen Infernos bis hin zu einem dritten Weltkrieg leichtfertig um, indem sie die Meldungen dazu wiederholt mit dem Ukraine-Krieg verbindet [5], so wie das Olaf Scholz schon in seiner "Zeitenwende"-Rede getan hatte.

Die Süddeutschen Zeitung (SZ) greift Joe Bidens Warnung vor dem Armageddon auf und brachte es am 8. Oktober mit der Überschrift "Joe Biden spricht vom Weltuntergang [6]" auf den Punkt.

Die SZ erklärt einseitig den russischen Präsidenten Wladimir Putin verantwortlich für diese Gefahr. Am Schluss des Kommentars warnt der Autor Daniel Brössler davor, dass der Westen sein Handeln durch die Angst vor dem Atomkrieg bestimmen lässt. Die über Jahrzehnte entwickelte nukleare Existenzbedrohung für die Menschheit ist in diesem Denken nicht mehr die schlimmste Gefahr, sondern der Versuch, dieser Gefahr auszuweichen.

Passend dazu forderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Nato am 6. Oktober auf Telegram dazu auf, einen Präventivschlag gegen Russland zu führen [7], falls dieses mit dem Einsatz von Atomwaffen droht. Die westliche Politik und Meinungsmache gehen mit der Gefahr eines nuklearen Untergangs der Menschheit fahrlässig, leichtsinnig um.

Und auch, wenn Selenskyj seine Aussagen später relativierte, zeigen solche Einlassungen, dass Warnungen, wie die des Kulturkritikers Günter Anders nicht mehr hinreichend wahrgenommen werden: Er hatte die Gefahr einer atomaren Apokalypse einst zur größten Bedrohung für die Zukunft der Menschheit [8] erklärt.

Atomare Drohungen: Durchhalteparolen von der Presse

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Oktober bestätigte – vielleicht unbeabsichtigt – diese frühe Warnung und machte mit einer Zeichnung auf, in der ein übervoll besetzter Panzer vor einem Atompilz fährt. "Standhaft bleiben!", so die Schlagzeile.

Der Autor warnt zwar vor "einer Eskalationsspirale, in einem Atomkrieg zu landen". Doch schleichen sich gefährliche Sätze in die Gedankenführung des FAZ-Mitarbeiters:

In Deutschland wird Krieg als katastrophales Scheitern von Politik betrachtet." Durch diesen Satz schimmert die brandgefährliche Aussage durch, dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, wenn das auch die deutsche Öffentlichkeit noch nicht begriffen hat. Dass in Deutschland Kriegsgegner immer noch eine relevante Kraft darstellen, bedauert er implizit. Weiter im Text: Weil die Ukrainer aber ihr Land nicht aufgeben wollen, (…) steht der Westen vor der ultimativen Charakterprüfung: Bleibt er dabei, dass sich ein Angriffskrieg nicht lohnen darf? … Dass die Ukrainer nicht nur ihr eigenes Land, sondern auch grundlegende Werte und Prinzipien der freien Welt verteidigen? (…) Von den Antworten darauf hängt die Glaubwürdigkeit des Westens ab. (…) Einen skrupellosen Gegner stoppt man nicht, wenn er wittern (…) und lesen kann, dass man ihn fürchtet. (…) Washington drohte Putin schwerwiegende Konsequenzen für den Fall an, dass er das nukleare Tabu bricht. Die Amerikaner müssten danach nicht zwingend auch auf Nuklearwaffen zurückgreifen, um einen unmissverständlichen Warnschuss vor Putins Bug zu setzen.

FAZ, 2. Oktober 2022

Das Flaggschiff des bürgerlichen Journalismus propagiert eine Strategie, die die Menschheit einen erneuten Schritt näher an den Abgrund katapultiert. Ein Aufschrei in der Öffentlichkeit bleibt aus.

Nach dem Mitteilungsblatt kritischer Nuklearwissenschaftler stand die Menschheit noch nie so nahe wie heute vor ihrer finalen Katastrophe. Dies sei so wegen der Spannungen und der Hochrüstung und der vor Kipppunkten stehenden Schädigung des Lebensraums Erde.

Nach der US-Energie-Informationsbehörde (EIA) steigen die CO2-Emissionen bis 2050 um weitere circa neun Prozent [9], statt dass sie sinken, was notwendig ist, um eine Erderhitzung abzuwenden, deren Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt.

Das Militär der Nato-Staaten verursacht mehr Treibhausgase als die meisten Industrieländer [10]. Mehr als die Hälfte davon verursacht die Luftwaffe.

Westliche Regierungen verleugnen diese Gefährdung unserer Existenz und unserer Zukunft, und sie bemühen sich darum, Widerstand flach zu halten, wenn sie Hochrüstung als "Sicherheitspolitik" bezeichnen und wenn sie von einem "nuklearen Schirm" sprechen [11].

Mit gleicher Berechtigung könnte man Krieg Frieden nennen. Und dann verkleidet sich – wie schon George Orwell wusste – Ignoranz mit dem Gewandt vermeintlicher Weisheit, Klugheit oder auch Intelligenz.

In den USA wurde schon vor Jahren ein US-Gesetz etabliert, das die Emissionen der Militärs aus den Klimaberichten an die UNO herausnimmt [12]. Passend zu diesem Skandal antwortete die Bundesregierung der Linkspartei auf eine Anfrage zu Klimaschädigungen durch die Bundeswehr [13]: "In der NATO existiert kein Gremium, das sich um eine koordinierte Darstellung von CO2- Emissionen und möglichen Reduktionszielen bemüht." Wie glaubwürdig ist eine Regierung, die an dieser Umweltschädigung und ihrer Verschleierung Anteil hat, wenn sie von Klimaschutz redet?

Die Welt aus der Sicht der Nato: Von der Ukraine nach Asien

Anfang Februar führte die Luftwaffe das lange vorbereitete Manöver "Kalkar Sky 22" durch, zu dem die Bundeswehr drei Wochen vor dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine erklärte, eine militärische Antwort auf Unruhen und Gewalt im fiktiven Staat East Cerasia übte [14]. Es geht hier nicht nur um Osteuropa, wie der Name ‚East Cerasia‘ mutmaßen lässt.

Wenn wir die drei ersten Buchstaben streichen, dann bleibt ‚East Asia‘ übrig, Ost-Asien also. Tatsächlich gibt es einige Indizien, die vermuten lassen, dass die Nato-Strategie auch den militärischen Hauptrivalen der USA, China, im Blick hat.

Zitat von der Bundeswehr-Website: "Der Schwerpunkt der Übung liegt auf der Planung, Steuerung und Führung von Luftoperationen." Es gehe im Manöver um das gesamte "Spektrum von Luftkriegsmitteln". Der hiesige Luftwaffengefechtsstand war eine Drehscheibe von Kalkar Sky 22.

Derartig gefährliche Vorgänge, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu untergraben, werden in der Öffentlichkeit außerhalb der Friedensbewegung viel zu wenig wahrgenommen.

Der Aufruf der Friedensbewegung zur ersten großen Demonstration im Bonner Hofgarten vor 41 Jahren [15] machte mit dem Satz auf, die 1980er-Jahre entwickeln sich zum gefährlichsten Jahrzehnt der Geschichte.

Wir sind jetzt vier Jahrzehnte weiter. Die Dramatik unserer Tage wird an den brutalen Kriegen deutlich, an dem Russlands gegen die Ukraine und auch an jenen mit westlichen Waffen eröffneten Kriegen in der Region zwischen dem Irak und dem Mittelmeer.

Die Militärlobby hat seit dem Vietnam-Krieg und dem Irak-Krieg gelernt, viele Menschen erfolgreich auf ihre Seite zu ziehen. Wie sie das machen, das offenbarte die Essener Konferenz der Kalkarer Nato-Strategieschmiede JAPCC 2015 unter dem Titel "Strategische Kommunikation".

Im Bericht über diese Konferenz steht ein Satz, den sich auch Militärgegner zu eigen machen können: "Nutze Friedenszeiten weise! [16]"

Dem militärischen Denken zufolge, ist der Frieden eine Episode, auf die Krieg folgt. Es geht ihnen darum, den Krieg mit der Integration ihrer Weltraum-, luft-, wasser- und landgestützten Arsenale und dem Kommando für den Cyberkrieg im Netz nicht nur militärtechnisch vorzubereiten. Sie stellen auch sicher, dass die Bevölkerung gegen ihre zerstörerische Strategie nicht aufbegehrt. Dafür benutzen sie – wie sie es nennen – psychologische Operationen, im von ihnen so genannten Informationskrieg [17].

Wir erleben das im tagtäglichen Nachrichtenmanagement, das so berichtet, als gäbe es neben dem Ukraine-Krieg keine anderen vergleichbaren Verstöße gegen die Menschenrechte und gegen das Völkerrecht. Moralisch wäre, jede Strategie zu verurteilen, die Krieg zum Mittel der Politik erhebt. Es geht den Militärs nicht um Frieden, sondern um Sieg im Krieg. Mit allen denkbaren Folgen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7317083

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/nato-manoever-atomwaffen-steadfast-noon-1.5676185
[2] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/natodoppelbeschluss-200098
[3] https://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/sondervermoegen-bundeswehr
[4] https://www.sueddeutsche.de/politik/kramp-karrenbauer-kampfjets-bundeswehr-kosten-1.4981781
[5] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/sicherheit-und-verteidigung/sondervermoegen-bundeswehr-2047518
[6] https://twitter.com/SZ/status/1578629780194398208
[7] https://t.me/stranaua/68083
[8] http://cartoon.iguw.tuwien.ac.at/christian/infogestechn/marcuseanders.html
[9] https://www.eia.gov/energyexplained/energy-and-the-environment/outlook-for-future-emissions.php
[10] https://orf.at/stories/3128002/
[11] https://www.bmvg.de/de/themen/sicherheitspolitik
[12] https://www.ipsnews.net/1998/05/climate-us-exempts-military-from-kyoto-treaty/
[13] https://dserver.bundestag.de/btd/19/162/1916217.pdf
[14] https://www.bundeswehr.de/de/organisation/luftwaffe/aktuelles/-kalkar-sky-2022-5343662
[15] https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/schwerer-abschied-von-volkmar-deile
[16] https://www.japcc.org/wp-content/uploads/Conf_Proceedings_2015_web.pdf
[17] https://www.japcc.org/wp-content/uploads/JAPCC_Conf_Read_Ahead_2015_web.pdf