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Inneres, Soziales, Gesundheit: "Selbstüberwachung" ist das neue Sicherheitsparadigma

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"Die da oben - wir hier unten": So einfach war das einmal. Orientierung leicht gemacht: dafür bot die Topographie des Obrigkeitsstaates den passenden Plan. Heute müssen die Grenzen neu bestimmt werden. Aus Überwachung ist Selbstüberwachung geworden - "Monitoring". Das neue Sicherheits-Leitkonzept birgt eigene Risiken und Gefahren.

"Innere Sicherheit" weist schon längst nicht mehr die Merkmale eines für den Wahlkampf relevanten "positional issue" auf, "zu dem die verschiedenen politischen Parteien alternative Problemlösungen entwickeln" - so die jüngste Diagnose der Humanistischen Union in ihrer neuesten Publikation: Innere Sicherheit als Gefahr. Sicherheitspolitik ist zu einem Common Sense geworden, aus dem sich niemand mehr ausklinken mag und kann.

Eine einleuchtende Erklärung für diese Entwicklung liefert Detlef Nogala in einem Beitrag zu dem genannten Sammelband. Nogala diagnostiziert das Hinabsickern des Politikkonzeptes "Innere Sicherheit" in die Organisationsstruktur des Sozialen schlechthin. Nicht mehr "der Polizeistaat", charakterisiere die aktuelle Gefahr. Was vielmehr bevorstehe, sei "das Heraufdämmern einer punitiven Polizeigesellschaft, der tiefgreifende Kontroll- und Identifizierungsprozeduren wie die DNA-Analyse weniger als Zumutung denn als konstitutives Versicherungselement von Gesellschaftlichkeit überhaupt vorkommt."

Die Bürger brauchen keinen Staat mehr, der sie überwacht. Sie haben die Sache selbst in die Hand genommen - und begrüßen es, wenn ihnen die Polizei dabei zu Hand geht.

Kosten und Nutzen

"Innere Sicherheit" ist nicht mehr nur ein Politik-Konzept, sondern ein Lifestyle-Programm. Inwiefern das all umfassende Streben nach Sicherheit seinerseits nicht frei ist von Nebenwirkungen und Risiken, demonstriert der Psychologe und Statistikforscher Gerd Gigerenzer vom Berliner Max-Planck-Institute for Human Development.

In einem Beitrag für das Internetmagazin Edge hat Gigerenzer seine Arbeiten über die Nebenwirkungen und Gefahren des medizinischen Riskikomanagments zusammengefasst. Er weist auf die erstaunliche Tatsache hin, dass nur wenige Patienten und auch nur wenige Ärzte eine Vorstellung davon haben, wie sich Kosten und Nutzen zum Beispiel einer Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung zueinander verhalten.

Viele gesunde Patienten werden durch unsaubere Testergebnisse permanent in Alarm versetzt. Männer, die sich einen Tumor wegoperieren lassen, obwohl niemand wissen kann, ob dieser jemals lebensbedrohliche Ausmaße annehmen wird, riskieren Impotenz und Inkontinenz für den Rest ihres Lebens. Selbst der offizielle Bericht der U.S. Preventive Services Task Force (USPSTF), den Gigerenzer zitiert, kommt zu dem Schluss, dass "the evidence is insufficient to recommend for or against routine screening for prostate cancer."

Die verrechnete Hoffnung

Auch andere Forscher haben in jüngster Zeit Zweifel angemeldet, ob die medizinische Selbstüberwachung eine gesicherte Basis für rationale Entscheidungen im Einzelfall bereitstellen kann. Der Haken bei statistik-basierten Test- und Diagnoseverfahren ist bekannt: Statistische Erkenntnisse sind keine Prognosen für den Einzelfall.

Die Bremer Soziologin Silja Samerski geht in ihrem kürzlich erschienen Buch Die verrechnete Hoffnung, das sich mit genetischem Counseling und vorgeburtlicher Diagnostik befasst, noch ein Schritt weiter. Wahrscheinlichkeiten, behauptet sie, sagen per definitionem nichts über eine einzelne Person aus:

"Was die beratene Frau ... tun soll, lässt sich aus der Bilanzierung der Zahlen nicht ableiten."

Darüber hinaus, glaubt Samerski, dass die Information über individuelle Risiken (etwa das Risiko, ein Kind mit Trisomie 21 zur Welt zu bringen) die Patientinnen entmündige, indem es sie einem "Denkzwang" unterwerfe. Das ist vielleicht ein etwas kräftige Ausdrucksweise. Aber der Grundgedanke ist nachvollziehbar: Persönliches Risikomanagment stellt eine Form der Einschränkung individueller Selbstbestimmtheit dar, die sich von jener der traditionellen Überwachung grundsätzlich unterscheidet. Nicht mehr die Macht einer fremden Kontrollinstanz wird als bedrohlich empfunden, sondern der Charakter der zum Zwecke der Selbstüberwachung eingesetzten technischen Mittel.

Neu an diesen Techniken ist, wie sehr die individuelle Risiko-Diagnose auf die Auswertung ganzer Datenbanken angewiesen ist, welche Aufschluss geben über die Häufigkeit bestimmter Krankheiten oder über durchschnittliche Abweichungen von idealen Testwerten. Das Schicksal des Einzelnen wird so mit der Verfasstheit statistischer Populationen zusammengeschweißt. Die individuelle Entscheidung erfährt eine vollständig neue Positionierung: Die persönliche Situation wird erst vor dem Hintergrund umfassender Datensichtungen überhaupt entzifferbar.

Monitoring

Die Entwicklung trägt allgemeinere Züge. Der Überwachungsstaat ist mutiert zu einer Gesellschaft des "Monitoring"- des Monitoring des Cholesterinspiegels, von Epidemien und radioaktiver Strahlung in der Umwelt, von Konsumverhalten und Verkehrsströmen ebenso wie von Bewegungen von Kriminellen und Terroristen.

"Monitoring" ist keine neue Einzeltechnik. "Monitoring" ist nur ein Wort, ein Sammelbegriff. "Datensichtung" (nach dem Monitor als "Datensichtgerät") wäre eine Übersetzung, die zumindest frei ist von den Assoziationen an eine von Fremd-Überwachung geprägte Big Brother-Welt. Aber es geht um mehr als um bloße Sichtung:

Monitoring can be defined as the collection and processing of current data for the purpose of an ongoing steering and control of a current process or activities on the basis of a comparison of real data and expected data.

Web Dictionary of Cybernetics and System

Vom traditionellen Schema der Politik der Inneren Sicherheit, der Überwachung, unterscheidet sich Monitoring grundlegend. Wer überwacht wird, vermag nicht mehr zu überschauen, wer wann was bei welcher Gelegenheit über ihn weiß. Als Teil des Monitoring-Systems hingegen kann der Einzelne nicht mehr eigenständig ermessen, was er wann und bei welcher Gelegenheit über sich selbst weiß. Auch das ist, wenn man so will, eine Einschränkung informationeller Selbstbestimmung.

Bei allem Zugewinn an "Sicherheit", bleibt Monitoring ein nur allzu geeigneter Kandidat für den Stupid Security"-Preis, den die Organisation "Privacy International" ausgelobt hat. Denn ob die Techniken des Monitoring insgesamt betrachtet mehr Nutzen oder mehr Schaden anrichten, ist völlig ungewiss. Das gilt für das "Tracing" und "Tracking" im Dienste der Staats-Sicherheit ebenso wie für das Screening im Kampf gegen die innere Gefahren vom Kaliber eines Tumors. Genau so wie keine Nachweise für die Effizienz von Rasterfahndung und Telefonüberwachung existieren, gibt es auch für kein einziges der weltweitweit eingeführten Krebs-Früherkennungsprogramme einen zuverlässigen Beweis, dass dieses das Leben der Teilnehmer verlängert.

Auf absehbare Zeit, das legen Christian Weymar und Klaus Koch in ihrem jüngst erschienen Buch Mythos Krebsvorsorge dar, wird die Wissenschaft einen solchen auch nicht erbringen können. Denn um nachzuprüfen, ob beispielsweise eine Mammographie, die zur Brustkrebs-Vorsorge eingesetzt wird, wirklich das Leben von Frauen im Alter zwischen 50 und 70 verlängert, bräuchte man Studien mit 1,5 Millionen Teilnehmerinnen. Das Fazit der Forscher: Wer nicht am Krebs-Monitoring teilnimmt, braucht kein schlechtes Gewissen zu haben.