Alles ist offen in Athen

Tage der Ungewissheit - selbst Neuwahlen sind wahrscheinlich

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Die Verhandlungen stocken. Der Ball ist bei den Griechen. Die Griechen sind Ende des Monats pleite. Tsipras droht mit Neuwahlen. Die Griechen flirten mit Russland. Eine Lösung ist in Sicht. Athen mauert. Bundeskanzlerin Angela Merkel berät sich mit Holland, Juncker und Lagarde über Griechenland. Der Grexit steht bevor. Der Grexit ist ausgeschlossen.

All dies sind Inhalte von Artikeln, wie sie in den letzten fünf Tagen überall veröffentlicht wurden. Die einzelnen Schlagzeilen widersprechen sich im Stundentakt. Dem Leser, hüben wie drüben, in Griechenland oder in der übrigen Welt dreht sich mittlerweile bei "Griechenland und der Euro" fast schon der Magen um.

Lange Nacht im Amtssitz des Regierungschefs Tsipras. Bild: W. Aswestopoulos

Erneut stehen Schicksalstage an. Bis Freitag muss Athen wieder eine Rate an den IWF überweisen, etwas mehr als 300 Millionen Euro sind fällig. Eine Woche später, am 12.6., sind knapp 340 Millionen Euro, am 16. Juni gar über 570 Millionen Euro fällig. Die letzte Rate im Juni an den IWF muss am 19. beglichen werden, da sind noch einmal mehr als 340 Millionen Euro an den Währungsfonds zu zahlen.

Das alles mutet jedoch eher beschaulich an, wenn der Blick auf die Rate an die EZB fällt. Diese erwartet am 20. Juni 3456,4 Millionen Euro auf einen Schlag. Jedem aufmerksamen Leser der Geschichten rund um Griechenland sollte spätestens jetzt der Vergleich mit dem nackten Mann, dem niemand in eine Tasche greifen kann, in den Sinn kommen. Schließlich zahlte Griechenland die letzte Kreditrate an den Währungsfond nur, indem der Jahresbeitrag des Landes für 2015 schlicht zurückgestellt wurde. Seit mehr als einem Jahr hat der Staat aus dem zweiten Rettungspaket kein Geld mehr erhalten. Die letzte Rate steht aus, weil bereits die Regierung Samaras sich je nach Lesart weigerte oder nicht in der Lage war, die Abschlussprüfung der Kreditgeber zu beenden.

Die Ratenzahlungen wurden im ersten und zweiten Rettungspaket, mit dem das Land seit Mai 2010 am Tropf der EU/EZB und des IWF und damit in der Eurozone gehalten wurde, vereinbart. Kaum ein Chronist kann übersehen, dass angesichts der Wirtschaftsleistung des ökonomisch angeschlagenen Staats und in Verbindung mit den jeweiligen Sparauflagen den Ratenvereinbarungen zumindest ein überschwänglicher Optimismus zugrunde gelegen haben muss. Auch ohne weit schweifende Analysen sollte klar sein, dass Griechenland nach allen Regeln der Wirtschaftswissenschaften spätestens jetzt als bankrott gelten muss. Es ist nicht anzunehmen, dass Finanzminister Yanis Varoufakis die fehlenden Milliarden bis zum Monatsende herbeizaubern kann.

Wer hat die besseren Karten?

Varoufakis steht in Athen momentan auch aus einem anderen Grund stark unter Druck. Der Ökonomieprofessor hatte versucht Elena Panaritis als Vertreterin Griechenlands beim IWF durchzusetzen. Frau Panaritis war 2009 vom damaligen PASOK-Chef Giorgos Papandreou über einen gesicherten Listenplatz als Abgeordnete ins Athener Parlament gekommen.

Sie war eine der Architektinnen des ersten Sparpakets und wandelte sich erst im Zusammenhang mit dem zweiten Paket zur Gegnerin der als Reformpolitik bezeichneten Staatführungslehre, die Griechenlands Lage eher verschlimmerte als verbesserte. Damit hat sie sich vor allem bei SYRIZA-Anhängern kaum Freunde gemacht. Denn vor ihrer PASOK-Zeit diente Panaritis dem damaligen peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori als dessen Beraterin bei einer Schocktherapie für die peruanische Wirtschaft. Fujimori brachte diese Politik eine langjährige Haftstrafe wegen Menschenrechtsverletzungen ein.

Panaritis, an der Varoufakis einen Narren gefressen haben muss, war unter dem Druck des öffentlichen Protestes in Griechenland nicht mehr zu halten. Sie trat von ihrem noch nicht angetretenen Amt zurück, um ihren Förderer nicht weiter zu beschädigen.

Und doch hat diese Personalie nicht nur den Minister erschüttert, sondern auch die Kreditgeber. Denn im Zusammenhang mit der Causa Panaritis sammelte der linke Flügel des SYRIZA zweiundvierzig Unterschriften von Abgeordneten gegen die Politikerin und damit indirekt auch gegen einen Kompromisskurs der Regierung. Es ist vollkommen klar, dass eine "nicht ehrbare Einigung" Griechenlands mit seinen Kreditgebern nicht den Segen der Parteidissidenten um Energieminister Panagiotis Lafazanis und den Anführer der kommunistischen Strömung Rudi Rinaldi erhalten kann. Fraktionschef Nikos Filis drückte es im griechischen Rundfunk klar aus: "Wir können keine Ultimaten akzeptieren. Wenn sich zwölf Parlamentarier verweigern, dann haben wir Neuwahlen!"

Diese Erkenntnis hat auch der eher gemäßigte und zu den Vertrauten Tsipras gehörende Arbeitsminister Panos Skourletis. "Wenn es keinen ehrbaren Kompromiss gibt, dann machen wir Neuwahlen", verkündete Skourletis, der beim Wahlkampf im Januar als Pressesprecher diente. Vizepremier Giannis Dragasakis stimmte den beiden zu. Dragasakis ist immerhin Chef der Verhandlungsgruppe der Griechen mit der nun Institutionen genannten früheren Troika. Mit dem Wortspiel von Troika zu Institutionen hatten Tsipras und Varoufakis die Wähler beruhigt. Denn eigentlich wollte der Premier den Kreditgebern bereits direkt nach Amtsantritt den Marsch blasen. Das zumindest hatte er im Wahlkampf versprochen.

Wie aber soll Tsipras seiner Truppe eine Lösung als ehrbaren Kompromiss verkaufen, wenn diese in Berlin von den Vertretern zweier EU-Staaten und den Institutionen genannten Gläubigern, EU, EZB und IWF diktiert wurde (Diktat an Griechenland jetzt direkt aus dem Kanzleramt?)?

Tsipras reagierte auf die Berliner Pläne bereits am Dienstagvormittag. Er hatte sich zum Ende der zentralen Abiturprüfungen im Bildungsministerium eingefunden. Statt wie beabsichtigt über die Zukunft der künftigen Studenten zu philosophieren, kommentierte Tsipras die Presseerklärungen von Merkel und Co. "Es gibt keine Informationen über das, was in Berlin geredet wurde, noch hat jemand der Staatslenker, die gestern ohne uns über uns diskutierten, Kontakt aufgenommen", wurde als Zweizeiler in einem so genannten Non Paper des Amts des Premierministers verbreitet. Nikos Nikolopoulos vom Koalitionspartner Unabhängige Griechen drückte sich noch deutlicher aus: "Ich sehe Neuwahlen für den 28. Juni", versicherte er im Sender Parapolitika Radio.

Solidarität der linken EU-Politiker

Tsipras empfing am Dienstag eine Delegation der Linken Fraktion des EU-Parlaments. - Gabriele Zimmer, die Vorsitzende der GUE/NGL Fraktion, Neoklis Sylikiotis, Malin Björk, beide Vizevorsitzende, sowie die Generalsekretärin Maria D 'Alimonte, Generalsekretär, und Dimitrios Papadimoulis, Vizepräsident des Europäischen Parlaments machten dem griechischen Premier die Aufwartung. Sie weilen zu Studientagen der Linken Fraktion in Athen. Anders als sonst durften die Pressevertreter beim üblichen Doorstep Fototermin erheblich länger bleiben und den ermutigenden Gesprächen der Gruppe lauschen.

Politiker der Partei To Potami. Bild: W. Aswestopoulos

Wie ernst ist es mit den Neuwahlen?

Außenstehende könnten meinen, dass nur viereinhalb Monate nach dem letzten Urnengang jede Diskussion über Neuwahlen ein Bluff Tsipras sein muss. Allerdings zeigt sich an der Reaktion der übrigen Parteien, dass diese bisher oft gemachte Drohung durchaus wahr werden könnte. Die Dialogkommission der Partei To Potami beschäftigte sich am Dienstagabend intensiv mit der Frage, ob die Partei Tsipras im Parlament das Vertrauen aussprechen sollte, wenn die Dissidenten sich einem Kompromiss verweigern.

Gegen diese Lösung spricht der von einer nicht abzuschätzenden großen Zahl der Potami-Politiker geäußerte Vorwurf, dass die aktuelle Koalition in den Nationalsozialismus abdriftet. Dies machte die Partei unter anderem daran fest, dass illegale Immigranten bei ihrer Internierung mit Tätowierungen versehen werden. Dies sei eine Parallele zum Dritten Reich, hieß es. Hinter verborgener Hand meinten allerdings einige Politiker von To Potami gegenüber Telepolis, dass sie erneute Wahlen eher als Gefahr denn als Gelegenheit sehen würden.

Die weiteren Aussichten - stürmisch!

Im Amtssitz des Premiers befanden sich bis Mitternacht sämtliche mit der Krise befasste Minister. Nach Mitternacht um 1 Uhr wurden heute die in Athen akkreditierten Pressevertreter informiert, dass Alexis Tsipras sich am Mittwochabend in Brüssel mit Jean Claude Juncker trifft. Die eilige Einladung wurde mit einer Expressakkreditierung begleitet. Bis in die frühen Morgenstunden des Mittwoch ist das Ministerium für die entsprechenden Anträge besetzt.

Bei so viel terminlicher Dramatik erscheint das kolportierte Gerücht einer außerordentlichen Sitzung der Eurogruppe am Freitag realistisch. Die Frage ist, was genau dann beraten wird, die geplatzte Rate an den IWF oder eine durch das Ultimatum erlangte Einigung?