Alles mit Nichts

Wenige Monate vor dem Beginn der Siedlungsräumung in den palästinensischen Gebieten verfeinern die Gegner des Plans ihre Strategien

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In Israel rüsten sich die Gegner der Siedlungsräumung für das letzte Gefecht: Innerhalb und außerhalb des Parlaments kämpfen sie mit fast allen Mitteln gegen den Plan von Regierungschef Ariel Scharon alle 21 Siedlungen im Gazastreifen und vier jüdische Ortschaften in der nördlichen Westbank aufzugeben. Nachdem der Termin für den Beginn des Abzuges kürzlich um drei Wochen verschoben wurde, liegen nun die endgültigen Pläne für die organisatorische Umsetzung vor. Verhindern könnte das nur noch der Oberste Gerichtshof: Dort wird zur Zeit über 14 Petitionen gegen das im Februar beschlossene Gesetz über die Entschädigung der betroffenen 9000 Siedlerinnen und Siedler verhandelt.

So wird es gemacht werden: An einem Tag Anfang August wird jeweils ein hochrangiger Armeeoffizier gemeinsam mit zwei Adjutanten an die Haustüren in den betroffenen Siedlungen klopfen, und den Bewohnern mitteilen, dass es nun an der Zeit sei, ihr Haus für immer zu verlassen. Sollten die Teams dabei auf Widerstand stoßen, werden 17 Polizisten, die sich bis dahin im Hintergrund gehalten haben sollen, das Gebäude gewaltsam räumen.

Unsere Beamten sind darauf eingeschworen, mit Verständnis für die schwierige Situation der Siedler und dabei gleichzeitig mit Nachdruck zu handeln. Wir sind auf alle Möglichkeiten vorbereitet. Ich hoffe aber, dass es keine Schwierigkeiten geben wird.

Sicherheitsminister Gideon Esra

Eine Prognose wollte der Likud-Politiker und getreue Gefolgsmann von Premierminister Ariel Scharon in der vergangenen Woche allerdings nicht abgeben - aus gutem Grund. Die offiziellen Vertreter der Siedler geben sich nach wie vor kämpferisch: "Die Politiker haben ihre Vorlagen und Gesetzesentwürfe; wir haben die Menschen hinter uns," sagt Miriam Rosen, Sprecherin des Siedlerrates Jescha, der die Aktivitäten gegen den Trennungsplan koordiniert.

Entschädigungszahlungen überstiegen oftmals den tatsächlichen Wert

Die größten Hoffnungen ruhen derzeit auf dem Obersten Gerichtshof, dessen großer Senat zur Zeit 14 Petitionen gegen das Gesetz über die Entschädigung der Siedlerinnen und Siedler berät: Während der Parlamentsberatungen über den Gesetzesentwurf seien Formfehler gemacht worden, als der Hauptausschuss fast 800 von den Räumungsgegnern eingebrachte Änderungsanträge nicht zur Abstimmung zuließ. Aber auch das Justizministerium ist mittlerweile nicht mehr besonders glücklich mit dem Gesetz: Die vorgesehenen Entschädigungszahlungen überstiegen oftmals den tatsächlichen Wert des zu räumenden Besitzes. Dennoch rechnet kaum jemand damit, dass das Gericht das Gesetz in letzter Minute noch stoppen und damit für eine Verschiebung der Räumung sorgen wird.

Deshalb demonstrieren die Gegner von Woche zu Woche immer öfter vor der Residenz des Ministerpräsidenten, dem Parlament, den Privatwohnungen von prominenten Befürwortern der Räumung. Seit mehreren Tagen schon kampieren zudem Jugendliche aus Gusch Katif in Zelten, die sie inmitten des Jerusalemer Kneipenviertels aufgeschlagen haben.

Inlandgeheimdienst: Erschreckend wenig Wissen über Siedler-Aktivitäten

Je näher der für Anfang August festgesetzte Räumungstermin rückt, desto resoluter werden auch die Aktionen: Immer wieder blockieren rechte Israelis Autobahnen; vor zwei Wochen griffen zwei Jugendliche während einer Vereidigungszeremonie Generalstabschef Mosche Ja'alon an und brachten damit Avi Dichter, Direktor des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth, in Bedrängnis: Er nehme die Lage nicht ernst genug, warf ihm Minister Esra kurz darauf während einer Kabinettssitzung vor.

In der Tat scheint Dichters Dienst erschreckend wenig über die Aktivitäten der Siedlerinnen und Siedler zu wissen: Es fehle auch fast ein Jahr, nachdem Scharon seinen Plan zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt hatte, an Informationen über Größe und Gewaltpotential des harten Kerns; der Schutz von Regierungs- und Generalstabsmitgliedern sowie von mit der Räumung befassten Verwaltungsmitarbeitern, die sich heute über mehrere Dutzend Drohbriefe in der Woche beklagen, sei völlig unzureichend, hatte der Sicherheitsexperte Micky Levy, bis vor zwei Jahren Polizeichef von Jerusalem bereits vor drei Wochen kritisiert - bevor der Schin Beth seine bisher größte Niederlage hatte einstecken müssen: Bis zur letzten Minute hatte der Geheimdienst, dem auch Polizeifunktionen zukommen, keinerlei Informationen darüber liefern können, ob und wenn ja wieviele Menschen letzten Endes zum angekündigten Sturm auf den Tempelberg am 10. April anreisen würden.

So wurden die Anwohner des Damaskus-Tores in Jerusalem an jenem Tag schon in den frühen Morgenstunden von Sirenen und lautem Rufen geweckt. Mit Gittern sperrten schwer bewaffnete Polizisten den größten von sieben Zugängen zur Jerusalemer Altstadt ab und begannen, jeden Passanten zu kontrollieren. "Wir werden auf alle Szenarien vorbereitet sein," hatte Minister Esra Tage vor der Aktion versucht, die schlimmsten Befürchtungen zu zerstreuen: Dass rechte Israelis tatsächlich zu Tausenden erscheinen, die Absperrungen durchbrechen, den Tempelberg, die drittheiligste Städte des Islam, stürmen und sich dort einen Kleinkrieg mit Sicherheitskräften und den rund 500 Palästinensern liefern könnten, die dort seit dem vergangenen Freitagsgebet Tag und Nacht Wache gehalten hatten: "Ich bin bereit, am Sonntag mein Leben zu geben," hatte Mohammad Barakeh, Parlamentsabgeordneter für die arabische Chadasch-Fraktion und einer der Ausharrenden, gesagt und ausgesprochen, was viele der Anwesenden fühlten.

Israels Polizei hat nur noch wenig Verständnis für die Rechten

Doch am Ende gab es nicht viel zu tun. Weder für die Polizisten, die gegen Mittag am Straßenrand ihre Butterbrote auspackten. Noch für die rund 600 Journalisten, die die Zeit damit verbrachten, die neuesten Gerüchte aus dem Pressecorps auszutauschen: Gerade mal knapp ein Dutzend Israelis, vorwiegend aus dem jüdischen Viertel der Altstadt, hatte sich zusammen gefunden, um für das zu demonstrieren, was einer von ihnen "das demokratische Recht, seinen Aufenthaltsort selbst zu bestimmen" nannte. Die Emotionen begannen zu kochen, ein paar Steine wurden geworfen, ein Polizist angegriffen und deshalb die gesamte Demonstration festgenommen: Israels Polizei hat nur noch wenig Verständnis für die Rechten, seit einige von ihnen vor zwei Wochen Kollegen von ihnen die Beine gebrochen haben.

"Ich denke, wir haben die Situation gut gemeistert," sagte Mosche Karadi, der oberste Polizeichef der israelischen Polizei, am Abend bei einer Pressekonferenz: "Ich hätte mir aber vor allem gewünscht, dass wir die Spannungen ganz hätten vermeiden können." Will heißen: "Hätte die Polizei gewusst, dass es nicht mehr als einen Sturm im Wasserglas geben würde, hätte sie einen eher niederschwelligen Ansatz gewählt, hätte die Polizei auf Hausdächern statt auf der Straße postiert und damit möglicherweise die unangenehme Eskalation verhindert," sagt Levy: So hatten palästinensische Extremisten die Situation dazu genutzt, sich mit einem massiven Raketenbeschuss israelischer Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft des Gazastreifens in Erinnerung zu rufen.

Massendemonstrationen der Siedelr sollen Polizeikräfte binden

Auf diese Weise kann sich Jescha aber einen Erfolg auf die Fahnen schreiben: Es sei alles nach Plan gelaufen, jubelte Jescha-Sprecherin Miriam Rosen am Abend:

Wir haben es geschafft, durch die bloße Ankündigung 3000 Polizisten auf die Straße zu bringen. Was glauben, Sie was passieren wird, wenn wir tatsächlich kommen.

Der Plan: Die Siedler hoffen, im Juli durch eine Massendemonstration in der Jerusalemer Altstadt so viele Sicherheitskräfte binden zu können, dass die für dann geplante Räumung der Siedlungen im Gazastreifen und der nördlichen Westbank polizeitechnisch unmöglich wird.

"Der Siedlerrat hat mit Nichts Alles erreicht, hat tausende Sicherheitskräfte gebunden und gezeigt, dass es nicht einmal der Geheimdienst schafft, sich unter die Siedler zu mischen,": sagt Dr. Colin Shindler, der sich an der School of Oriental and African Studies in London (soas) mit der israelischen Rechten befasst. Der Grund dafür sei eine Mischung aus Berührungsangst auf der Seite der Polizei, eine gut ausgeprägte Paranoia im Lager der Siedler:

Die Geheimdienste in diesem Land waren bis vor Kurzem tief im israelischen Bewusstsein verwurzelt, dass es völlig unmöglich, dass jüdische Extremisten die Hand gegen eine israelische Regierung erheben könnten. Die Haltung ist: Das sind doch unsere Nachbarn, die werden schon nichts Böses tun. Dabei wird aber gerne vergessen, dass es schon mehrmals geschehen ist.

So erschoss 1995 der Israeli Jigal Amir Regierungschef Jitzhak Rabin aus Unmut über die Osloer Übereinkünfte. In den 50er Jahren besetzte der spätere Ministerpräsident Menachem Begin gemeinsam mit Abgeordneten der Cherut-Partei, eine der Vorläuferinnen des 1974 gegründeten Likud-Blocks, für mehrere Stunden das Plenum der Knesseth, um damit gegen die Aufnahme von Gesprächen mit der Bundesrepublik zu protestieren.

Heftige Straßenkämpfe, drei Tote und an die hundert Verletzte waren die Folge. Und schon 1949, ein Jahr nach der Staatsgründung, hatte Begins damalige Partei versucht, Waffen für die Irgun, den bewaffneten Flügel der Partei, an der Regierung vorbei per Schiff ins Land zu schmuggeln. Die Armee versenkte das Schiff kurzerhand; rund ein Dutzend Menschen starben dabei. Shindler: "Es ist eigentlich sträflich, dass man sich dies beim Schin Beth nicht zu Herzen nimmt." Die Behörde wisse noch nicht einmal wie groß das Widerstandspotential in den Gazasiedlungen tatsächlich sei:

Man verlässt sich auf die Annahme, dass die meisten Siedler am Ende das Geld nehmen und ohne Widerspruch wegziehen werden; genau weiß das aber niemand.

Generalstabsmäßige Planungen

Die extremistische Rechte macht sich dies zu nutze, klagt lautstark unter Berufung auf Nazi-Deutschland über staatliche Spitzeltätigkeiten, wann immer sie öffentlich werden, und arbeitet im Hintergrund unter Hochdruck daran, ihre Planungen vor den Sicherheitsorganen zu verbergen: Telefongespräche dauern selten länger als 20 Sekunden, Treffpunkte werden erst wenige Minuten vor dem geplanten Termin bekannt gegeben. Willkommen ist dabei nur, wer persönlich bekannt ist.

Und dennoch: Nach und nach zeichnet sich eine Strategie ab, die sich nicht allein auf Demonstrationen und das Blockieren von Autobahnen beschränkt. "Es geht darum, Stärke zu zeigen und den Staat mit kleinen Nadelstichen in möglichst vielen Bereichen möglichst viel Arbeit zu bereiten," sagt ex-Polizeichef Levy. So hat Jescha mittlerweile seine Aktivitäten generalstabsmäßig organisiert: Seit einigen Wochen gibt es einen Stab, der die Protestaktionen koordinieren und für Gewaltfreiheit sorgen soll. Eine Presseabteilung soll zudem die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei kontern, die vor zwei Wochen eine PR-Agentur mit dem Aufbau eines Pressezentrums beauftragt hat.

Im Innenministerium ist zudem mittlerweile eine ganze Abteilung damit beschäftigt, Tausende von Wohnsitzmeldungen in den Gazasiedlungen zu überprüfen: In den vergangenen Monaten hatte Jescha massenhaft Schein-Mietverträge ausgestellt, die die Zahl der offiziell registrierten Gazasiedler künstlich nach ob treiben sollten. Denn vermutlich von Juni an werden die betroffenen Siedlungen zum Sperrgebiet erklärt werden; der Zugang wird dann nur noch dort gemeldeten Personen, deren Angehörigen und Journalisten gestattet sein. Die falschen Mietverträge sollten auch Unterstützern von außerhalb den Zugang ermöglichen.

Das Ministerium für Infrastruktur und Hausbau hat derweil alle Hände voll zu tun, illegal bewohnte Gebäude zu räumen: Seit dem vergangenen Jahr werden freiwerdende Sozialwohnungen nicht mehr neu vergeben; Jescha hat deshalb selbst die Initiative ergriffen, und die versiegelten und oft vermauerten Appartments kurzerhand selber an Umzugswillige vergeben. Mehr als 600 von ihnen wurden in den vergangenen beiden Wochen wieder vor die Tür gesetzt.

Frei werdende Plätze für die ideologisch Überzeugten

Wohnraum ist knapp, in den Siedlungen im Gazastreifen. Während sich in der nördlichen Westbank die israelischen Siedler still und leise auf ihren Umzug vorbereiten, und viele Häuser schon leer stehen, ist der Wohnungsmarkt am Mittelmeer aktiver als je zuvor: "Wir haben viel, viel mehr Interessenten als Wohnraum," sagt Siedlersprecherin Rosen. Der Ansturm ist ein Phänomen, dass die Stärken und Schwächen des Widerstandes gegen den Trennungsplan zeigt: Viele der Siedlerinnen und Siedler, die einst wegen des billigen Wohnraums und der Nähe zu den Ballungsräumen rund um Tel Aviv in den Gazastreifen gezogen waren, haben sich bei der Räumungsbehörde SELA als umzugswillig registrieren lassen; eine ganze Reihe von ihnen ist bereits ins Kernland gezogen. Bereit, die freiwerdenden Plätze einzunehmen, sind die ideologisch Überzeugten, die Gaza und das Westjordanland als Teil des gelobten Landes betrachten, sowie Journalisten, viele Journalisten.

Das größte Nachrichtenereignis des Jahres

Der Abzug aus Gaza und der nördlichen Westbank gilt unter Journalisten als das größte Nachrichtenereignis des Jahres; das Staatliche Presseamt in Jerusalem schätzt, dass deshalb bis zu 4000 Reporter zu den rund 3000 ansässigen ausländischen Korrespondenten stoßen werden. Und viele von ihnen versuchen derzeit, Wohnraum in einer der Siedlungen anzumieten - eine zusätzliche Einnahmequelle, die sich kaum einer der Gazasiedler entgehen lassen will.

Die Mietpreise haben sich im Vergleich zum vergangenen Jahr verdoppelt; wer einziehen will, muss einen Vertrag für ein ganzes Jahr unterschreiben - was keine der beiden Kundengruppen zu verschrecken scheint: Es sei alles voll, komplett, da helfe alles Geld der Welt nicht, sagt die hauptberufliche Maklerin Rosen. Und lädt alle Gegner der Siedlungsräumung dazu ein, in den Gazastreifen zu kommen, um dort Beistand gegen die Räumung zu leisten:

Ob Gaza zum Sperrgebiet wird oder nicht, ist uns egal. Niemand hat das Recht, uns in unserem eigenen Land vorzuschreiben, wo wir uns aufhalten dürfen.

Doch Sicherheitsminister Esra winkt ab:

Ich rate jedem, sich an das Recht und Gesetz dieses Staates zu halten und außerdem keinen Mietvertrag für ein Jahr zu unterschreiben. In einem halben Jahr schon werden im Gazastreifen keine israelischen Staatsbürger mehr leben, ganz gleich wie stark der Widerstand gegen die Räumung auch sein wird.

Wie wird eigentlich mit den Häusern und Wohnungen umgegangen werden, die von den Medien angemietet worden sind? Esra: "Alle müssen gehen, auch die Journalisten. Wir werden aber dafür sorgen, dass die Medien bis zum absoluten Ende bleiben können."