Alter-Globalisierung

Alter-Globalisierung bezeichnet soziale Bewegungen für alternative Globalisierung unter dem Motto "Eine andere Welt ist möglich"

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Anti-Globalisierung: Politisch und medial oft bevorzugter, jedoch irreführender Begriff für globalisierungskritische Bewegungen. Diese lehnen ihn ab, da er bloße Ablehnung ohne Alternativvorschläge unterstellt.

Neoliberalismus: Wirtschaftspolitische Konzepte, die sich vom klassischen Liberalismus ableiten und die Herrschaft des selbstregulierenden freien Marktes als größte Errungenschaft definieren. Der Einfluss des Staates auf das Wirtschaftsgeschehen soll auf die Sicherung eines funktionierenden freien Marktes reduziert werden und gilt ansonsten als Einschränkung des wirtschaftlichen Handelns.

Partizipative Ökonomie (Parecon): Ein wirtschaftliches Modell, demgemäß Produktion, Konsum und Verteilung in Einklang mit den Prinzipien der Solidarität, Diversität, Gleichheit und Selbstverwaltung stehen. Grundlegende Mechanismen des Parecon sind ArbeiterInnen- und KonsumentInnenräte und die Arbeitsorganisation nach dem Prinzip der "Tätigkeitsbündel" (ausgewogene Mischung von erfüllenden und eintönigen bzw. gefährlichen Tätigkeitsbereichen).

Globalisierung "von unten", Graswurzel-Globalisierung: Neue Formen sozialer Bewegungen, die sich ausgehend von jeweils lokalen Problemen und Belangen für Gleichheit, Gerechtigkeit und freien Zugang zu und Umverteilung von Ressourcen einsetzen.

Der Beitrag wurde dem von Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll und Andre Gingrich herausgegebenen Lexikon der Globalisierung entnommen, der im September 2011 im transcript Verlag erscheint (536 S., kart., 29,80 €).

Die Globalisierung hat die Welt grundlegend verändert. Die radikalen Folgen dieser Revolution betreffen nicht nur abstrakte Prozesse in Wirtschaft und Politik, sondern sind konkret in unserem Alltag erlebbar. Das Lexikon der Globalisierung bereitet in mehr als 140 Einträgen die Ergebnisse der kultur- und sozialwissenschaftlichen und insbesondere der anthropologischen Globalisierungsforschung in einer verständlichen und anschaulichen Sprache nicht nur für eine wissenschaftliche Leserschaft, sondern auch für eine breite Öffentlichkeit auf. Dabei steht neben der Klärung von Begriffen und Debatten die alltägliche Erfahrung von Globalisierung im Vordergrund. Das Lexikon ist somit ein unverzichtbarer Wegweiser in der Unübersichtlichkeit der Globalisierung und ihren Kämpfen und Debatten. Mit Beiträgen u.a. von Arjun Appadurai, Ulrich Beck, Jean und John L. Comaroff, Ulf Hannerz, Helga Nowotny, Aihwa Ong und Shalini Randeria.

Begriffsgeschichte: Der in der Debatte um Globalisierung relative neue Begriff der Alter-Globalisierung wurde aus dem Französischen (frz. altermondialisation) abgeleitet. Sein Entstehungskontext waren der Aktivismus und die Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung. Erst in zweiter Instanz fand der Begriff auch Eingang in die sozialwissenschaftliche Literatur (Mittelman 2004).

Erste Proteste gegen die neoliberale Globalisierung ereigneten sich Ende der 1990er Jahre (in Seattle, Washington, Prag und Philadelphia) und setzten sich Anfang der 2000er Jahre fort (Genua, Florenz, Davos oder Barcelona). Das größte jährliche Treffen der alter-aglobalistischen Bewegung ist das Weltsozialforum (WSF), welches das erste Mal im Februar 2001 in Porto Alegre (Brasilien) unter dem Motto "Eine andere Welt ist möglich" stattfand. Das Weltsozialforum versteht sich als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos und findet nicht zufällig stets etwa zur selben Zeit statt wie dieses jährliche Treffen der neoliberalen internationalen wirtschaftspolitischen Elite. Während des ersten Weltsozialforums in Porto Alegre wurden die Grundprinzipien der Bewegung in Form einer Charta verabschiedet. Das WSF war ein grundlegender Impetus für die Entstehung regionaler Sozialforen, wie etwa des Europäischen und des Asiatischen Sozialforums.

Die wesentliche Implikation des Begriffes Alter-Globalisierung ist die Kritik bzw. die Ablehnung des Begriffes Anti-Globalisierung. Denn Anti-Globalisierung wird mit gewalttätigen Protesten und bloßem Widerstand verbunden, ohne konstruktive Kritik und alternative Konzepte. Ein ebenfalls wichtiger Grund für die kritische Distanz zum Begriff Anti-Globalisierung ist der Umstand, dass sich viele Bewegungen und politische Parteien des Nationalismus als antiglobalistisch definieren, jedoch ihr Widerstand gegen die Globalisierung in der Regel eine gänzliche Ablehnung der Globalisierung und eine fremdenfeindliche oder rassistische Verteidigung des Nationalstaates impliziert.

Das Wort Anti-Globalisierung ist aber zum Allgemeinplatz in Medienberichten und Populärliteratur geworden. Als Stereotyp wird es entsprechend vage und wahllos verwendet. Durch eine implizite Opposition von "anti" und "pro" blendet der Begriff Anti-Globalisierung die Tatsache aus, dass es sich im Falle aktueller Widerstandsbewegungen um Initiativen gegen den Neoliberalismus handelt, aber für eine Globalisierung, die sozialen Zielen dient (Mittelman 2004: 8).

Der Begriff Alter-Globalisierung steht in engem Zusammenhang mit kulturanthropologischen Analysen "neuer sozialer Bewegungen" (Escobar 2004) und mit Konzepten der "Globalisierung von unten" bzw. der "Graswurzel-Globalisierung" (Appadurai 2000; Mies 2002; → Wirtschaftsglobalisierung von unten). Escobar versteht neue soziale Bewegungen gegen die neoliberale Globalisierung als "Mischwerke" (meshworks), die auf nicht hierarchischer und dezentraler Entscheidungsfindung, Selbstorganisation, Heterogenität und Vielfalt beruhen (→ Diversität).

Diese Bewegungen verkörpern laut Escobar ein Modell des sozialen Lebens, "das scharf mit dem dominierenden Modell des Kapitalismus und der Moderne kontrastiert, insbesondere ihrer Inkarnation als neoliberale Globalisierung" (Escobar 2004: 1022). Nach Appadurai (2000) besteht die Graswurzel-Globalisierung, abgesehen von Nicht-regierungsorganisationen (→ NGOs), aus neuartigen sozialen Formationen, die zugleich Eigenschaften von sozialen Bewegungen, Netzwerken und Organisationen aufweisen.

Diese Initiativen richten sich gegen die wachsende globale Ungleichheit und Umweltzerstörung (→ Weltrisikogesellschaft), die durch entfesseltes Finanzkapital (→ Millenniumskapitalismus) und das Freihandelsregime (→ Welthandel) hervorgerufen werden. VertreterInnen der Globalisierung "von unten" gehen von lokalen Problemen und Belangen aus und setzen sich für Gleichheit, Gerechtigkeit und freien Zugang zu Ressourcen oder deren Umverteilung ein. Als Vorläufer dieser anthropologischen Auseinandersetzung mit neuen sozialen Graswurzel-Bewegungen können Ansätze der Aktionsethnologie (action anthropology) erachtet werden. Diese erhebt den Anspruch, dass sich AnthropologInnen im Rahmen ihrer Feldforschungen für die Lösung sozialer Probleme von Gemeinden und Gruppen ehrenamtlich engagieren (Bennet 1996) und sich somit an der Transformation sozialer, politischer und ökonomischer Verhältnisse aktiv beteiligen.

Diskussion: Die alter-globalistische Bewegung versteht sich als "Bewegung von Bewegungen" und versammelt AkteurInnen diverser ideologischer Hintergründe (etwa Sozialismus, Sozialdemokratie, Anarchismus oder Feminismus) und einander überschneidender Schwerpunktsetzung - wie z.B. Rechte von MigrantInnen, Minderheiten, → indigene Rechte, Umweltschutz, Anti-Militarismus, Frauenrechte → Menschenrechte von Frauen), → Menschenrechte, ArbeiterInnenrechte, Armutsbekämpfung, Ablehnung internationaler Handelsabkommen oder Konsumverweigerung.

Die AktivistInnen betonen stets den basisdemokratischen und nicht hierarchischen Charakter der Bewegung und sprechen sich gegen jegliche Form von Vorherrschaft aus, wobei die Bekämpfung der patriarchalen Ideologie, der Frauendiskriminierung und der frauenspezifischen Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspraxis (wie z.B. die Feminisierung der Niedriglohnarbeit; vgl. dazu insb. → Offshoring und → Sonderwirtschaftszonen) ein erklärtes Ziel alter-globalistischer Initiativen darstellt. In diesem Sinne werden oft die hierarchischen Organisationsformen von politischen Parteien und NGOs abgelehnt und statt dessen Netzwerke, Affinitäts- und Interessensgruppen, Bündnisse oder Foren gebildet. Die vielfältigen AkteurInnen der alter-globalistischen Bewegung haben trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen, Strategien und Zielsetzungen des Widerstands eine grundlegende Gemeinsamkeit: Sie bilden eine Opposition zur neoliberalen Globalisierung der → multinationalen Konzerne und verstehen sich als eine globale Bewegung für Solidarität und soziale Gerechtigkeit (→ Globale soziale Gerechtigkeit).

Laut Noam Chomsky (2000: 22) - einem der prominentesten Kritiker des Neoliberalismus und Vordenker der alter-globalistischen Bewegung - ist der Neoliberalismus nicht nur die aktuell dominant durchgesetzte Wirtschaftspraxis der reichsten Staaten und der → internationalen Finanzinstitutionen, die in der Liberalisierung von Handel und Finanzen, Preisregulierung über den Markt, makroökonomischer Stabilität und Privatisierung besteht. Der Neoliberalismus impliziert auch eine intellektuelle Elite und Medienmaschinerie, die bestrebt ist, den Neoliberalismus als die einzige Option und den "zivilisatorischen Endpunkt der Geschichte" (Wissenschaftlicher Beirat von Attac 2005:132) darzustellen (→ Ende der Geschichte). Die Bewegung der Alter-Globalisierung richtet sich gerade gegen die von VertreterInnen des Neoliberalismus postulierte Alternativlosigkeit, die vielleicht am klarsten in dem Ausdruck TINA ("There Is No Alternative"/"Es gibt keine Alternative") der Thatcher-Doktrin zum Ausdruck kommt (Mies 2002: 68).

Die diskutierten Alternativen sind, ebenso wie die Bewegung selber, höchst heterogen. Während sich manche auf eine tiefgreifende Reform der neoliberalen Institutionen konzentrieren, lehnen andere Initiativen jegliche Reform zugunsten einer gänzlichen Abschaffung des Neoliberalismus ab (Mies 2002). Alternativvorschläge reichen von der Einführung einer Besteuerung von internationalen Finanztransaktionen (→ Tobinsteuer) über diverse Konzepte der Stärkung lokaler Ökonomien "von unten" bis hin zu komplexen Konzepten wie jenem der partizipativen Ökonomie (Participatory Economics/Parecon).

Die wichtigste medienbezogene Alternative ist das Konzept des "indymedia", von autonomen, emanzipatorischen Mediennetzwerken ohne kommerzielle Interessen (→ Medien). Information wird hier nicht als Ware verkauft (→ Kommodifizierung); es besteht vielmehr ein basisdemokratischer Anspruch der Partizipation am Informationsaustausch, der durch die Praxis des direkten "postings" gewährleistet wird.

Beobachtungen aus der Praxis: Im Kontext der anthropologischen Beschäftigung mit den Entwicklungen in ehemals sozialistischen Ländern eröffnet der Begriff der Alter-Globalisierung neue Zugänge und Blickwinkel auf den gesellschaftlichen Wandel (→ Postsozialismus). In Serbien sprechen sich diverse Initiativen unter dem Motto des Weltsozialforums "Eine andere Welt ist möglich" ("Drugačiji svet je moguć"/DSM) sowohl gegen die neoliberalen Reformparteien als auch gegen die nationalistischen Parteien aus. DSM ist zugleich stark mit der globalen Bewegung gegen den Neoliberalismus vernetzt (etwa durch die Beteiligung an den Protesten in Genua, Florenz und Porto Alegre) und arbeitet an der lokalen Konzipierung von Alternativen. So wird beispielsweise eine jeweils lokale Umsetzung des Konzepts der partizipativen Ökonomie überlegt oder das Potential des (im Realsozialismus gescheiterten) Konzeptes der ArbeiterInnenselbstverwaltung diskutiert. Im Zuge dessen versuchen die Initiativen neue basisdemokratische politische Räume der Bewegung zu erschließen, die sich jenseits der Parteipolitik und der Nicht-Regierungsorganisationen befinden (Tošić 2009; → Demokratisierung).

Netzwerke, Plattformen, internationale Treffen, direkte Aktionen und die Erstellung einer eigenen Indymedia-Seite dienen dabei gemeinsamen Diskussionen mit AktivistInnen weltweit und richten das Augenmerk auf die Besonderheiten der lokalen Ausformungen globaler Problemfelder (Arbeitslosigkeit, Armut, Marginalisierung von → Flüchtlingen und Minderheiten, Frauendiskriminierung, → Menschenhandel, Militarismus, → Rassismus usw.).

Jovan, ein fünfundzwanzigjähriger Student aus Belgrad, ist von Beginn an ein Mitglied von DSM. Sein Interesse für die aktivistische Tätigkeit bringt Jovan mit der politisch-ideologischen Positionierung seiner Eltern in Verbindung: "Sie sind Linke, waren jedoch nie Mitglieder der Kommunistischen Partei Jugoslawiens. Sie waren stets Kritiker des Tito-Sozialismus und in den 1968er-Protesten sehr aktiv. Ich habe viel von ihnen gelernt." Jovan wurde jedoch erst in der autonomen Szene aktiv, als er von den internationalen alter-globalistischen Protesten erfuhr. Er beschloss, selber zum Sozialforum nach Florenz zu fahren, und lernte interessanterweise erst dort einige AktivistInnen ähnlicher Auffassungen und Ideen aus Belgrad kennen. Mit seinem neuen Bekanntenkreis begann Jovan nach der Rückkehr aus Italien, eine lokale alterglobalistische Bewegung unter dem Motto des Weltsozialforums "Eine andere Welt ist möglich" (DSM) aufzubauen.

Der große Vorteil bei einer neuen Bewegung sei laut Jovan der Enthusiasmus der Mitglieder, während die fehlende Aktivismus-Erfahrung ein Manko darstelle. Obwohl einige Mitglieder aus dem NGO-Milieu kommen, stellt Jovans Ansicht nach die DSM-Bewegung das klare Gegenmodell zum hierarchischen Organisationsmodell der NGOs dar. Jovan betrachtet das DSM als Netzwerk von verschiedenen Initiativen und Gruppierungen, die sich - trotz z.T. unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung - einheitlich gegen die neoliberale wirtschaftliche Globalisierung aussprechen. "In unserer Bewegung versuchen wir, Ideologien im Hintergrund zu halten, und es gibt keine Hierarchie. Wir schließen uns vielmehr spontan zu Affinitätsgruppen zusammen, wo jede(r) das macht, was sie/er am besten kann und für sinnvoll hält."

Eine von Jovan mitinitiierte Aktion war der "Tag der Solidarität mit Argentinien". Durch Vorträge, Filme und Diskussionen wollte DSM den BelgraderInnen die verschiedenen Formen des zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen den Neoliberalismus in Argentinien näherbringen (→ Zivilgesellschaft) und sie auf die Parallelen mit der Situation in Serbien hinweisen. Jovans großes persönliches Anliegen und zugleich die Motivation für sein Engagement im DSM ist es, der "kollektiven Lethargie" und dem Gefühl der Ausweglosigkeit der BürgerInnen entgegenzuwirken. Darüber hinaus möchte er durch seinen Aktivismus die gegenseitige und internationale Solidarität mit BürgerInnen anderer Länder mobilisieren, die ebenfalls die Folgen neoliberaler Wirtschaftsreformen "unter der eigenen Haut" spüren und ebenfalls versuchen, alternative Modelle der sozialwirtschaftlichen Entwicklung zu entwerfen: "Wir suchen einen dritten Weg, welcher eben kein antiglobalistischer ist, wie er am häufigsten abgestempelt wird. Wir sprechen uns sehr wohl für die Globalisierung aus, jedoch nicht für eine neoliberale, sondern eine Globalisierung der Solidarität."

Literatur

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