Andockungsmanöver mit Tücken

Was im Juni 1997 auf der MIR beinahe in eine Katastrophe geführt hätte, stellte auch die ersten ISS-Astronauten vor Probleme

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Bei ihrem ersten Andockungsmänover musste die ISS-Crew notgedrungen von Automatik auf Handbetrieb umstellen. Das Andocken des Versorgungsmodul 'Progress' - derselbe Typ prallte vor über drei Jahren nach einem misslungenen Manöver auf die russische MIR - gestaltete sich schwieriger und schweißtreibender als zunächst angenommen.

Nur haarscharf entgingen sie der Katastrophe. Es war kein lauter Knall, eher eine immense Erschütterung und starke Vibration, ähnlich wie bei einem Erdbeben, die den Hauptalarm auslösten und den drei Astronauten auf der Raumstation zum ersten Mal wirklich einen Schrecken einjagten.

Vorausgegangen war ein manuell gesteuertes Andockungsexperiment, das jedoch "voll" daneben ging. Durch den Ausfall des Kontrollbildschirms, der den Anflug des Versorgungsmodul mitsamt Position, Geschwindigkeit und Entfernung überwachen und die entsprechenden Informationen weiterleiten sollte, war der Zusammenstoß praktisch vorprogrammiert. Und so kam es, wie es kommen musste: Der unbemannte Versorgungstransporter vom Typ Progress mit seiner wertvollen Fracht aus Lebensmitteln, Treibstoff und Wasser rammte mit voller Wucht die Raumstation. Dass sie dabei nicht in zwei Teile zersprang, war ein reiner Glücksfall, da die Sonnensegel den Aufprall abbremsten. Dennoch waren die Schäden und daraus resultierenden Konsequenzen gravierend: ein Loch in der Außenwand des Forschungsmoduls Spektr und gleich vier beschädigte Sonnensegel - die äußerlichen Zerstörungen waren genauso unübersehbar wie die bordinternen. Denn dort gaben das Strom- und Energieversorgungssystem und damit auch alle Computer den Geist auf.

Glücklicherweise hat dieses Szenario nur noch raumfahrthistorischen Wert, da es sich bereits am 25. Juni 1997 - elf Jahre nach dem Challenger-Unglück - an Bord der russischen Raumstation MIR ereignete und gottlob glimpflich endete. Bei dieser Kollision stieß die Versorgungskapsel 'Progress' während der Erprobung eines neuen manuellen Andocksystems mit dem "Spektr"-Modul des elf Jahre alten Orbitalkomplexes zusammen. Den drei Kosmonauten - den beiden Russen Wassili Ziblijew und Alexander Lasutkin sowie dem Amerikaner Michael Foale - gelang es seinerzeit noch, die Schäden zu beheben und den drohenden Absturz der MIR rechtzeitig abzuwenden.

Ob Zufall oder nicht - beim ersten Andockungsmanöver an die Internationale Raumstation, das die ISS-Astronauten von Bord aus steuerten, war wieder einmal der Versorgungsmodultyp 'Progress' mit von der Partei. Und erneut gab es beim Andocken Probleme. Allerdings mussten dieses Mal die Astronauten im wahrsten Sinne des Wortes Hand anlegen, da das vorgesehene "automatische" Andockmanöver scheiterte, weil der unbemannte russische 'Progress'-Transporter, so die offizielle Verlautbarung der Bodenkontrolle bei Moskau, mit seiner 2,5 Tonnen schweren Ladung derart schräg zur ISS stand, dass ein Einfangen des Frachtraumschiffs nicht möglich war.

Letzten Samstag gelang es Bill Shepherd, Juri Gidsenko und Sergei Krikalow nur mit äußerster Mühe, das mit zwei Tonnen Nahrungsmitteln, Versorgungsgütern, Ausrüstung, Kleidung und anderem beladene russische Raumfahrzeug an die Station anzudocken. Vom Kommandostand des ISS-Moduls "Swesda" aus lotste der russische Kosmonaut Juri Gidsenko den Frachter an die untere Andockstelle des Nutzlast-Moduls "Sarja". Als Gidsenko auf manuelle Steuerung umschaltete und via Joystick versuchte, die Kapsel an die Internationale Raumstation heranzuführen, vertraute er - wie einst sein Kollege auf der MIR - einem Fernsehmonitor, auf dem just das Bild erschien, das ihm von der 'Progress'-Kapsel zeitgleich zugespielt wurde. Es zeigte die Raumstation aus der 'Progress'-Perspektive. Doch wie vor drei Jahren beim MIR-Desaster konnte Gidsenko den Docking-Adapter der Raumstation nicht anpeilen, weil er auf seinem Monitor kaum etwas mit seinen Augen erfassen konnte, da die Linse der 'Progress'-Kamera beschlagen war. Darüber hinaus flog die 'Progress' noch direkt aus Richtung Sonne kommend auf die Raumstation zu: Gidsenko wurde zusätzlich noch vom Licht geblendet. Ein weiteres Problem entstand dadurch, dass die ISS sich peu à peu aus dem Funkkontaktbereich mit der Flugleitung in Moskau bewegte. Als sie jedoch etwa eine halbe Stunde später mit der angedockten 'Progress' aus dem Funkschatten wieder auftauchte, war die Erleichterung sowohl in Moskau als auch in Washington groß. Nicht zuletzt deshalb, da es den emsigen Astronauten offensichtlich noch rechtzeitig gelungen war, das Docking, wenn auch mit einer Verspätung von 40 Minuten um 4.47 Uhr Mitteleuropäischer Zeit, erfolgreich abzuschließen.

Doch zum Feiern war keine Zeit. Unmittelbar nach dem Docking stellten die drei Astronauten zunächst eine luftdichte Verbindung her und schalteten die Bordsysteme des Frachters ab. Kurz darauf wurde ihnen von den Bodenstationen bei Moskau und Houston (Texas) dann endlich der wohlverdiente Schlaf verordnet und ein weitgehend freies Wochenende zugestanden.

Mit dem Entladen der über zwei Tonnen starken Fracht indes haben die Astronauten gestern bereits wieder begonnen. Von neuem stehen sie unter einem enormen Zeitdruck, denn bereits in zehn Tagen, am 30. November, soll auf Cape Canaveral der Raumtransporter "Endeavour" starten und große Sonnenpaddel für die Energieversorgung der Station nach oben bringen.

Angesichts der Gegebenheit, dass früher die russischen MIR-Kosmonauten durchschnittlich jeweils einen Monat gebraucht haben, um die 'Progress'-Fracht zu entladen, wird es zeitlich abermals sehr eng. Denn wenn die ISS-Besatzung das vorgegebene Arbeitspensum innerhalb von zehn Tagen nicht bewältigt, wird die "Endeavour"-Crew wohl kaum am 2. Dezember planmäßig empfangen werden können. Deshalb muss der Nachschub an technischen Geräten, Treibstoff, Essen und Wasser so schnell wie möglich in die ISS umgeladen werden, bevor dann die 'Progress' abgekoppelt wird und in der Erdatmosphäre verglüht.

Übrigens wird die Endeavour nicht das einzige Schiff sein, das dem kosmischen Triumvirat einen Besuch abstattet. Während ihres Weltraumaufenthaltes bis zum Februar werden ihnen noch ein weiterer russischer Transporter und eine weitere US-Shuttle die Aufwartung machen.