Angst vor Staatsschulden schüren oder klar analysieren? Zum Fiscal Monitor des IWF

Öffentliche Schuldenlast als zerstörerische Blase – USA und China als aufblasende Kräfte im Comic-Stil

(Bild: KI-generiert)

Der IWF warnt vor den hohen Staatsschulden der USA und Chinas. Doch was bedeutet die Kritik in ihrer Konsequenz? Eine Analyse der IWF-Argumente.

Den meisten Menschen ist mulmig zumute, wenn sie von den großen öffentlichen Schuldenbergen hören. Viele haben zwar die Erfahrung gemacht, dass der Staat als Retter in der Krisennot unverzichtbar ist. Aber hat die öffentliche Hand nicht doch übertrieben agiert? Muss sie nicht wenigstens jetzt ihre Defizite wieder schleunigst auf ein Normalmaß (und welches ist das?) zurückfahren oder gar Überschüsse erwirtschaften zur Vorbereitung auf kommende Krisenzeiten?

IWF: Warnungen vor der US-Schuldenstrategie

In Europa hat man gerade neue Schuldenregeln für die Staatshaushalte beschlossen, von denen allerdings niemand weiß, ob sie jemals greifen werden. Auch die Entwicklung des öffentlichen Schuldenstands in den USA löst bei vielen Beobachtern Skepsis aus. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF), der nicht berühmt dafür ist, die USA zu kritisieren, hat auf seiner jüngsten Frühjahrstagung und in einigen Veröffentlichungen die Nachhaltigkeit der amerikanischen Schuldenstrategie bezweifelt.

In seinem gerade veröffentlichten Fiscal Monitor mahnt der IWF: "Angesichts der steigenden Schulden ist jetzt die Wiederherstellung nachhaltiger öffentlicher Finanzen an der Zeit." (Seite ix) Bereits im Vorwort werden die beiden Länder USA und China als Haupttreiber der weltweiten öffentlichen Verschuldung genannt.

Die Gefahr der steigenden Staatsanleihen-Zinsen

Zur gleichen Zeit bringt Martin Wolf in dem Beitrag "The tree of debt must stop growing" in der Financial Times vom 9. April 2024 mit Blick auf die gewaltigen amerikanischen Defizite die von vielen geteilte Sorge zum Ausdruck, dass die Akteure an den Finanzmärkten eines Tages nicht mehr bereit sein könnten, das Risiko zunehmender staatlicher Schulden zu akzeptieren, wodurch die Prämien (die Zinsen), die Staaten für das Halten ihrer Staatsanleihen den Privaten zahlen müssen, deutlich steigen könnten. Zumal in Zeiten einer zur Inflationsbekämpfung gestrafften Geldpolitik das Zinsniveau ohnehin zugenommen hat und damit die Zinslast der Staatshaushalte mehrt.

Typisch für die öffentliche Debatte um staatliche Defizite – hier konkret der USA – ist festzustellen, dass es der Regierung in den vergangenen 50 Jahren nur in einer einzigen kurzen Periode um die Jahrtausendwende herum gelungen ist, einen Überschuss zu erzielen (siehe Abbildung 1, angelehnt an die Grafik im erwähnten Beitrag von Martin Wolf). Ansonsten gab es nur Defizite, die noch dazu in den jeweiligen Krisen gewaltig anstiegen.

Scheuklappen ablegen und Staatshaushalt im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang betrachten

Doch dieser Blick allein auf die eine Seite der gesamtwirtschaftlichen Medaille, nämlich die staatliche, verdeckt mehr, als er erklärt. Der Staat agiert nun einmal nicht im luftleeren Raum, sondern passt sich mit seinem Haushalt an die Lage in der gesamten nationalen Wirtschaft und in der Welt an.

Wer das ignoriert, verfehlt von vornherein das Ziel, die staatliche Haushaltspolitik seriös beurteilen zu können. Nur wenn man zur Kenntnis nimmt, was im Rest der Wirtschaft passiert ist, kann man die staatliche Politik erklären und sinnvolle Schlussfolgerungen ableiten.

Das geeignete Mittel, den staatlichen Finanzierungssaldo in einen gesamtwirtschaftlichen Kontext zu stellen, ist die Analyse aller sektoralen Finanzierungssalden eines Landes. Es geht dabei um den zwingenden Zusammenhang in jeder monetären Wirtschaft, dass die Summe alles Ausgaben gleich der Summe aller Einnahmen ist.

Entsprechend muss bei einer Zusammenfassung der binnenwirtschaftlichen Akteure eines Landes zu den drei Sektoren Unternehmen, private Haushalte und Staat sowie ihrer Gegenüberstellung mit dem Sektor "übrige Welt", der das gesamte Ausland aus Sicht der Binnenwirtschaft umfasst, die Summe der Finanzierungssalden dieser vier Sektoren null ergeben.

Jenseits dieser Buchungs- und Rechenlogik folgt daraus für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung unmittelbar, dass der Wunsch aller drei Binnensektoren (Unternehmen, private Haushalte und Staat) zu sparen zwingend zu einer Rezession führt, es sei denn, das Ausland übernimmt den Gegenpart zu den Sparwünschen und verschuldet sich entsprechend hoch im Inland.

Die Illusion der gleichzeitigen Ersparnis aller Wirtschaftsakteure

Denn nicht alle Wirtschaftsakteure können gleichzeitig sparen. Versuchen sie es, stellt jeder fest, dass ihm die Einnahmen wegbrechen, die Voraussetzung für seine Sparpläne sind. Und das setzt unweigerlich eine wirtschaftliche Abwärtsspirale in Gang (Auf-Eis-Legen von Investitionsvorhaben der Unternehmen, Angstsparen der privaten Haushalte), in deren Verlauf unfreiwillige Verschuldung einsetzt, nicht zuletzt des Staates wegen sinkender Steuereinnahmen und steigender Sozialausgaben.

Der rechenlogische Zusammenhang, der nur wegen statistischer Lücken empirisch nicht jederzeit vollständig erfüllt ist, gilt selbstverständlich in jeder Zeitperiode. Das führt dazu, dass auch die Bestandsgrößen, die aus den Finanzierungssalden folgen, nämlich einerseits die Summe der Netto-Schuldenstände einzelner Sektoren und andererseits die Summe der Netto-Geldvermögensständen aller anderen Sektoren gleich groß sein müssen.

Denn in der Welt insgesamt ist die Summe aller Schulden notwendigerweise so groß wie die Summe aller Geldvermögen. Beides zusammen addiert sich stets zu Null. Der IWF ist also bei seiner Sorge um die Defizite und Schuldenstände von Staatshaushalten automatisch um die Ersparnisbildung und die Geldvermögensbestände anderer Sektoren besorgt, ob er das nun dazu sagt oder nicht.

Für wen macht der US-amerikanische Staatshaushalt Schulden?

Die Abbildung 2 der Sektorsalden für die USA zeigt, wie eng das staatliche Defizit mit den anderen Salden zusammenhängt. Der einzige Überschuss der US-Regierung zu Anfang des 21. Jahrhunderts war nur möglich, weil genau zu dieser Zeit die privaten Haushalte ihre Sparquote auf unter null absenkten und auch die Unternehmen merkliche eigene Defizite akzeptierten. Auch in den beiden großen Krisen danach, in der globalen Finanzkrise und beim Corona-Schock, entwickelte sich der staatliche Saldo spiegelbildlich zu den Salden der Privaten (Unternehmen und Haushalte).

Bei einer isolierten Betrachtung des amerikanischen Staatshaushalts wird aber nicht nur das binnenwirtschaftliche Geschehen außer Acht gelassen, es wird obendrein auch der internationale Zusammenhang ignoriert.

Die Folgen der US-Verschuldung für den internationalen Markt

Die USA weisen seit Anfang der 1980er-Jahre durchweg Defizite in der Leistungsbilanz aus, was nichts anderes heißt, dass der Staat die dadurch an das Ausland verlorene Nachfrage auch noch ersetzen muss, wenn er eine Dauerrezession vermeiden will. Umgekehrt verhält es sich in den Überschussländern wie Deutschland. Sie können sich viel eher eine Konsolidierung der Staatsfinanzen leisten, weil bei ihnen das Ausland einen Teil der notwendigen Verschuldung übernimmt.

Eine Kritik des US-amerikanischen Staatsdefizits muss folglich zugleich auch auf die internationalen Handelsbeziehungen blicken. Zu kritisieren sind hier die Länder, die seit Jahren im Vergleich zu ihrer Wirtschaftskraft bedeutende Handelsüberschüsse entweder direkt mit den USA oder indirekt über Drittmärkte erzielen. Wie schwer sich der IWF mit diesem Zusammenhang tut, wird deutlich, wenn man seine Kritik in Hinblick auf das US-amerikanische Staatsdefizit mit derjenigen vergleicht, die er an China übt.

Die Rolle von China in der globalen Wirtschaft

Die amerikanische Verschuldungsbereitschaft sei schlecht, weil sie das Zinsniveau auch andernorts erhöhe (sogenannte Zins-Spillovers). Die chinesische Wirtschaftsentwicklung bereite Sorge, weil das sich dort verlangsamende Wachstum und finanzielle Turbulenzen (gemeint ist der chinesische Immobiliensektor) das globale Wachstum und den Welthandel belasten und damit Staaten beeinträchtige, die starke Handels- und Finanzbeziehungen zu China pflegten.

Ja, was denn nun, möchte man die Autoren des IWF-Berichts fragen. Soll der chinesische Staat jetzt mehr Geld ausgeben, um durch höhere Nachfrage das Importvolumen anzuregen zugunsten von Exportländern wie Deutschland, und dafür eine höhere öffentliche Verschuldung eingehen, also das tun, was der IWF bei den USA kritisiert?

Oder soll sich der chinesische Staatshaushalt zur Reduktion des weltweiten Schuldenberges stärker zurückhalten und damit einen Aufschwung auch anderswo in der Welt gefährden? Denn den Privaten kann selbst der IWF nirgendwo in der Welt vorschreiben, dass sie sich zu verschulden haben. Was also möchte uns der IWF sagen?

Die Auslassung Japans in den IWF-Warnungen

Dass der am höchsten verschuldete Staatshaushalt der Welt, der Japans nämlich, bei den Warnungen des IWF vor den Gefahren der öffentlichen Schuldenberge im Gegensatz zu denen der USA und Chinas nicht an prominenter Stelle vorkommt, ist für den Laien erstaunlich und bei der isolierten Betrachtung von Staatsdefiziten eigentlich erklärungsbedürftig.

Bei einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung hingegen liegt die Erklärung auf der Hand: Japan ist ausweislich seiner Leistungsbilanzüberschüsse ein international wettbewerbsfähiges Land. Die Kapitalmarktzinsen gehören u. a. deshalb zu den niedrigsten der Welt.

Die Risiken hoher öffentlicher Schuldenstände

Und das liefert den Schlüssel zur Beantwortung der Frage, wann hohe öffentliche Schuldenstände gefährlich für ein Land, für seine Handelspartner und die internationalen Finanzmärkte insgesamt werden können. Das ist dann der Fall, wenn die Verschuldung zwischen ganzen Ländern immer größer im Vergleich zu ihrer Wirtschaftskraft wird – übrigens ganz egal, welcher Sektor oder welche Sektoren eines Landes die Nettoschuldner gegenüber dem Ausland sind, ob es sich also um öffentliche oder private Schulden handelt, die ein Land im Ausland hat.

Schwindet die Aussicht, dass ein hoch im Ausland verschuldetes Land bzw. seine Wirtschaftsakteure in der Lage sind, ihrem Schuldendienst nachzukommen, dann steigt das Risiko für Turbulenzen an den Finanzmärkten, allen voran den Devisenmärkten, und für gravierende realwirtschaftliche Verwerfungen hauptsächlich in dem verschuldeten Land.

Die Notwendigkeit, Handelsungleichgewichte zu betrachten

Bevor deshalb das neoliberal gefärbte Hohelied gegen Staatsdefizite angestimmt und die Angst vor steigenden öffentlichen Schuldenständen geschürt wird, sollten daher die Ursachen von Handelsungleichgewichten in den Blick genommen werden. Sie sind gleichermaßen von unfairen Machtverhältnissen auf internationalen Gütermärkten wie auch von Rohstoffpreis- und Wechselkursentwicklungen geprägt, die durch spekulative Geschäfte von Investmentbankern dominiert werden.

Dass der IWF über diese Ursachen im Vorwort und in der Zusammenfassung seines Berichts kein Wort verliert, stellt entweder der Analysefähigkeit seiner Autoren oder der Neutralität ihres Standpunktes ein schlechtes Zeugnis aus.