Angstparadox: Wer hat am meisten Angst vor Kriminalität?

Mit steigender Einkommensungleichheit in einem Land wächst die Angst bei den Angehörigen der Mehrheit

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Das Phänomen bzw. das Paradox ist bekannt. Angst herrscht nicht dort vor, wo am meisten Anlass besteht, sondern eher dort, wo man sich nur bedroht sieht. Ähnlich ist dies bei Flüchtlingen, Fremden oder Muslimen, was seit Pegida und den osteuropäischen Ländern deutlich geworden ist. Je weniger Ausländer es gibt, desto größer die Ablehnung. Die Frage ist, ob sich solche Paradoxien verallgemeinern lassen, also ob möglicherweise die Angst in der Vorstellung größer ist als das Wissen um eine höhere Gefährdung?

Christin-Melanie Vauclair und Boyka Bratanova sind der Fragstellung mit einer europaweiten Erhebung über die Angst vor Kriminalität nachgegangen. Ausgangspunkt für die Studie, die im European Journal of Criminology erschienen ist, war die verbreitete Hypothese, dass in Ländern, in denen die Einkommensungleichheit höher ist, auch die Angst vor Kriminalität erhöht ist. Meist würde man auf der individuellen Ebene von der Verletzlichkeitshypothese ausgehen, also dass ältere und behinderte Menschen, Frauen, Angehörige von Minderheiten größere Angst hätten, weil sie sich körperlich oder sozial im Nachteil sehen.

Eine weitere verbreitete Annahme ist, dass mit der Größe der Einwandererpopulation in einem Land auch die Angst vor der Kriminalität steigt. Die Autoren verweisen auf das Angstparadox, dass zwar Männer sehr viel häufiger Opfer von Gewalt als Frauen werden, letztere aber eher Angst davor haben, weil sie sich schwächer fühlen. Ein ähnliches Paradox lässt sich bei älteren Menschen beobachten. Verständlicherweise scheinen Menschen mit körperlichen Behinderungen und Angehörige von Minderheiten eher Angst zu haben, Opfer von Gewalt werden zu können.

Als Standardfrage zur Erfassung gilt, wie sich jemand fühlt, alleine in der Nacht durch ein Gebiet zu gehen. Zusätzlich wurden zur Angst vor Kriminalität noch die Antworten auf die Fragen hinzugezogen, wie oft man Angst hat, dass Diebe die Wohnung eindringen können, und ob man Angst davor hat, Opfer von Gewalt zu werden. Die empfundene Angst verbanden die Wissenschaftler mit soziodemografischen Gruppen und der gesellschaftlichen Ungleichheit nach dem Gini-Koeffizienten, dem Human Development Index (HDI) und der Verbrechensrate.

Ganz klar ergab die Auswertung eine Verbindung der Angst vor Kriminalität mit der Höhe der Einkommensungleichheit, der HDI spielt jedoch keine Rolle, auch der Grad der Urbanisierung nicht. Es gibt hier allerdings auch einige Ausreißer. So ist in der Slowakischen Republik die Angst sehr hoch, aber die Ungleichheit relativ gering. Am höchsten ist die Angst in Griechenland und Bulgarien, obgleich hier die Ungleichheit deutlich niedriger ist als etwa in Russland oder in der Türkei. Bestätigt hat sich, dass ältere Menschen, solche mit Behinderung und Frauen eine höhere Angst empfinden als der Durchschnitt, auch wer bereits Opfer wurde oder ein Opfer kennt, gibt höhere Angst an. Ebenso scheint die Bildung eine Rolle zu spielen. Mit geringerer Bildung wächst die Angst, aber die Menschen in den Städten haben größere Angst.

Überraschenderweise ist die Angst bei den Angehörigen einer Minderheit allgemein nicht höher. Mit steigender Einkommensungleichheit wächst hingegen die Angst bei den Angehörigen der Mehrheit. Die Angst wird nicht alleine von der Kriminalitätsrate in einem Land bestimmt, sondern durch Einkommensunterschiede, "die Überzeugungen verstärken, dass Gewalt eine wahrscheinliche und gangbare Möglichkeit ist, die Statusdeprivation auszugleichen".

Die Reicheren, so scheint es, gehen von der Annahme aus, dass die Ärmeren geneigt sind, ihren Status durch Gewalt verändern, weil sie ihre Armut bzw. den Reichtum der anderen als ungerecht empfinden. Möglicherweise haben sie auch größere Angst vor ethnischen Minderheiten. Offenbar ist die Angst vor der Kriminalität von Migranten nicht abhängig vom Reichtum bzw. von dem BIP eines Landes. Insgesamt sehen die Autoren ihre Vermutung bestätigt, dass hohe Einkommensungleichheit eine Klima der Angst und des Misstrauens schafft, weil das Bewusstsein verbreitet sei, dass die Benachteiligten kaum legale Chancen haben, sich Wohlstand oder einen besseren gesellschaftlichen Status zu verschaffen.