Anti-Umwelt-Aufstand?

Um das durch Überweidung gefährdete Quellgebiet wichtiger Flüsse zu schützen, betrieb China ein Sesshaftmachungsprogramm für tibetische Nomaden

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Die Unruhen, die in den letzten Tagen im Süden der Volksrepublik China ausbrachen, beschränken sich nicht auf die Autonome Region Tibet, scheinen aber eines gemeinsam zu haben: In allen betroffenen Gebieten lebt ein mehr oder weniger starker tibetischsprachiger Bevölkerungsteil, von dem offenbar die Brandstiftungen und die Gewalt ausgingen. Die Opfer waren den spärlichen, unabhängigen Augenzeugenberichten zufolge dagegen (zumindest bis zum Eingreifen der Polizei) ganz überwiegend ethnische Han (Chinesen).

Tibetisch ist eine mit dem Birmanischen verwandte Sprache mit etwa 6 Millionen Sprechern. In der Autonomen Region und in den überwiegend tibetisch besiedelten Gebieten der angrenzenden Provinzen Qinghai, Sichuan Gansu und Yunnan ist es neben Mandarin Amtssprache. In diesen im Norden und Osten an die Autonome Region angrenzenden Arealen leben mehr als die Hälfte der tibetischsprachigen Einwohner Chinas. Tibetische Dialekte werden außerdem in Bhutan, Nepal und im indischen Ladakh gesprochen. In der Autonomen Region liegt der tibetischsprachige Bevölkerungsanteil bei über 90 und der der Han bei etwa 6 Prozent – sie konzentrieren sich vor allem in Lhasa und im südöstlich gelegenen Nyingchi.

Tibet und China

Tibet gelangte um 1720 aus dem mongolischen in den chinesischen Herrschaftsbereich, blieb aber – da wirtschaftlich uninteressant - weitgehend sich selbst überlassen. 1904 versuchte das britische Empire über ein Expeditionscorps seinen Einflussbereich auf den Mönchsstaat auszudehnen, erkannte aber nach Handelszugeständnissen 1907 die chinesische Oberhoheit über das Gebiet an. Als der Sturz des Kaisers 1911 eine fast vierzigjährige Unruheperiode in China einläutete, vertrieb der damalige Dalai Lama 1912 die chinesischen Truppen. Durch die Abtretung eines Gebiets im heutigen Arunachal Pradesh sicherte er sich das Wohlwollen der Kolonialmacht im Süden und schuf die Grundlage für Grenzstreitigkeiten zwischen China und dem späteren Indien.

Vorerst aber war das ehemalige Kaiserreich anderweitig beschäftigt: Die politische Situation nach dem Umsturz war alles andere als stabil und von 1916 an gab es dort nur sehr bedingt Zentralregierungen - dafür aber Warlords und politische Milizen, die gegeneinander in den Krieg zogen. Erst 1950, ein Jahr nachdem Mao den langen Bürgerkrieg beendet hatte, marschierte die Volksbefreiungsarmee in das unwirtliche Gebiet ein – auch deshalb, weil es nun als militärisches Bollwerk dienen sollte.

Wichtige Volksgruppen in China

Die religiösen Herrscher hatten aus Tibet nach dem Abzug der Briten und der kaiserlichen Truppen einen verbotenen Gottesstaat gemacht – unter den insgesamt nur sechs Ausländern, die sich beim chinesischen Einmarsch in Tibet befanden, waren der aus Britisch-Indien geflohene SS-Sportinstruktor Heinrich Harrer und sein Landsmann Peter Aufschnaiter. Harrer, der es wissen musste, beschrieb die Herrschaft der Mönche als "strenge Diktatur". Der Grundbesitz lag in großen Teilen in den Händen der Klöster und weniger Hundert adliger Familien, die frei über die Pacht entscheiden konnten, welche die Bauern dann an sie zu zahlen hatten. Die sozialen und ökonomischen Unterschiede wurden religiös gerechtfertigt: Wem es gut ging, der hatte in den vorangegangenen Leben viel gutes Karma gesammelt - wem es dagegen schlecht ging, der musste das auf selbst gemachte vorgeburtliche Fehler zurückführen.

Das Rechtssystem kannte zahlreiche Körperstrafen wie Auspeitschung, Blendung und Verstümmelung (die Harrer noch als Augenzeuge erlebte), und das in den Händen der Mönche befindliche Bildungsmonopol sorgte dafür, dass selbst der winzige alphabetisierte Bevölkerungsteil kaum Wissen über Natur, Technik und den Rest der Welt hatte.

Am 24. Oktober 1951 stimmte die tibetische Regierung einer Wiedereingliederungsvereinbarung zu, in der dem Gebiet weitgehende Autonomierechte zugesichert wurden. Tatsächlich sparte es die chinesische Regierung weitgehend von den in den 1950er Jahren begonnenen Reformen aus. Konfliktpotential entwickelte sich eher in jenen Gebieten, die Teile chinesischer Provinzen waren. Als dort versucht wurde, Steuern einzuführen und traditionelle Bewirtschaftungsmethoden zu verändern, weigerten sich vor allem die Khampa mit militärischen Mitteln – und mit Unterstützung durch die CIA.

1959 rebellierte auch Lhasa – allerdings militärisch wenig erfolgreich, weshalb der Dalai Lama anschließend nach Indien floh. Der Geheimdienst zahlte noch einige Zeit an tibetische Freischärler in Nepal, begrub das Projekt aber angeblich, nachdem Nixon seine Pingpong-Diplomatie begonnen hatte. 1987, zur Zeit der "Wirtschaftsreformen" Deng Xiaopings, kam es erneut zu Unruhen und zur Ausrufung des Ausnahmezustandes, der zwei Jahre lang aufrecht erhalten wurde.

Bis auf die Epoche der Kulturrevolution, in der (wie in anderen Teilen Chinas auch) Klöster zerstört wurden, zeichnete sich die chinesische Politik in Tibet eher durch den Versuch der Nutzbarmachung religiöser Eliten aus.1 Ein Grund für den Aufstand könnte deshalb möglicherweise nicht nur in religiös-kulturellen, sondern auch in ökonomisch-kulturellen Problemen liegen.

Kalt, trocken und überweidet

Dadurch, dass der Monsun am Himalaya Halt macht, ist das tibetische Hochland überwiegend trocken, teilweise auch unbewohnte Wüste – vor allem im Nordwesten. Durch die hohen Lagen ist es auch sehr kalt. Der Boden eignet sich deshalb fast ausschließlich zur extensiven Weidewirtschaft, in einigen Tälern auch zum Anbau von Gerste.

Die Tibeter verbindet zu einem großen Teil nicht nur die Sprache und der lamaistische Buddhismus, sondern auch eine nomadische Kultur. Sie ist eines der zentralen Probleme der Autonomen Region und vor allem der angrenzenden Provinzen: Aufgrund der Regelungen für ethnische Minderheiten waren Tibeter von der Ein-Kind-Politik ausgenommen, was im Zusammenhang mit der nach 1950 neu eingeführten medizinischen Versorgung zu einem starken Bevölkerungsanstieg führte. Seit Ende der 1950er wuchs ihre Zahl um mehr als das Doppelte. Ihr Viehbestand stieg in noch wesentlich stärkerem Ausmaß.

Durch die Beibehaltung der nomadischen Lebensweise führte das zur zunehmenden Überweidung. Wie manchen afrikanischen Volksgruppen gelten Nutztiere den Tibetern als eine Art Prestigewährung, was dazu führte, dass Appelle zur freiwilligen Begrenzung des Viehbestandes bisher scheitern.

Auch die in den letzten Jahrzehnten von Peking initiierte Aufforstungs- Wald- und Wasserschutzinitiativen, welche das potentiell verfügbare Weideland verringern, stießen bei der nomadischen Bevölkerung nicht überall auf Begeisterung. Die chinesische Regierung versuchte deshalb alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für die Sprösslinge der tibetischen Nomaden zu finden - unter anderem im durch die 2006 eröffnete Lhasa-Bahn wesentlich beförderten Tourismus und im Bergbau.

Um das Quellgebiet wichtiger Flüsse in den Bergen von Qinghai zu schützen, begann China 2003 auch ein Programm, in dessen Rahmen mehr als 100.000 tibetische Nomaden sesshaft gemacht werden sollten. Es sollte in zwei Jahren abgeschlossen werden. Human Rights Watch zufolge stieß es jedoch auf großen Widerwillen bei den Betroffenen. Welche genaue Rolle die Umweltschutzumsiedlungen für die jüngsten Unruhen tatsächlich spielten, ist noch nicht bekannt. Allerdings spricht einiges dafür, dass sie zumindest dazu beitrugen, dass in den Städten und Dörfern Schichten entstanden, die als Unruheträger fungieren konnten.