Arbeit in der Informationsgesellschaft

Eine halbe Million Arbeitsplätze im IT-Sektor unbesetzt

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Ein Bericht der Europäischen Kommission über Arbeitsmöglichkeiten in der Informationsgesellschaft sieht rosige Hoffnungsstreifen, aber warnt auch davor, daß Europa mangels in Informationstechnologien ausgebildeten Arbeitskräften zurückfallen könnte. Schon jetzt seien EU-weit angeblich 500000 Arbeitsplätze im boomenden Wirtschaftssektor unbesetzt.

In Auftrag gegeben wurde der Bericht während des EU-Arbeitsgipfels in Luxemburg, der im November 1997 stattfand, und er sagt, daß alles für den Weg der EU in die Informationsgesellschaft eigentlich ganz gut aussehe. Man stehe ja erst am Beginn der Informationsrevolution, aber schon seien die Informationstechnologien zu einem der größten und am schnellsten wachsenden Sektoren geworden, der bereits über 5 Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts erzeugt.

Die Unternehmen der Informationsgesellschaft - "IS companies" - schaffen neue Arbeitsstellen, neue Produkte und neue Dienstleistungen, treiben das Wirtschaftswachstum voran und stärken die europäische Wettbewerbsfähigkeit: "Der Sektor ist in Europa führend bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze: über vier Millionen Menschen arbeiten in diesem Sektor. Zwischen 1995 und 1997 wurden mehr als 300000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, die mit der Informationsgesellschaft zusammenhängen. Daher schafft der IS-Sektor jeden vierten Nettoarbeitsplatz in der EU."

Insgesamt sieht der Bericht ein riesiges Potential an neuen Arbeitsplätzen in der Informationsgesellschaft. Allein der europäische Markt für audiovisuelle Produkte soll bis zum Jahr 2005 um 70 Prozent wachsen und 300000 neue Jobs bringen. Wenn alle EU-Staaten die Durchdringungsdichte mit Mobiltelephonen wie Finnland erreichen, könnte man noch einmal 150000 Jobs mehr schaffen. Und mit der Abschaffung der Telekom-Monopole kehre sich allmählich der Trend zum Stellenabbau um und werden durch neue Marktsegmente und neue Anbieter auch wieder neue Arbeitsplätze entstehen. Das Internet und der E-Commerce versprechen überdies "signifikante" Arbeitsmöglichkeiten, die man noch gar nicht abschätzen kann.

Alles ist also gut im Euro-Land, um die "potentiellen Chancen" zu nutzen. Um das noch deutlicher zu machen, sind es gleich die "potentiellen Chancen, die existieren". Man hört bei solchen umwegigen Formulierungen schon den nagenden Zweifel, den man hat oder aussäen will. Jedenfalls habe die EU mit "dem größten Markt in der Welt, mit einer einzigen Währung, mit liberalisierten Telekommunikationsmärkten, mit einer starken Stimme auf der Bühne der Welt und mit einem vielfältigen, kreativen und innovativen Reservoir von Talenten alle Ingredienzen für einen anhaltenden Erfolg."

Nachdem wir uns dann erst einmal gepriesen haben, folgt dann sogleich die Warnung: gut sieht es nur aus, wenn die EU entschieden das Beste aus der sich schnell verändernden IT-Industrie macht. Schon jetzt fehlt die halbe Million Menschen für angeblich existierende Arbeitsplätze, die unbesetzt bleiben, weil die entspechenden Fachkräfte fehlen. Eine ähnliche Rechnung haben vor kurzem auch die USA aufgemacht - und dann die zeitlich begrenzten Visa für aus dem Ausland kommende Spezialisten erhöht. Kritiker sind der Meinung, daß der Druck der IT-Industrie auf Erhöhung dieser Arbeitsvisa weniger aus einem tatsächlichen einheimischen Arbeitskraftmangel entstehe, sondern weil man einfach billigere Arbeitskräfte suche. Wie auch immer: auch der Bericht droht ähnlich, daß die Märkte heute global seien und daß man riskiere, Jobs, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren, wenn man nicht schnell seine Stellung ganz vorne im Informationszeitalter sichert.

Was also sind die Zauberformeln des Informationszeitalters: Entwicklung einer Unternehmenskultur, in der allerhand Neues mit der Finanzierung durch Risikokapital aufblühen kann; Organisationsveränderungen, um die "Kreativität und Innovation der Arbeitskraft freizusetzen"; Förderungen der technischen Kompetenz durch "Zugang zur Infrastruktur, zur technischen Ausrüstung und zur Software für alle Schulen und Universitäten, Unternehmen, kleine Firmen und Gemeinden". Natürlich auch eine bessere Ausbildung, mehr Plätze an der Universität - der OECD-Bericht hat da mal wieder auf die deutsche Schwachstelle hingewiesen -, lebenslanges Lernen und Umschulungsmaßnahmen. Das klingt freilich so neu alles nicht.

Bis 1999 sollen die EU-Mitgliedsstaaten ihr Programm zur Entwicklung der Informationsgesellschaft unter besonderer Berücksichtung der oben genannten Punkte entwickeln. Die Unternehmen der Informationsgesellschaft sind zur Mitarbeit aufgefordert und sollen die ihr zustehenden führende Rolle einnehmen, aber auch die Sozialpartner sind gefragt, Modernisierungsstrategien für die Wissensgesellschaft anzubieten. Diese "konzertierte Aktion" soll ihre Ergebnisse und ihre Empfehlungen bis zum Europäischen Treffen in Helsinki im Dezember 1999, also symbolisch knapp oder gerade noch der Jahrtausendwende, wieder einmal in einem Bericht vorlegen. Immerhin will die Europäische Kommission alle dafür entstandenen Beiträge auf einer Website der Öffentlichkeit zugänglich machen - und inzwischen besteht weiterhin das Problem des jobless growth, der steigenden Langzeitarbeitslosigkeit und vor allem der Jugendarbeitslosigkeit, was ein anderer, ebenfalls jetzt veröffentlichter Bericht für die Kommission als typisch für die EU bezeichnet hat.

Deutschland scheint zumindest nach dem OECD-Bericht die Informationsgesellschaft bislang weitgehend verschlafen zu haben. Kommen in Großbritannien 10 bis 13 Schüler auf einen Computer, so sind es hierzulande vier Mal soviel. Das hat Deutschland etwa mit Griechenland oder Portugal gemeinsam. Auch in der Jugendarbeitslosigkeit weist Deutschland gegenüber anderen Ländern ein Defizit aus. Zumindest im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt liegen die Bildungsausgaben unter dem Durchschnitt der übrigen Industriestaaten.