Arbeiten ohne Arbeitsplatz

Selbstangestellte könnten die Antwort auf eine neue Wirtschaftslandschaft sein, in der die feste Stelle immer seltener wird.

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Einem ratlosen Automechaniker gleicht die Politik und Wirtschaft angesichts hartnäckiger Arbeitslosenzahlen: Hier und da wird an einem Schräubchen gedreht, ein Ventil gewechselt, aber der Wagen mag immer noch nicht so recht anspringen. Während die einen glauben, mit finanziellen Entlastungen für Unternehmen, Investitionen anzuschieben, um Arbeitsplätze zu schaffen, glauben andere das Lohnniveau und Arbeitsplätze künstlich zu erhalten, weil dadurch der Konsum zumindest gleichbleibt. Die Folge sei eine Belebung des Marktes. Das Dilemma ist perfekt, wenn Investitionen zu weiteren Rationalisierungen führen oder subventionierte Arbeit eine Erholung des freien Marktes verhindert.

Siehe auch Selbstangestellte: Im freien Fall? von Jörg Wurzer

Einige Volkswirtschaftler, Philosophen und Soziologen geben diesen Ansätzen keine Chance. "Die Politik versucht nicht nur, Probleme des Jahres 2010 mit den Mitteln der 50er Jahre zu reparieren, auch rein technokratische Ansätze sind gerade in ihrer Einseitigkeit von einem modernen Paradigma geprägt", kritisiert Dr. Dr. Theodor Pindl, Präsident des European Telecoaching Institutes in Freiburg. Da werde auf die Informationsgesellschaft nach dem Motto reagiert "Die Technik wird's schon richten" oder "Jeder Schüler muß heute einen Laptop haben." Wer sich in der Umbruchsituation der ausgehenden Industriegesellschaft behaupten will, muß sich auf lebenslanges Lernen einstellen. "Das Wissen und die individuellen Fertigkeiten werden die einzige Quelle jeglichen Wettbewerbsvorteils sein, wie es zum Teil heute schon der Fall ist", glaubt Pindl. Wissen könne ein Unternehmer aber nicht mehr besitzen und anhäufen wie Kapital. Immer kürzer läuft das die Zeit bis zum "Verfallsdatum" des Wissens ab. Kooperatives Wirtschaften bietet sich an, bei dem gleichberechtigte, selbständige Partner zusammenkommen.

Portfolio work und Capuccino working

Der eigene Schreibtisch, das feste Gehalt und der sichere Vertrag: Das alles gerät ins Fließen, so wie sich auch die Unternehmen wandeln mußten. Unternehmen überlassen einzelne Aufgaben ihren Zulieferern, schließen sich projektweise zu neuen Netzwerken zusammen oder übertragen Selbstverantwortung durch Franchising. "Eine entsprechend tiefgreifende Redefinition und Umdeutung der Arbeit, die über die Forderung nach Flexibilisierung und Informatisierung hinausgeht, hat nicht, noch nicht stattgefunden, zum Nachteil des Arbeitnehmers", meint Professor Peter Gross, Vorstand der volkswirtschaftlichen Abteilung an der Hochschule St. Gallen. Mit anderen Worten: Ein neues Arbeitsverständnis muß her, weg von der "monogamen Kodierung der Arbeit" mit einem Arbeitgeber, einem Beruf und einem Vollzeitjob. "Portfolio work" nennt Gross die Alternative. Eine einzelne Person erwirbt mehrere Fähigkeiten und arbeitet für gleich mehrere Unternehmen. Nicht nur hochkarätige Fachkräfte wie Ingenieure oder Betriebswirtschaftler könnten auf diese Weise arbeiten, sondern auch mehrere Aushilfsjobs ließen sich so zu einer tragfähigen Existenz miteinander verbinden.

"Viele Menschen kommen damit noch nicht zurecht", gibt Stephan Zinser zu bedenken, der am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart das Projekt "Office 21" leitet. Vom Portfolio Worker werde viel Eigenverantwortung und Zeitdisziplin verlangt. Unterstützung könnte ein Portfolio Agent leisten, der, ähnlich wie für einen Musiker, Aufträge heranzieht.

Als alternative Lösung für einen engen und veränderten Arbeitsmarkt schlägt Zinser und sein Office-21-Team das "Capuccino Working" vor. Wie der Kaffee Voraussetzung für den Capuccino ist, soll bei diesem Modell eine Person einen festen Arbeitsplatz haben, mit dem sie sich ein Grundeinkommen verdient. "Das gibt die Sicherheit, die viele Menschen brauchen", erklärt Zinser die Idee. Zu diesem Basis-Job, der vielleicht 20 Stunden in der Woche in Anspruch nimmt, kann jeder dann mehrere Nebentätigkeiten verbinden, sozusagen die Sahne und Streusel zum italienischen Kaffee: Hier eine Aushilfe in einem Modegeschäft, da eine Sekretariatsdienstleistung für einen Unternehmensberater. Die Nebentätigkeiten bieten neben dem zusätzlichen Einkommen auch ein Stück mehr Sicherheit. Fällt ein Aufgabenbereich weg, weil beispielsweise ein Projekt abgeschlossen wurde, steht der Capuccino Worker nicht vor dem Nichts, sondern wird aufgefangen. Ohnehin sei für Zinser mehr und mehr davon auszugehen, daß durch projektorientiertes Arbeiten die Auslastung im hohen Maße wechselt. Mal tagelang bis spät in den Abend zu arbeiten und dann wieder Leerlauf zu haben, wird ganz normal sein. Letzterer würde dann beispielsweise für Weiterbildung genutzt.

"Nicht der Arbeitsplatz ist das Problem", meint Peter Fischer, EDV-Berater und Autor des Buches "Arbeiten im virtuellen Zeitalter". Die Diskussion lenke vom eigentlichen Thema ab: dem Gewinnerwerb für den Lebensunterhalt. Auch Fischer sieht eine Zukunft für den "Selbstangestellten", der auf seine eigene Rechnung arbeitet. "Heute kann man die Informationen leicht zum Mitarbeiter bringen", begründet Fischer den Trend. Früher habe der Mitarbeiter täglich die Information aufsuchen müssen, sprich: Akten und Archive in einem Unternehmen. Kleine Unternehmen hätten dadurch die Chance, große Projekte auf die Beine zu stellen, indem das eigene Team kurzfristig mit Selbstangestellten erweitert wird, die von ihrem eigenen Small Office aus dem Unternehmen zuarbeiten.

Glaubt man den Analysen über eine veränderte Arbeitswelt, so wird eine Politik scheitern, die an der einen oder anderen Schraube der Wirtschaft versucht zu drehen. Vielmehr gilt es, alternative Formen der Arbeit zu fördern. Zu tun gibt es genug. "Es gibt die Touristen, die tatsächlich heute schon global vernetzt, vielsprachig, flexibel und jenseits von Ort und Zeit auf Marktanforderungen reagieren können, und hierzu zählen sicherlich selbständige und Teleworker", ist Dr. Dr. Theodor Pindl überzeugt. Doch es gebe auch die Schattenseite: Da seien die "Vagabunden", die an Ort und Zeit gebunden sind, denen Lernen schwer fällt und die oft als Globalisierungsverlierer gelten. Pindl: "Die Problematik nimmt an Komplexität noch dadurch zu, daß sich virtual countries wie Siemens und Daimler über die Nationen schieben, eine unsichtbare Hand, die die Steuerungskapazität des Staates wenn nicht schon heute, so doch in Zukunft entscheidend lähmen kann."