Armut und Wohnungsnot

Im Bauhaus Dessau wurden die Preise für den 5. Bauhaus Award zum Thema "Wohnungsnöte" verliehen

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Temuco explodiert. Temuco, 670 südlich von Santiago de Chile gelegen, zählt heute rund 300.000 Einwohner. Vor 15 Jahren waren es noch 25.000. Temuco ist damit eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt, und das Wachstum konzentriert sich auf die Slums. Die Hütten dort haben im Durchschnitt 25 Quadratmeter, auf denen, wieder im Durchschnitt gerechnet, neun Menschen leben.

Steps n’ Labs von Ralf Pasel und Frederik Künzel

Doch für mehr als 400 Familien in Temuco besteht Hoffnung. Von der UN und Sponsoren gefördert entsteht dort auf einer Fläche von sechs Hektar eine neue Siedlung, deren Entwurf die beiden Architekten Ralf Pasel und Frederik Künzel lieferten und sich mit diesem den ersten Preis beim 5. Bauhaus Award sicherten (siehe: Wohnungsnöte). Das Prinzip: Man errichte jeweils im Abstand von drei Metern eine dreistöckige Serviceeinheit, 1,20 Meter breit und acht Meter tief, baue dort Treppen ein und die technische Infrastruktur. Um eine komplette Wohnung zu erhalten, bedarf es dann nicht mehr viel: Eine zwischen zwei Serviceeinheiten gehängte Decken und zwei Fassaden ergeben eine 30-Quadratmeter-Wohnung, bei Bedarf zwei Mal aufstockbar.

Was die Arbeit von Pasel und Künzel heraushebt, ist ihr komplexer Ansatz. Keinem der künftigen Bewohner wird etwas aufgezwungen, sondern sie sind bereits in der Planungsphase beteiligt. Von ihnen wird erwartet, dass sie – auf fünf Jahre gestreckt – einen kleinen Beitrag der Baukosten von 7500 Dollar je Haus übernehmen und bei dessen Errichtung helfen.

Das Temuco-Projekt sollte sich als um so bemerkenswerter erweisen, als dass es eine schlüssige Antwort gab auf ganz konkrete Wohnungsnöte. 900 Millionen Menschen, so hieß es in der Ausschreibung des von der Stiftung Bauhaus Dessau initiierten Wettbewerbs, lebten heute weltweit in den Slums. Tendenz: steigend. Dies überhaupt zum Thema zu machen, sicherte dem diesjährigen Bauhaus Award eine ungewöhnlich große Resonanz sowohl in den Medien als auch bei der Beteiligung. Mehr als 100 Arbeiten aus 25 Ländern wurden eingereicht.

Auffällig jedoch: Der Kontinent, mit den ärgsten Wohnungsnöten, der Kontinent, in dem nach Schätzungen der UN-Organisation Habitat schon 2030 rund 80 Prozent der Stadtbewohner in Slums hausen werden, blieb außen vor. Nur eine einzige Arbeit beschäftigte sich mit Afrika, und die erreichte keine Nominierung. Dabei war die Aufgabenstellung bewusst weit gefasst worden. Nicht nur praktikable Lösungen waren gefragt, sondern ebenso künstlerische Annäherungen an das Thema, soziologische, wirtschaftliche, politische Analysen, Dokumentationen.

Portraits from Above von Rufina Wu und Stefan Canham

Eine solche Dokumentation von Wohnungsnot inmitten einer prosperierenden Stadt, inmitten von Hongkong, lieferten die Architektin Rufina Wu und der Fotograf Stefan Canham mit ihren "Portraits from Above", für die sie den dritten Preis zugesprochen bekamen. Bauplätze in Hongkong sind rar. Die seit Jahrzehnten aus China herein strömenden Flüchtlinge suchen indes billige Unterkunft – und finden sie in Hüttensiedlungen – auf den Dächern von Hochhäusern, von Zehngeschossern ohne Lift. Bis zu 40 aus Wellblech und anderen Billigmaterialien errichtete Wohnungen, verbunden über labyrinthische Gänge, haben Platz auf einem einzigen Dach; über 30.000 sollen es in ganz Hongkong sein. Das Ende dieser Dachwohngemeinschaften ist beschlossen, in den kommenden Jahren sollen sie geräumt werden. Wu und Canham bieten keine Lösung an, jedoch einen Appell: die Bedürfnisse der Dachbewohner bei der Stadtsanierung zu berücksichtigen, ihnen den Erhalt sozialer Netzwerke und das Wohnen in zentraler Lage zu ermöglichen.

Mit Wohnungsnöten ganz anderer Art sehen sich junge Leute in Japan konfrontiert. Die Mieten in Tokio haben – der abnehmenden und rapide älter werdenden Bevölkerung zum Trotz – astronomische Höhen erreicht. Zugleich gibt es Wohnungsleerstand, Neubauten aus den 70ern, zumal in ungünstiger Lage, erweisen sich als schwer vermietbar. Jo Nagaska fand einen Auftraggeber, der bereit war, sich angesichts eines schmalen Budgets auf ein Experiment einzulassen. Als Architekt würde er keinen Plan auflegen, sondern vor Ort entscheiden, was zu entfernen sei. Nagaska ließ Leichtbauwände herausreißen, Teppichböden und Tapeten entfernen. Die derart dekonstruierten, quasi in einen neutralen Zustand versetzen Wohnungen wurden auf dem Markt zu günstigen Mieten angeboten. Das Experiment, mit einem zweiten Preis beim Bauhaus Award bedacht, glückte: Die Wohnungen waren gefragt, vor allem bei jungen Menschen und darunter vielen Künstlern und Gestaltern.

Sayama Flat von Jo Nagasaka

Indes: nicht nur der japanische Beitrag ließ zweifeln, ob es sich dabei wirklich um eine "Wohnung für das Existenzminimum von heute" handele – oder nicht eher um eine Wohnung für eine bewusst den Verzicht lebende und nach Alternativen suchende Mittelschicht. Andere soziale Gruppen – Geringverdiener, Kinderreiche, Jugendliche ohne Ausbildung, Rentner, Langzeitarbeitslose – blieben zumindest in den zehn nominierten Arbeiten vollkommen außen vor.

Um so bemerkenswerter deshalb zwei Arbeiten aus Berlin. Katja und Steffi Hoffmann entwickelten einen auf ausführlicher Recherche basierenden "Stadtführer für Obdachlose" (für den sie eine Anerkennung zugesprochen bekamen). Deren Problem, hatten sie erkannt, ist das Abgeschnittensein von Informationen, akut vor allem bei jenen, die gerade ihre Wohnung verloren haben. Ihr Stadtführer stellt genau solche Informationen denen zu Verfügung, die ganz unten angekommen sind (und deren soziale Herkunft im übrigen ziemliche präzise die Sozialstruktur widerspiegelt): Wo sind Wärmestuben zu finden oder Suppenküchen, welche Museen oder Sportstätten bieten wann freien Eintritt?

Zu verblüffen wussten auch die Studentinnen Astrid Smitham und Tilla Baganz, die vorschlugen, im Winter ohnehin geschlossene Freibäder als Unterkünfte für Obdachlose zu öffnen. Was sie letztlich um den Preis brachte, war der zu konkrete Ansatz: Sie planten den Neubau eines Bades.

Innenansicht Hysli von Vigtis Haugdro und Johannes Franciscus de Gier

Neben dem "Stadtführer für Obdachlose" wurde ein sympathisches Projekt außer der Reihe mit einer Anerkennung bedacht. Das Recycling-"Husly" entstand im norwegischen Trondheim als ein Versuch, auf den überhitzten Immobilienmarkt zu reagieren und als Erkundung des Verzichts. Die Künstler Vigtis Haugdro und Johannes Franciscus de Gier montierten aus Europaletten ein 28-Quadratmeter-Haus mit ökologischem Anspruch. Die Konstruktion ist so verblüffend simpel, dass aus der Jury die besorgte Frage kam, wie es um die Statik bestellt sei. Haugtro lachte: "Wir haben immer zwei Schrauben zusätzlich reingedreht."

Der Bauhaus Award wurde von Telepolis unterstützt