Atomkraft - Ja bitte?

Deutschland steigt aus, aber viele andere Länder setzen weiter auf Kernenergie

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Atomkraft in Deutschland - das war und ist eines der größten Dramen der Technikgeschichte. Es handelt von Rationalität und Gefühlen, von Macht und Ohnmacht, von tiefen Ängsten und wütendem Protest. Mit anderen Worten: Das Drama Atomkraft handelt von Menschen - und es ist ein Lehrstück über das Verhältnis von Technologie und Gesellschaft.

Von Wackersdorf bis Gorleben: Keine andere Technologie stieß auf derart erbitterten Widerstand. Die Atomkraft-Debatte riss einen tiefen Spalt auf zwischen Technik und Volk. Auf der einen Seite das kühle Kalkül der Technokraten und Ingenieure, auf der anderen eine leidenschaftliche, hoch emotionale Bewegung, die mit guten Gründen eine Gegen-Vernunft für sich beanspruchte.

Die Auseinandersetzungen prägten eine ganze Generation. Niemand wird vergessen können, wie nach Tschernobyl plötzlich die Kinder nicht mehr in Sandkästen spielen durften. Und kaum ein Symbol politischen Widerstandes ist heute noch so gegenwärtig in den Köpfen wie der gelbe Aufkleber mit der lächelnden roten Sonne: "Atomkraft? Nein danke".

Muss man Deutschlands Atomausstieg vor diesem Hintergrund nicht als erlösenden letzten Akt begreifen? Wir halten es allerdings für sinnvoll, über die Kernkraft noch einmal nachzudenken - und dafür gibt es gute Argumente, wie sie in der Titelstory Atomkraft - Ja bitte? der aktuellen Ausgabe von Technology Review vorgestellt werden. So ist überhaupt noch nicht klar, wodurch die wegfallende Kernenergie ersetzt werden soll. Möglicherweise wäre es deshalb sinnvoll, sie zumindest noch solange zu nutzen, bis ökonomisch und ökologisch einwandfreie Alternativen entwickelt sind. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass, während Deutschland aussteigt, in vielen Teilen der Welt neue Reaktoren geplant sind. Insgesamt, sagt der Sprecher eines Atom-Unternehmens, werden derzeit weltweit 30 neue Kernkraftwerke gebaut.

Und die Forschung geht, wenn auch vor allem im Ausland, weiter: Die nächsten Reaktorgenerationen sollen mehr Sicherheit bringen und womöglich sogar eine weit gehende Lösung des Müllproblems. Vielleicht ist es ein Lobby-Trick, aber im Raum steht auch das Versprechen, Atomkraft für eine ungekannt effiziente Erzeugung von Wasserstoff einsetzen zu können. Damit ließe sich die Vision einer umweltfreundlichen Brennstoffzellen-Wirtschaft verwirklichen, die obendrein ohne Rohstoffe aus Krisenländern auskommt.

Wer Atomkraft in Deutschland wieder auf die Agenda setzen will - und das könnte bereits bei einem Regierungswechsel der Fall sein -, muss freilich die richtigen Lehren aus dem deutschen Drama um die Kernenergie ziehen. Kontroverse Technologien lassen sich nicht gegen die Menschen durchsetzen. Das Zeitalter der Technokraten ist vorbei - und das ist gut so. Die Deutschen haben gelernt, dass Technologie den gesellschaftlichen Diskurs braucht, ob in der Atomdiskussion oder in der Gentechnik-Debatte.

Technology Review hat zu dem Thema: "Deutschland steigt aus, aber viele andere Länder setzen weiter auf Kernenergie. Wer hat Recht?" ein Forum eingerichtet, das für 10 Tage vom Vorstandschef von Repower Systems und früheren Shell-Deutschland-Vorstand, Prof. Fritz Vahrenholt, moderiert wird.

Thomas Vaseks Text ist eine leicht veränderte Version des Editorials der aktuellen Ausgabe von Technology Review.