Auch in der Krise muss das Grundgesetz Bestand haben

Das Bundesverfassungsgericht ermahnt die Befürworter des Fiskalpakts

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Parteiübergreifend wird das Bundesverfassungsgericht derzeit immer wieder als Gefahr wahrgenommen. Von der SPD über die FDP bis hin zur Union haben zahlreiche Europa- und Bundestagsabgeordnete das oberste Gericht schon vor der Verhandlung der Eilanträge zu ESM und Fiskalpakt ermahnt, das Gericht möge doch die am 29. Juni eilig von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Gesetze, die die Bundesregierung als Maßnahme zur Lösung der Euro-Krise ansieht, durchwinken - um die Märkte nicht zu verunsichern. In seiner mündlichen Verhandlung machte das Gericht jedoch deutlich, dass es selbst in Krisensituationen nicht bereit ist, seine Augen vor einem eventuellen Verfassungsbruch zu verschließen.

Zunächst muss das Bundesverfassungsgericht über die Eilanträge gegen ESM und Fiskalpakt entscheiden, die von Mehr Demokratie, der Bundestagsfraktion der Linken, dem CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler und dem Euro-Kritiker Karl Albrecht Schachtschneider eingereicht wurden. Dabei geht es nicht um eine tiefgreifende Prüfung der beschlossenen Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit, sondern vielmehr darum abzuwägen, ob ein Aufschub bei der Unterzeichnung der Gesetze verhältnismäßig ist.

Die Befürworter von Fiskalpakt und ESM argumentieren, dass ein weiterer Aufschub beim Inkrafttreten der beiden Gesetze zu Turbulenzen an den Finanzmärkten führen und die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise daher weiter verschärfen könnte. So wies Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) in der Verhandlung darauf hin, dass ein Stopp von Fiskalpakt und ESM "erhebliche wirtschaftliche Verwerfungen mit nicht absehbaren Folgen" für die Bundesrepublik nach sich ziehen könnten. Dabei besteht insbesondere beim ESM eigentlich kein Zeitdruck: Er würde ohnehin erst 2013 in Kraft treten, so dass genug Zeit für eine gründliche Prüfung durch das Gericht bliebe.

Die Kläger hingegen drängen darauf, dass die Gesetze bis zur Entscheidung in der Hauptsache auch weiterhin nicht von Bundespräsident Joachim Gauck unterschrieben werden sollen. Denn würde dem Eilantrag nicht stattgegeben und die Gesetze in Kraft treten, dann wäre die Bundesrepublik an sie gebunden - und könnte sie auch dann nicht mehr ändern, wenn das Verfassungsgericht diese im Hauptsacheverfahren doch noch als ganz oder teilweise verfassungswidrig einstufen sollte.

Bundesverfassungsgericht in der Zwickmühle

Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, nutzte seine Eröffnungsrede dann auch zu mahnenden Worten an die Befürworter der beiden Gesetze zur Euro-Krise. Zwar erforderten ungewöhnliche Krisen auch ungewöhnliche Maßnahmen, so der oberste Verfassungsrichter. Allerdings erfordere Europa den demokratischen Verfassungsstaat ebenso, wie der demokratische Verfassungsstaat Europa erfordere. Auch in der Krise, das macht der Gerichtspräsident damit klar, will das Gericht nicht jede Entscheidung der Politik kritiklos durchwinken, nur weil die Regierung Katastrophenszenarien an die Wand malt.

Dabei befindet sich das Karlsruher Gericht in einer ähnlichen Zwickmühle wie der Bundestag. Die Zeit drängt, die Bundesregierung verlangt schnelle Entscheidungen. Doch während den Abgeordneten die endgültigen Gesetzestexte nur drei Tage vor der Abstimmung vorgelegt wurden, ohne dass diese sich wehren konnten, kann sich das Verfassungsgericht ein wenig zusätzliche Zeit für seine Entscheidung gönnen. Eile und gleichzeitig eine gründliche Prüfung, das gehe nicht gleichzeitig, mahnt denn auch Voßkuhle - und bringt einen Mittelweg ins Gespräch. Dieser würde allerdings bedeuten, dass die Entscheidung über die einstweiligen Verfügungen nicht wie bisher erwartet noch Ende des Monats, sondern wohl erst im August fallen würde.

Entmachtung der Parlamente

Die Kläger gegen ESM und Fiskalpakt monieren vor allem, dass die demokratischen Rechte des Bundestags durch diese Verträge ausgehöhlt werden. So ist beispielsweise der Vertragstext zum ESM, dem der Bundestag am 29. Juni zugestimmt hat, durch Verhandlungen in Brüssel am Vortag zum Zeitpunkt der Abstimmung bereits überholt gewesen.

Auch der Fiskalpakt steht in der Kritik, weil er der EU ermöglicht, in die nationalen Haushalte einzugreifen, wenn die Schuldenobergrenzen nicht eingehalten werden. Diese sind deutlich strenger geregelt als in der bereits im Grundgesetz enthaltenen Schuldenbremse und können nur mit einem massiven Sparprogramm eingehalten werden. Anders als die bundesdeutsche Schuldenbremse bezieht sich der Fiskalpakt auch auf die Schulden der Kommunen und der Sozialsysteme, weshalb ein europaweiter Abbau des Sozialstaates die Folge wäre. Sind die nationalen Parlamente dazu nicht bereit, würde die EU-Kommission eingreifen: die nationalen Parlamente und damit auch der Bundestag wären somit auf eine prozyklische Austeritätspolitik verpflichtet. Wie aus diesem Vertragswerk bei Bedarf ausgestiegen werden kann, ist dabei unklar: weder der ESM-Vertrag noch der Fiskalpakt beinhalten eine Ausstiegsklausel.

Die große Koalition der Fiskalpakt-Befürworter hat damit jedoch kein Problem. So lobte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel vor der Abstimmung zu Fiskalpakt und ESM im Bundestag ausdrücklich, dass die EU klammen Staaten künftig wirtschafts- und finanzpolitische Auflagen machen könne und treibt damit die Entmachtung der Parlamente gemeinsam mit der Regierung voran. Die einzige Partei, die diese Entwicklung geschlossen kritisiert, ist derzeit die Linkspartei.

Welche Entscheidung das Bundesverfassungsgericht bezüglich der Eilanträge treffen wird, lässt sich derzeit nur schwer abschätzen. Allerdings ist es nicht unwahrscheinlich, dass das Gericht zumindest bis zu einer genaueren Prüfung der Gesetzestexte deren Inkrafttreten verhindern wird. Immerhin wären diese, anders als Gesetze, die nicht an europäische Verträge gebunden sind, nach ihrem Inkrafttreten selbst in Teilen kaum noch änderbar, selbst wenn die Richter einzelne Passagen kassieren sollten.