Auf Sand gebaut

Die Dynamik von Paranüssen und anderen granularen Materialien

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Gerade jetzt im Hochsommer beschäftigt die Physik viele Menschen, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Wer am Strand eine Sandburg baut, ist mitten drin in der Praxis der granularen Dynamik. Der Sand wird mit ein wenig Wasser sozusagen verleimt, damit er nicht davon rinnt wie in einem Stundenglas. Durch die Oberflächenspannung der winzigen Wassertröpfchen zwischen den vielen Millionen Körnern entsteht Stabilität. Wird allerdings zu viel Flüssigkeit auf die Türme der Burg gekippt, dann schwimmt alles davon.

Otto Normalverbraucher oder Erika Mustermann werden am Stand wahrscheinlich kaum mit wissenschaftlichen Berechnungen vorgehen, um ihren Kindern eine imposante Anlage aus Sand zu errichten. Sie setzen eher auf ihre Lebenserfahrung und Rumprobieren, um eine möglichst optimale Festigkeit zu erreichen. Physiker wollen es dagegen ganz genau wissen, sie gehen seit Jahren der Frage, was Körner zusammenhält, systematisch auf den Grund (Was Sandburgen zusammenhält).

Sandburg (Bild: Duke University)

Das Verhalten von Gemischen körniger bzw. granularer Materialien ist bisher nur teilweise verstanden. Forschungen z.B. zum Paranuss-Effekt (warum wandern die Nüsse in der Müsli-Packung unaufhaltsam nach oben?) zeigten, dass die Vorgänge sehr komplex sind (Dicke Nüsse liegen obenauf).

Bereits im vergangenen Dezember hatte ein Team um Detlef Lohse von der Universität Twente im niederländischen Enschede die Eigenschaften von Treibsand erforscht und die Ergebnisse im Wissenschaftsjournal Nature veröffentlicht (Dry Quicksand).

Die Wissenschaftler wollen mit diesen Laborversuchen dem Verhalten körniger Systeme auf den Grund gehen. In der Natur gibt es davon reichlich, in großem Maßstab z.B. in Form von Sanddünen (Dunes) oder Schnee, der ab und zu als Lawine ins Tal rauscht (Einzigartig: Schneeverwehungen mit echtem Schnee simuliert).

Auch die Mathematik beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Granulaten, vor allem mit der Frage, wie man eine Masse von Kugeln am platzsparendsten verpacken kann – die so genannte Kepler’sche Vermutung gilt als eines der großen rechnerischen Rätsel (Flyspeck-Projekt).

Sanddünen (Bild: Duke University)

Ebenfalls in Nature veröffentlichen jetzt Eric I. Corwin, Heinrich M. Jaeger und Sidney R. Nagel von der University of Chicago ihre Untersuchung zur Struktur von Sand im stabilen und fließenden Zustand ("Structural signature of jamming in granular media"). Eine zweite Forschergruppe, Trushant Majmudar und Robert Behringer von der Duke University in Durham, publiziert in der selben Ausgabe ihre Ergebnisse zum Verhalten granularer Materialien unter verschiedenen Druckverhältnissen ("Contact force measurements and stress-induced anisotropy in granular materials"). Beide Artikel gehen von der Grundfrage aus, warum Sand einmal fest ist, so dass wir auf ihm gehen können, und dann wieder flüssig, so dass er haltlos durch das Stundenglas rinnt. Was sind die Mechanismen, die dieser Verhaltensänderung, dem Übergang von verschiedenen Zuständen, zugrunde liegen?

Wie die Kraftverteilungen oder Kraftnetzwerke in granularen Materialien funktionieren, war bisher weitgehend unklar. Granulate sprengen die Vorstellungen von den klassischen Aggregatzuständen, sie verhalten sich in ihrer Masse sowohl ähnlich wie Festkörper als auch wie Flüssigkeiten. Ein komplett gefüllter Sandsack stellt einen Zustand dar, in dem die einzelnen Körnchen festgeklemmt oder blockiert sind – mit dem englischen Fachausdruck wird das als „Jamming“ bezeichnet. Öffnet man den Sack und schüttet die Körner heraus, so fließen sie ähnlich wie Wasser. Andererseits kann man sie zu einem Haufen aufschütten, was bei einer Flüssigkeit nicht funktioniert.

Fotoelastisches Granulat (Bild: Duke University)

Das Team von der University of Chicago verwendete zwischen 50.000 und 100.000 Glasperlen in einem Zylinder, die durch rotierenden Kolben von oben unter Druck gesetzt wurden. Am Grund des Zylinders flossen die äußeren Perlen langsam an der Wand entlang, während die in der Mitte des Gefäßes miteinander verkeilt wie ein Festkörper rotierten. Den Forschern gelang es so, den Übergang vom flüssigen zum statischen Zustand zu definieren und das entsprechende Kraftnetzwerk nachzuzeichnen. Dabei stellten sie fest, dass dieser Übergang auf atomarer Ebene jenem von Glas entspricht, das sich bei höherer Temperatur verflüssigt. Die Bewegungsenergie wirkt also ähnlich wie die ansteigende Temperatur. Co-Autor Heinrich Jaeger erläutert:

Das [Ergebnis] ist etwas, worüber spekuliert wurde. Es ist etwas, das bereits simuliert, aber nie zuvor direkt gemessen wurde.

Trushant Majmudar und Robert Behringer verwendeten für ihre Versuche winzige Plastikzylinder aus einem Material, das bei mechanischer Einwirkung seine Farbe ändert. Sie untersuchten das Granulat aus jeweils ungefähr 2.500 einzelnen Körnern in einem flachen rechteckigen Behälter unter verschiedenen Druckverhältnissen, sowohl stark als auch schwachen „Jamming“-Zuständen, wobei sie die körnige Masse zusammendrückten und auseinander zogen. Die fotoelastischen Kunststoffzylinder leuchten im polarisierten Licht in verschiedenen Farben und ermöglichten den Forschern dadurch, die Kraftverteilungen abzubilden. Ihre Resultate entsprechen denen der Gruppe um Eric Corwin.

Die neuen Studien sind nicht nur theoretisch wichtig. Das Verhalten granularer Materialien besser zu verstehen ist kein Sandkastenspiel der Physiker, sondern wichtige theoretische Voraussetzung für die Berechnungen z.B. von Geologen, die Erdrutsche nach Überschwemmungen oder Erdbeben zu verhindern suchen, oder für Bauingenieure und Designer, die Silos, Halden oder Verpackungen für körnige Stoffe entwerfen. Robert Behringer erklärt:

Das langfristige Ziel ist ein exaktes Modell, das granulares Material vom kleinsten bis zum großen Maßstab beschreibt, um zum Beispiel für jemanden nützlich zu sein, der Schüttgutbehälter konstruieren will.

Oder für jemanden, der die gigantischste Sandburg der Welt erbauen möchte.