Auf dem Sprung nach Kiew - Ukrainer in Polen

Vladimir Honika mit Fahne und Freundin Tatjana. Bild: J. Mattern

Demonstration in Warschau: Solidarität mit der Opposition, aber mit den ukrainischen Nationalisten will man nichts zu tun haben

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"Schtsche ne wmerla Ukrajina" (Noch ist die Ukraine nicht gestorben), die Nationalhymne wird angestimmt. "Ich muss noch einige Prüfungen an der Uni ablegen, dann geht es nach Kiew", meint Vladimir Honika aus Tarnopol. Er ist einer der 10.000 Ukrainer, die in Polen studieren. Wie viele Ukrainer in Polen ist er gegen Wiktor Janukowitsch. Doch auch von der Opposition in der Ukraine oder von westlicher Hilfe hält der Wirtschaftsstudent nichts. "Wir müssen das aus eigener Kraft schaffen." Er glaubt, dass junge Menschen wie er das Land endlich voran bringen können, Politiker dächten nur an ihren Vorteil, es sei die Gunst der Stunde.

Solidaritätskundgebungen zum "Euro-Majdan", so nennt sich der Protest auf dem zentralen Platz in Kiew, gibt es bereits in mehreren polnischen Städten.

Wie viele Ukrainer in Polen leben, lässt sich schwer sagen, da ein großer Teil saisonal oder schwarz arbeitet. Doch vom Klischee der ukrainischen Putzfrau und dem ukrainischen Bauarbeiter (ein Äquivalent zum Polen-Stereotyp in Deutschland, besonders in den 90er Jahren) rückt man derzeit an der Weichsel ab.

Polen sehen zunehmend eine Parallele zum Kriegszustand, der im Dezember 1981 ausgerufen wurde, als Regierungschef Wojciech Jaruzelski staatstreichartig die freie Gewerkschaft Solidarnosc verbieten und die wichtigsten Mitglieder inhaftieren ließ. Auf Regierungsebene nimmt man die Lage im Nachbarland sehr ernst. Der "Nationale Sicherheitsrat" bereitet sich auf eine Flüchtlingswelle aus dem östlichen Nachbarland vor, nach Angaben der Zeitung "Polska the Times" können im Osten Polens nach einer Vorbereitungszeit 150.000 Menschen aufgenommen werden.

Protest in Warschau. Bild: J. Mattern

Der ukrainische Politologe Oleksii Polegyi, ein Organisator der Proteste in Warschau, hofft, dass es soweit nicht kommt, und er glaubt: "Hätte die EU früher Druck ausgeübt, gäbe es keine Toten bei den Demonstrationen." Sanktionen seien ein gutes Druckmittel, falls sich Janukowitsch nicht weiter bewege. Denn sollten die Oligarchen in der Ostukraine, die über die Ukraine bestimmen, ihre Geschäfte nicht weiter führen können, träfe sie das empfindlich. Auch hätten die Oligarchen Kinder in Westeuropa.

Den Rücktritt von Premier Nikolai Asarov und seiner Regierung am Dienstag will er nicht überbewerten. Vielleicht sei das eine Grundlage für Verhandlungen, vielleicht aber auch eine "Falle". Die Macht liegt ja beim Präsidenten. Auf die Ukraine warte ein langer Prozess des Wandels.

Der ukrainische Politologe Oleksii Polegyi. Bild: J. Mattern

Vitali aus Lwiw, ebenfalls Wirtschaftsstudent, der sich zusammen mit anderen Ukrainern bei einem Tee in einem Lokal aufwärmt, glaubt nicht, dass Sanktionen oder neue Wahlen viel erreichen. "Das Land ist vollkommen korrupt, das System muss von Grund auf erneuert werden." Wie das genau gesehen soll, weiß er jedoch auch nicht. Für die "Nascha Ukraijna", der Partei des ehemaligen Präsidenten Viktor Juschtschenko, habe er 2007, also noch sehr jung, für die Parlamentswahlen kandidiert. Dabei sei es nur ums Geld gegangen. Vitali lässt auf seinem Smartphone einen Cartoon laufen, der die Demonstranten zeigt, wie sie auf die Barrikaden steigen, ihnen dann ein "Morgen" entgegenschallt, worauf sie wieder zurück kehren. Dies wiederholt sich immer wieder und wieder. Wie lange sollen wir noch warten? Vitali hat Verständnis für diejenigen, die Molotow-Cocktails werfen, für den "Rechten Sektor", für die Nationalisten, wenn er auch nicht sagt, dass er sie direkt unterstützt. Auch er will bald nach Kiew.

Gerüchte gehen um, unter den Ukrainern in Warschau. So soll Wiktor Janukowitsch immer wieder ins zentralasiatische Altai Gebirge jetten, da er von dem Rat dortiger Schamanen abhängig sei.

Die Künstlerin Anna Kosarvaksa will in Warschau bleiben. Auf ihrer Jacke hat sie einen Sticker in gelb-blau: "Ohne Taten keine Hoffnung." Sie plant Happenings auf der Straße, die die Polen für die Ukraine interessieren sollen – wenn es ein wenig wärmer wird. Sie trifft in Warschau auf unterschiedliche Reaktionen, auf Empathie ebenso wie Ablehnung oder Ignoranz.

Das Interesse in Polen über Nachrichten an den Geschehnissen in der Ukraine ist jedenfalls groß, der neue Nachrichtensender "TVN24 Bis" erreichte mit seiner umfassenden Berichterstattung aus Kiew Traumquoten. Auch die Abendnachrichten des staatlichen Senders berichten umfassend von Majdan, dem von Demonstranten blockierten Platz.

Die nationalkonservative Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) ist seit Beginng der Proteste immer wieder mit Vertretern wie dem Parteichef Jaroslaw Kaczynski auf dem Majdan präsent. Zudem hielt die Jugendorganisation eine Demonstration vor der ukrainischen Botschaft in Warschau ab. Der sich eher zurückhaltenden Regierungspartei "Bürgerplattform" werfen die Rechten "Verrat" vor.

Doch mit den Nationalisten will sich in Polen keiner gemein machen, im Sommer 2013 brachen in beiden Ländern wieder alte Wunden auf, als sich das Wolhynien-Massaker zum 70. Mal jährte. Mittlerweile werden von Seiten ukrainischer Rechter erneut Forderungen nach ostpolnischen Gebieten erhoben, die sie auf "diplomatischem Wege" zurück bekommen wollen.

Zenia Klimakin, Journalist vom polnischen Radio Polskie Radio. Bild: J. Mattern

Liberale Ukrainer denken jedoch anders. Zenia Klimakin, ein Ukrainer, der seit vier Jahren für das polnische Radio in Warschau arbeitet, glaubt, dass sein Land etwas von dem polnischen Selbstbewusstsein lernen kann. Bei seiner Ankunft hörte er in der Öffentlichkeit, an Bushaltestellen, in Kneipen, in den Medien, ständig das Wort "Polen". Dieses Selbstbewusstsein und Nationalgefühl gebe es in der Ukraine nicht, noch nicht.

Zuvor moderierte er im Rahmen des staatlichen Zentrums für russisch-polnischen Dialogs ein Gespräch über den russischen und polnischen Blick auf die Ukraine. Der russische Politologe Sergej Michejew vermittelte seinen Zuhörern, verschiedene Geheimdienste hätten die Finger im Spiel bei den Ereignissen um den Majdan, die Protestler seine Halbidioten. Russen glauben nicht an das westliche Wertesystem, der Westen sei oft naiv. Der Unterschied zu den Ukrainern hier in Warschau hätte nicht deutlicher ausfallen können. Klimakin glaubt an einen guten demokratischen Ausgang in Kiew, auch er ist mittlerweile in der Ukraine. Er will dort irgendetwas tun, und sei es, auf dem Majdan Gummireifen wegzuräumen.

Szymon Nowak NGO "Offener Dialog". Bild: J. Mattern

Am Donnerstag findet in Warschau die bislang größte Solidaritätskundgebung von Polen und Ukrainern auf dem Verfassungsplatz mit knapp tausend Teilnehmern. Geladen hat die liberale Gazeta Wyborcza sowie Amnesty International und die NGO "Offener Dialog" . "Durch unserer Aktionen wollen wir die Demokratiebewegung und die Menschenrechte in der Ukraine stützen", so der Pole Szymon Nowak, der aus einem Käfig heraus "Offene Dialog"-Flugblätter an die Teilnehmer reicht. Die Organisation behauptet, dass sich 200 Freiwillige eingetragen hätten, um als Beobachter nach Kiew zu fahren.

In einem Zelt werden Medikamente abgegeben. In Kiew leidet die öffentliche Ordnung durch die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizeikräften, die Krankenhäuser sind überfüllt, es gibt Ambulanzen in Privatwohnungen, die dringend Material brauchen. Die Janukowitsch-Anhänger unter den Ukrainern in Polen haben sich bislang noch nicht zu erkennen gegeben.