Auf ins Weiße Haus, "Mutant Freedom Now!"

Mit den Mitteln des Pop dringt Bryan Singers X-MEN 2 in philosophisch-politische Tiefen vor und erzählt von Toleranz, Vielfalt und dem Leben in der Postmoderne

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Man muss Fantasy nicht mögen, um an X-MEN 2 seinen Spaß zu haben: Bryan Singers Verfilmung des Marvel-Comics aus den 60er Jahren ist klug und kultig, verbindet den Glamour seiner Stars - u.a. Halle Berry, Patrick Stewart - mit cleveren Überlegungen zur Verfaßtheit moderner Gesellschaften und flaniert geschickt zwischen Camp und Philosophie.

Eine Gruppe von Touristen besichtigt bei der "White-House-Tour" die Gemächer des US-Präsidenten. Vor einer Marmorbüste des Sklavenbefreiers Abraham Lincoln bleibt die Führerin stehen, und erinnert an die berühmten Sätze in dessen Antrittsrede: "We are not enemies, but friends" - als er sie sprach, gärte es schon im Land, und kurz darauf begann der Bürgerkrieg.

Präzis setzt Bryan Singer hier das erste einer ganzen Reihe von Zeichen aus dem politischen Symbolarsenal nicht nur der USA. Mit ihnen markiert der Regisseur zu Beginn von X-MEN 2 das Terrain, auf dem sich sein Film in den folgenden 110 Minuten bewegt. Kurz darauf sieht man einen dunklen Schatten vor der hellen Wand, schwarze Wolken im Weißen Haus. Ein Dämon mit Teufelsfratze hat sich eingeschlichen, und auch nach seiner Entdeckung ist er nicht zu fassen: Zum musikalischen Prunk des "Dies Irae"-Chors aus Mozarts "Requiem" wechselt er so rasant wie es der Blick des Zuschauers gerade noch zulässt, seinen Ort im Raum, den Sicherheitsleuten und ihren Kugeln immer einen Augenblick voraus, forciert und verlangsamt das Tempo zu einem unheimlichen Wechselschritt, bis er, wie es scheint, das Ziel seines Mordanschlags erreicht hat - in ihrer Weise ungesehene Bilder für das Böse gelingen Singer in dieser hinreißenden, nahezu perfekten Eröffnungssequenz, vielleicht schon der besten Szene des ganzen Films - auch wenn sich der flinke "Dämon" bald als der mit Fähigkeit zur Teleportation begabte "Nightcrawler", gläubiger Katholik deutscher Abstammung und einer von vielen "guten" Mutanten in diesem Fantasyabenteuer, entpuppt.

Wie schon zum Auftakt von X-MEN, als Singer nicht davor zurückscheute, seinen Unterhaltungsfilm in einem deutschen KZ 1944 beginnen zu lassen, und doch alle Klippen des Geschmacklosen geschickt umschiffte, überrascht Singer diesmal wieder sein Publikum. Nicht um Effekthascherei ist es dem Regisseur dabei zu tun. Denn auch der Tag des Zorns gilt hier der wachsenden Feindschaft zwischen Menschen und Mutanten, die die Ausgangssituation dieser Geschichte bildet.

Ein Universum der Pluralität

Unter den Superhelden-Comics ist "X-men" aus dem Hause Marvel einer der originellsten. Dies liegt nicht allein daran, dass die Superhelden dieser Geschichte mit weitaus ungewöhnlicheren und spezifischeren Fähigkeiten und Eigenschaften - etwa dem Vermögen, per Blick das Wetter zu manipulieren, Gedanken zu lesen, messerscharfe Klauen aus dem eigenen Körper springen zu lassen, oder das eigene Antlitz chamäleongleich ständig zu verändern - ausgestattet sind - was weitaus reizvoller ist, als die einfach nur muskulösen Überlegenheit der Kraftprotze Superman und Hulk, oder die technische Intelligenz von Bat- und Spiderman. Auch gibt es keine Flucht des Films in Künstlichkeiten, in fiktive Städte a la Gotham City oder Schattenwelten, in denen der Superheld sich zurückziehen kann.

Im Unterschied zu all diesen Filmen findet keine neue Welterzeugung statt, zeigt "X-men" keine Phantasien, sondern die Welt der Gegenwart. Ebenso real bleiben auch die Helden, die in gewissem Sinn ganz normal sind, nur etwas anders. Das Thema von "X-men" ist die existentielle Kluft zwischen ihnen und der Welt in die sie sich geworfen finden. "X-men" handelt in erster Linie von Schwäche, von der Tatsache, dass jede Überlegenheit auch wieder Einschränkung und neue Verletzlichkeit bedeutet. Die Helden, so besonders sie sein mögen, bleiben human, sie berühren, weil sie nicht einfach übermenschlich, sondern vor allem sie selbst sind. Hinzu kommt, nicht weniger wichtig: Es sind viele. "X-men" entwirft ein Universum der Pluralität und Unterschiedlichkeit, jede Figur ist unverwechselbares Individuum. Es gibt nicht den Einen, der alle anderen in den Schatten stellt.

Klugerweise hat Singer dies in der Kinoversion beibehalten, und einen Ensemblefilm gedreht, der durchweg mit halbwegs "gleichrangigen" Stars besetzt wurde (was zudem der Marketingmaschine dient, da der Film "für jeden etwas" bietet, Stars für jeden Geschmack jedes Alter und Geschlecht zeigt). Die relativ im Zentrum stehenden Wolverine und Rogue werden mit dem verzottelten Gentleman-Barbar Hugh Jackman und - der auch hier wieder herausragenden - Nachwuchshoffnung Anna Paquin (THE PIANO) von nur ungenau bekannten Stars gespielt, deren Image daher noch stark prägungsfähig ist, nicht von anderen Rollen schon überlagert. Währenddessen stehen die bekannteren und mit wesentlich mehr Camp-Faktor ausgestatteten Halle Berry, Famke Janssen und Rebecca Romijn-Stamos bei aller Aufmerksamkeit des Films nicht ganz im Zentrum. Der Glamour fehlt: Berry ist bis unter die Augen blondiert, und schon daher, aber auch weil sie eine ägyptische Prinzessin spielt, die das Wetter beeinflussen kann, diesmal seltsam ätherisch und schwer zu (er)fassen. Famke Janssen wird auf ewig die kumpelhafte, coole große Schwester der Zuschauer bleiben - aber das ist es dann auch. Nur die lässige Romijn-Stamos entfaltet so etwas wie Star-Appeal, jenen Mehrwert, auf den es ankommt, vielleicht aber nur, weil sie ihr Antlitz mit jedem Schnitt wechselt, und deswegen die Verwirrung des Zuschauers auf ihrer Seite hat. Das, was sich Romijn-Stamos einstweilen noch von der Inszenierung borgen muss, ist bei Patrick Stewart und Ian McKellen, zwei der bedeutendsten lebenden britischen Theaterschauspieler, die die fast freundschaftlich verfeindeten Gegenspieler "Professor X" und "Magneto" verkörpern, eine Selbstverständlichkeit - auch wenn diese sich diesmal weitaus weniger glanzvolle Rededuelle liefern dürfen, als im ersten Teil.

Wie können eigentlich Mutanten küssen?

Ausgehend von der Prämisse, dass "irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft" Menschen und Mutanten gemeinsam die Erde bevölkern, kreist die Handlung um das Komplott des fanatischen Mutantenhassers Stryker, der an der Regierung vorbei einen Überfall auf die Mutantenschule des Professor X unternimmt, und plant, mit Hilfe von X's telepathischer Maschine "Cerebro" alle Mutanten umzubringen. Hierzu hat er den Professor in seine Gewalt gebracht. Während einige der Mutantenhelden nun versuchen, den Plan zu vereiteln, wird die Lage durch zwei Faktoren zusätzlich verkompliziert: Eine allgemeine, in Angst und Unkenntnis gründende Hexenjagd auf die Mutanten, und den Ausbruch von Magneto, dem Gegenspieler des ersten Teils, der - ebenfalls aus mangelndem Vertrauen in den Gedanken friedlicher Koexistenz - nach Weltherrschaft der Mutanten strebt.

Magneto, aufgrund seiner Vergangenheit als KZ-Insasse eine traumatisierte, brüchige, dabei von antisemitischen Klischees nicht völlig freie Figur, sieht in den Mutanten eine Art Übermenschen, keine Variante, sondern eine höhere Stufe der Evolution. Zwischen zwei sehr unterschiedlich grundierten Fanatismen und einer ängstlich um die eigene Sicherheit besorgten Masse bewegen sich also die Superhelden. Hinzu kommt, dass Verschiedenheit für sich genommen auch noch längst keine Lösung ist. Wie können zum Beispiel Mutanten eigentlich küssen? Als Rogue und Iceman dies wagen, bringen sie sich zunächst einmal in Lebensgefahr. Damit es klappt, müssen sich beide jeweils zurücknehmen, aufeinanderzubewegen. Nur weil es Mutanten sind, wird aus dem Kitsch in dieser tollen Szene plötzlich naive Selbstverständlichkeit - ein gefühlvolles Bild der Verschmelzung.

X-MEN 2 gehört zu denjenigen Sequels, die überzeugender sind, als ihr Vorgängerfilm, und funktioniert tadellos als höchst unterhaltsames Stück Popcornkino. Die Computertricks und Animationen sind auf dem höchsten technischen Stand, dabei ökonomisch eingesetzt und nie in Gefahr, Figuren und Story zu überwältigen. Die Geschichte ist gradlinig erzählt, und beleidigt die Intelligenz der Zuschauer nicht durch Brüche in der inneren Logik, durch übermäßige Erzählsprünge und Unwahrscheinlichkeiten, sondern bleibt konzentriert, fast bescheiden.

"Did you ever try not beeing a mutant?"

Im Gewand des Fantasyabenteuers geht es aber in zum Teil sehr differenzierter Form noch um viel mehr: X-MEN 2 ist eine philosophische Fantasy über das Andere, über das Verhältnis von Freiheit zum Anderssein und der Sicherheit, man selbst zu bleiben. Dass jedes Ich ein Anderer ist, ist das einzig Sichere in diesem Fall. So lotet der Film seine Fragen von der entgegengesetzten Seite her aus: Er zeigt die Folge der Mutation, den Bruch mit einer Normalität, die - aus Mutantensicht - gerade dieses "Andere" ist. Erkenne Dich selbst! Die klassische Aufforderung hat hier ungewöhnliche Folgen.

Auch die Mutanten-Helden sind keineswegs angstfrei. Die Figur der Rogue stellt dabei zwar "nur" eine extreme Form von Pubertätskrise dar - das Fremd-werden des eigenen Körpers, die als Belastung empfundene Entdeckung der Sexualität, die Flucht von Zuhause im ersten Teil, die sich nun im gestörten Elternverhältnis ihres potentiellen Lovers Iceman spiegelt: Entgegen manch neuer These, nach der die Familie seit den späten 90ern zum utopischen Hort von Rückzug und Freiheit wird, zeigt sie Singer als Ort des Konformismus. Es dominiert in diesem Fall der Verrat des Bruders, der - "immer geht es nur um Dich" - mit der Besonderheit am wenigsten umgehen kann, und um die Kluft zwischen dem Unverständnis der Eltern in ihrer Sehnsucht nach einem "normalen" Sohn und der tatsächlichen Besonderheit des Kindes. "Did you ever try not beeing a mutant?" - das ist nicht nur ein Lacher, sondern auch ein Moment der Erkenntnis.

Auch sonst erlebt man leidende und zerrissene Charaktere: Professor X ist an den Rollstuhl gefesselt. Die ehemalige Menschenrechtsaktivistin Jean Grey leidet unter ihren telepathischen Fähigkeiten. Wolverine, der sie liebt, wird von Gedächtnisverlust gequält, aber in Alpträumen von seiner schrecklichen Vergangenheit heimgesucht, vergebens versucht er Licht ins Dunkel seiner Herkunft zu bringen. Auch andere Figuren lassen sich als Prototypen postmoderner Individualität erkennen - geprägt von einem melancholischen, schwachen Selbstbild, Unsicherheit über eigene Identität und Vergangenheit, die Last des Zuviel-Wissens, der Verlust des Vertrauens in die Welt und in die Idee verbindlicher Wahrheiten. Allenfalls der sozialen Gruppe gilt keine Skepsis, allerdings handelt es sich hier nicht um ein traditionelle Gemeinschaft, sondern um eine Art Patchworkfamilie, eine Gesellschaft der Individuen. Offenkundig spielt das Outsidertum der Mutanten auf Formen des Andersseins in der Gegenwartsgesellschaft an:

Natürlich geht es, wie immer in den Filmen Singers, um Homosexualität, nicht nur die latente, um Rassismus, um Behinderung - Outsider sind zwar nicht nur Helden von Horrorfilm und Fantasy, aber nur hier dürfen sie ihre Katharsis erleben. Amerika als das Reich der Intoleranz. Im ersten Teil waren die X-Men und X-Women noch Erben der Pioniere, Westerner, die sich konsequent a la Thoreau in die Wälder zurückzogen, vereinzelt sein mussten für lange Zeit. Jetzt sind sie zurückgekehrt in die Städte, doch kaum einer freut sich der multikulturellen Vielfalt, die diese Migranten mitbringen. Man sieht nur Gefahr. Der Staat ist seltsam abwesend in dieser Geschichte, die Mächtigen des Kapitals ebenso wie der Präsident, der die Story nur einklammert, die anfänglich zerstörte Ordnung zum Schein wiederherstellen darf, am Ende.

Gegenspieler Stryker wird ebenfalls sozial und psychologisch, zudem politisch charakterisiert: Ein Militärwissenschaftler (aber kein aktiver Militär), der mit dem Mutantentum seines Sohnes nicht fertig wurde (Trauma), und ein Vietnamveteran (zweites Trauma!), der sich als Gegner des von Woodstock geprägten Senators Kelly outet, und dem das Mittel der Gewalt recht ist - Idealtyp der politischen Rechten, die überall "Krieg" sieht, und eine Privatarmee kommandiert. Dass es keine US-Army ist, die hier im Namen von Heimatverteidigung Unheil stiftet, und dass es persönliche Gründe, nicht Macht und Profitgier sind, die ihn antreiben, dass also die Soziologie ganz draußen bleiben muss, und einmal mehr gegenüber Cultural Studies und Psychologie haushoch verliert, mag die übliche Konzession an patriotische Gefühle und Hollywood-Ideologien sein - die Botschaft ist trotzdem deutlich genug. Sogar zu deutlich? Es gab Kritik in der Richtung: X-MEN 2 als Beispiel für die Übernahme Hollywoods durch Minderheiten, die ihr "lasst möglichst viele Blumen blühen" etwas zu beliebig und zugleich politisch konsequenzlos in "secret message movies" wie diesem ausbreiten.

Spannendere, viel schönere Bösewichte sind jedenfalls auch hier die Mutanten: der metallabsorbierende Magneto (in einer großartigen Selbstbefreiungsszene) und die blauhäutige Mystique (die um ein Selbst willen geliebt werden will, das es nicht gibt), sie leiden auch, aber anders. Es ist ein Leiden an Identität, nicht an den Umständen, und darum brennender, leidenschaftlicher, böser - viel anmutiger auch.

"Mutant Freedom Now!"

So stehen die Toleranten gegen die Intoleranten, eine positiv verstandene Heterogenität gegen den falschen Traum einer homogenen Gemeinschaft ohne Unterschiede. Der Wunsch nach Dauer und Sicherheit wird hier gerade als potentiell terroristisch gezeichnet, als Gefahr für alternative Lebensstile Minderheiten und die Freiheit der Andersdenkenden. Man kann diesen Film heute nicht sehen, ohne auch die offensichtlichen Bezüge zu den grassierenden Diskursen über Biomacht und Gen-Ethik, zu den Debatten um Klonen und "den künstlichen Menschen" zu bemerken. Zu alldem hat X-MEN 2 Wichtiges zu sagen.

Es handelt sich bei X-MEN 2 um den Versuch einer liberalen Mythologie, die - getreu der Maxime Hegels, man müsse "die Ideen ästhetisch machen" -, mit den Mitteln der Populärkultur eine Geschichte über Toleranz und Fanatismus, den Umgang mit Außenseitern und der offenen Identität des modernen Menschen erzählt. Ein Optimismus des Wandels und des Fortschritts zum Besseren prägt alles. Noch im Film merkt man Figuren und Geschichte die ursprüngliche Herkunft aus der Bürgerrechtsbewegung der Sechziger an: Kaum zufällig ist der finale geradezu paradiesische Ort der Geborgenheit hier eine Schule, die des Professor X, und die Mutanten-Helden sind, wenn sie nicht gerade die Welt retten, Lehrer. Von der Esoterik anderer Superhelden-Stories ist diese hier weitgehend frei: Letztlich ist es immer der Kopf und der freie Wille, der entscheidet.

In der Beschreibung einer Welt aus Ambivalenzen greift X-MEN 2 den ursprünglichen Befreiungsimpuls der Popkultur ganz ungebrochen auf, nimmt ihn ernst und glaubt an eine bessere Zukunft durch Aufklärung, Toleranz und Emanzipation. "We are not enemies, but friends" - das sagen heute, in Zeiten eines anderen Bürgerkriegs, nur noch die Mutanten. Auf ins Weiße Haus, "Mutant Freedom Now!"