Aufgeklärte Ratlosigkeit

Über Jürgen Habermas - den Helmut Kohl der deutschen Intelligenz

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Es gab mal eine Zeit, da konnten wir es kaum erwarten, die neuesten Ideen und Urteile aus der Feder von Jürgen Habermas zu erfahren. Mitte der siebziger Jahre war er für meine Generation, die damals an die deutschen Universitäten strömte, von Achtundsechzigern als erste unterrichtet wurde und sich als Zuspätgekommene zwischen jugendlicher Revolte und No-future plazieren und intellektuell behaupten mußte, zu einer Art wissenschaftlicher Ikone geworden.

Und das nicht nur, weil Bücher und Schriften des Frankfurter Schülers zum Pflichtkanon sozialwissenschaftlichen Studiums gehörten. Mehr als das beeindruckte uns die Form der Argumentation, die Schärfe und Prägnanz der Kritik, die Geschliffenheit der Begründung. Obwohl wir anfangs nicht immer genau verstanden, was der Philosoph wollte, so überzeugten sein Stil, Gestus und Habitus uns doch von der Schwere und Triftigkeit seiner Gedanken.

Der Primat der Politik

Enrichessez vous, cessez de demander l'éxtension de vos droits politiques

Guillaume Guizot

Gehorsamst unterschieden wir deshalb, wohl auch um unseren Dozenten zu gefallen, zwischen Erkenntnis und Interesse; selbstbewußt überführten wir Technik und Wissenschaft der Ideologie; penibel rekonstruierten wir den Historischen Materialismus; lautstark stritten wir über Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus.

Lernten wir anderswo, meist von Hochschullehrern, die irgendwie mit der Marxistischen Gruppe paktierten oder wenigstens mit ihr sympathisierten, streng zwischen Staat und Gesellschaft zu unterscheiden, belehrte uns Habermas rasch eines Besseren. Im "organisierten Kapitalismus" sei, so erfuhren wir, die strikte Trennung beider Sphären einer wechselseitigen Verschränkung gewichen. Gegen die orthodoxe Lehrmeinung, wonach die Ökonomie sich reflexartig in Kultur, Bildung, Recht etc. widerspiegele und so alle Verkehrsformen der Gesellschaft bestimme, zeigte der kritische Philosoph uns, wie im Spätkapitalismus die Wirtschaft in zunehmender Weise politischen Eingriffen und Interessen unterworfen wurde. Nicht nur eine Annäherung, ein Platzwechsel deutete sich an: der Staat probierte sich als Unternehmer, die Wirtschaft antichambrierte. Bald machten Theorien vom staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap) die Runde, und das Schlagwort der Technokratie breitete sich aus.

Blickwechsel

Im Nachkriegsdeutschland war dies nicht weiter verwunderlich. Immerhin war es die Ära der sozialliberalen Koalition: die Zeit "konzertierter Aktionen" und "der Politik" von John Meynard Keynes. Mit den sozialpolitischen Kompromissen, der Abfindung und Stillstellung der Arbeiter durch Flächentarifvertrag und Betriebsverfassungsgesetz und der Einrichtung und Förderung wohlfahrtsstaatlicher Zuwendungen, sah es fast so aus, als ob der Kapitalismus seine Fratzengestalt eingebüßt hätte. Durch Abschöpfen industriellen Gewinns, durch Interventionspolitik und eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums erschien das kapitalistische Wirtschaftssystem zähmbar.

Von Kapitalismuskritik oder gar Verteufelung der bürgerlichen Gesellschaft, von "stahlhartem Gehäuse", "Lurchendasein" oder "warenförmiger Zurichtung der Subjekte" war bei ihm nichts mehr übrig geblieben. Statt Totalverblendung und Ausweglosigkeit, Warenfetisch und Zerfallslogik zu lehren, lenkte Habermas den Blick auf die positiven Errungenschaften der Moderne. Bei vielen entstand dadurch ein neues Interesse für Demokratietheorie, Bürgerrechte und Mitbestimmung. Kein Wunder, daß der Philosoph, und mit ihm weite Teile der Alten Linken, Frieden mit den Verhältnissen schlossen und die soziale und politische Ordnung der damaligen BRD akzeptieren, schätzen und loben lernten.

Ein Dach für alle

Anfang der achtziger Jahre, kurz bevor Helmut Kohl die Macht in Bonn eroberte, den NATO-Doppelbeschluß umsetzte und im Bundesgebiet Unheilssemantiken grassierten, erblickte die kommunikative Vernunft das Licht der Öffentlichkeit. An ihr war trotz der Mächtigkeit, mit der sie auftrat, wenig Sensationelles. Pragmatisch abgeklärt, leidenschaftslos, aber wenig bescheiden kam sie daher. Mit der Dialektik der Aufklärung, dem Umschlagen von Aufklärung in Mythos, hatte sie gebrochen; vor "Politischer Romantik" oder anderen blauen Blumen wollte sie uns bewahren.

Erhaben türmte sich ihre Architektonik, die der Philosoph aus Sprechakttheorie, Systemfunktionalismus und symbolischem Interaktionismus zusammengebastelt hatte, über jenem denkwürdigen Satz auf, den wir im sozialwissenschaftlichen Seminar zusammen mit der Philosophie des Deutschen Idealismus gehegt und gepflegt hatten: "Das Interesse an Mündigkeit schwebt nicht bloß vor, es kann a priori eingesehen werden. Das, was uns aus der Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen."

Was zunächst wie eine weitere Variante der Beantwortung der Frage: Wie ist soziale Ordnung möglich? aussah, entpuppte sich alsbald und bei genauerem Hinsehen als Versuch des Gesellschaftstheoretikers, der in unterschiedliche Perspektiven, Motive und Gruppeninteressen auseinanderdriftenden Gesellschaft abstrakte, aber allgemein verbindliche Verfahren an die Hand zu geben, wie sie ihre Konflikte und Gegensätze konsensuell, also im Mit- statt im Gegeneinander, vernünftig regeln und sozial koordinieren kann.

Eine abstrakte, aber normative Grundlegung des Diskurses sollte dies leisten, für deren Institutionalisierung der Staat sorgen sollte. Daran sollte nicht nur jeder, soweit er zurechnungsfähig und guten Willens war, partizipieren, darin sollten auch alle Betroffenen das Recht haben, zu jedem Problem, das sie berührte, Stellung zu nehmen. Je zwangloser die Kommunikationssituation verlief, desto zwangsläufiger sollte sich, so wenigstens der Glaube und die Erwartung, der zwanglose Zwang des besseren Arguments durchsetzen. Mit der Orientierung am vermeintlichen Vernunftpotential der Sprache glaubte der Philosoph eine, von essentialistischen Forderungen freie, rationale Antwort auf das Gespenst der Vielstimmigkeit und babylonischen Sprachverwirrung gefunden zu haben, das in Zentraleuropa grassierte. Mit ihr hoffte er ein Haus aus universalistischen Prinzipien zu bauen, in dem möglichst alle Kulturen und Ethnien mit ihren diversen und heterogenen Sprachspielen Platz fanden.

Harte Realitäten

Es dauerte nicht lange, bis wir begriffen, daß mehr auf dem Spiel stand als Einmütigkeit, Egalität und Verständigung. Tätsächlich ging es dem Aufklärer um das Erbe und die Fortsetzung jener "Ideen von 1789", die seit nahezu zweihundert Jahren auf ihre Realisierung und Vollendung warteten. Dieses moderne Projekt, das den Menschen mehr Demokratie, Transparenz und Emanzipation, mehr Chancen der Selbstverwirklichung und ein besseres Leben, kurz: mehr Zukunft versprach, war ins Stocken geraten. Unter dem Druck der autonomen Funktionssysteme von Wirtschaft und Politik schien es vom rechten Weg abzuweichen und zu versanden.

Während etliche Geistesströmungen sein Scheitern konstatierten und sich einen wachsenden Spaß daraus machten, dieses Programm zu desavouieren und madig zu machen, versuchte Habermas dagegen zu halten und alle jene Kräfte um sich zu scharen, die a) noch zu einer rationalen Geisteshaltung fähig und willens sowie b) daran interessiert waren, die ziellos werdende Evolution der modernen Gesellschaft auf "menschlichere Verhältnisse" zu verpflichten.

Die Verwirklichung einer "gerechten" und "wohlgeordneten Gesellschaft" am Verständigungspotential der Sprache aufzuhängen und dadurch das Schiff der Moderne wieder flott zu bekommen, klang schön, für unsere Augen und Ohren doch bereits zu schön, die wir die "sanfte Gewalt der Kommunikationsvoraussetzungen" an sozialen Tatsachen und "harten Realitäten" maßen. Wo wir auch hinguckten: nirgends fanden wir konkrete Anhaltspunkte, die diesen kommunikativen Optimismus rechtfertigten. Nicht einmal in den sozialwissenschaftlichen Seminaren, an denen sich das Modell der Verständigung orientierte, sahen wir Splitter dieser Vernunft sich realisieren. Darüber hinaus ging von ihr weder irgendeine Relevanz für die soziologische Forschung aus, noch half sie uns bei der Beschreibung oder gar Erklärung soziologischer Phänomene. Mehr aus alter Tradition und intellektueller Zuneigung zum kritischen Genre als aus soziologischem Interesse verfolgten wir die weiteren Anstrengungen von Habermas und seinen Mitstreitern, den kantischen Imperativ zu dialogisieren und das Diskursideal als soziales Regulativ in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu institutionalisieren.

Die Vernunft bin ich

Unterdessen hatten aber bereits Genealogie, Begehren und postmodernes Wissen, mit denen Heidegger und Nietzsche nach Deutschland zurückkamen, unser Denken affiziert. Sie hatten dafür gesorgt, daß die Distanz zu Habermas wuchs. Eine Zeitlang dachten wir an einen dritten Weg zwischen links- und rechtsrheinischen Positionen. Doch als Habermas begann, die Diskurstheorie zu moralisieren und sie zu einer universalistischen Ethik aufzuspreizen (und das bis auf den heutigen Tag), war es mit dieser Option vorbei.

Wer soziale Verhältnisse und Zustände durch das Nadelöhr der Moral zwang und soziale Konflikte und Interessengegensätze mit allgemein verbindlichen Normen zudeckelte, wollte, so wurde uns klar, nur jene Löcher stopfen, die Politik nicht mehr schließen kann. Und was das bedeutet, auch langfristig, kann jeder an seiner jüngsten Legitimierung der Selbstmandatierung der NATO im Kosovo (Die Zeit vom 29.4.99) studieren. Auch hier haben wir es mit der Abdankung von Politik zugunsten einer in Rechtsfragen gegossenen Prinzipienmoral zu tun. Statt kluger Politik tritt uns eine "glasklare normative Sprache" gegenüber.

Zum endgültigen Bruch kam es, als Habermas immer mehr Gründe nachschob, um das vermeintlich friedliche Idyll des Ringens um das bessere Argument gegen Kritik von außen zu immunisieren. Die Politik des "performativen Selbstwiderspruchs" erfüllte diesen Zweck. Sie machte jeden Einspruch unmöglich. Wer sich dem Ideal der Verständigung verweigerte, wem die Einsicht in den vernünftigen Grund der Sprache fehlte, der fand sich schnell im Lager der Uneinsichtigen, Unaufgeklärten oder Gegenaufklärer wieder - ein Fall für die Pädagogik also. Von Herrschaftsfreiheit und zwanglosem Zwang war nichts mehr geblieben. Entspannung kam erst auf, als Niklas Luhmann, der Antipode der deutschen Versöhnungsphilosophie, die Logik des Paradoxons neu entdeckte und seinen intellektuellen Reichtum in die Sozialwissenschaft einbrachte.

Falsche Alternativen

Viel später begriffen wir, daß Habermas damit die Erfolgsstory Nachkriegsdeutschlands angeschrieben und auf den Begriff gebracht hatte. Das Konsensus-Modell war und ist ein Teil der Konsolidierung des demokratischen Sozial- und Rechtsstaats. Die strikte Prozeduralität der Theorie, die essentialistische Fehlschlüsse aufdeckte und ihre spätere Ausformulierung zu einer Rechts- und Verfassungstheorie begünstigte, geschah, wie wir bald verstanden, im wesentlichen, um mit "politischen Kontinuitäten" und deutschen Besonderheiten zu brechen.

Habermas ging es in erster Linie um die Abwehr jener "Untiefen der Rationalitätskritik", die manche Denker hierzulande zu politischem Abenteurertum verlockt hatten. Doch was der Verhinderung der Ausbildung eines "falschen Normalitätsbewußtseins" nützte, förderte auf der anderen Seite keinesfalls die Dynamik des Wissens und den Theoriefortschritt. Die Konsensustheorie führte vielmehr zu intellektuellem Stillstand und politischer Paralyse. Noch heute leidet das Land an den Spätfolgen dieser mentalistischen Lähmung. Im Rückblick betrachtet läßt sich das Verständigungsmodell leicht mit dem Begriff des Posthistoire abgleichen, der gerade in Zentraleuropa und nicht anderswo haussierte. Für uns jedenfalls, die wir damals noch Ausschau nach Resten sozialer Avantgarden hielten, für Dissidenz votierten, avancierte Konsensus bald zum Schimpfwort.

Der Helmut Kohl der deutschen Intelligenz

Außer Appellen und gutgemeinten Ratschlägen ist von der kommunikativen Vernunft nicht mehr viel geblieben. Seitdem die rauhen Winde der Weltgesellschaft ihr ins Gesicht blasen, der "Globalisierungsschub" den Wohlfahrtsstaat wegzufegen beginnt, droht mit ihm auch ihr "universalistisches Selbstverständnis" einzustürzen. Weltökonomie und Echtzeitkommunikation, Pax Americana und der "Clash of Civilization" unterminieren jenen "normativen Erwartungshorizont", der dereinst im Windschatten der Geschichte und des Kalten Krieges formuliert und auf dem brüchigen Fundament des "Dreiklangs" aus Wachstum, Demokratie und sozialer Sicherheit errichtet worden war.

Deshalb verwunderte es kaum, daß es lange Zeit merklich still um Habermas geworden war. Der Starnberger See bot genügend Stoff zum Nachdenken. Mit den Trommlern der "dritten Wege", den Befürwortern der Zweiten Moderne hat er seine Sprache wiedergefunden. Wer jedoch neue Ideen oder Problemlösungsstrategien sucht, wird enttäuscht. Nach wie vor überzeugen Begründungen und die Klarheit seiner Gedanken. Was der Frankfurter Philosoph aber zu den ökonomisch-technischen Transformationen zu sagen hat, reißt nicht von den Sitzen.

Sicher, niemand wird ernstlich erwartet haben, daß Habermas über Nacht die Prämissen seines Denkens überprüft und einen epistemologischen Bruch mit dem Projekt der Moderne riskiert. Doch daß er nur die alten Rezepte hervorholt und bekannte Erwartungshaltungen auf den globalen Erfahrungshorizont hochrechnet, ist weder intellektuell aufregend noch besonders überzeugend. Und doch vermeint man in seinen neuesten Publikationen eine gewisse Müdigkeit und Resignation zu spüren. Nicht mehr so lautstark und forsch wie früher, eher trotzig und starrsinnig verteidigt und sitzt er die Glücksversprechen der Moderne aus. Häufig erinnern Haltung wie Gestus an Helmut Kohl. Unerschütterlich und im Vertrauen auf das Althergebrachte und Bewährte läßt Habermas wie einst der Altkanzler die Karawanen der schönen, neuen Welt vorüber ziehen und pocht auf das Kontrafaktische.

Des Kaisers neue Kleider

Aus der Diskursethik ist, währenddessen die alte Weltordnung zerfallen ist, Ethnien, Gruppen und Kulturen sich bekriegen und die Weltmacht Amerika versucht, die Kontingenzen der multipolaren Welt computer- und militärtechnisch in den Griff zu kriegen, eine globale Zivilreligion geworden. Sie soll, seitdem Geltungs- und Bindungskraft der Religionen in den westlichen Staaten verlustig gegangen sind, jenen Begründungsbedarf füllen, der im Bereich der moralischen Normen entstanden ist.

Den Diskursregeln muß, so Habermas in einem jüngst publizierten Text (DZfP 2/1998) dazu, "unbedingte Geltung" zukommen. Die Handlungsmaxime dafür lautet: Wer eine Handlung begeht, muß sie zuvor aus der "Wir-Perspektive" beleuchten, er muß sich fragen, ob das, was er tut, in Übereinstimmung ist mit dem, was alle anderen als Richtschnur für ihr Handeln anerkannt haben. Ausnahmslos alle Kulturen und Ethnien, Serben wie Israelis, Katholiken wie Muslims, Malaien wie Sachsen sollen diesem "Reich der Zwecke" zustimmen können, dadurch Vollinklusion, friedliche Koexistenz und Anerkennung des Anderen möglich werden.

Wem diese Vernunft fehlt oder wer den Sinn dieser Regel nicht versteht, der bekommt Nachhilfeunterricht vom Philosophen. Entweder muß er solange nachsitzen und räsonnieren, bis ihm die Einsicht ins Unvermeidliche kommt. Oder es kann ihm passieren, daß er mit einem kleinen Militärschlag, unter der Führung und dem Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte, zu Einsicht und Zustimmung gebombt wird. Gute Gründe dafür lassen sich, wie einst Massenloyalität, jederzeit mithilfe globaler Massenmedien besorgen. Anschauungsunterricht, wie so etwas ablaufen kann, erhält jeder Zuschauer allabendlich vor seinem Screen, wo der ARD-Brennpunkt ein ZDF-Special jagt und damit "Einverständnis" (N. Chomsky) beim Publikum für die "gerechte Sache" erzeugt wird.

Großen Kummer bereitet hingegen die Ökonomie. Mit ihrer Globalisierung ist der "Primat der Politik" abhanden gekommen. Staat und Politik geraten in neue Abhängigkeit der Wirtschaft, ihre Eigenlogik ist vom "Regime des Marktes" verdrängt worden und stellt die sozialstaatlich verfaßten Massendemokratien und ihre sozialen Sicherungssysteme in Frage. Politische Teilhabe und soziale Integration werden dem Shareholder Value geopfert. Weil entfesselte Finanzströme und grenzüberschreitender Kapitalverkehr die Besteuerung von Gewinnen und Kapitalvermögen erschweren, die für die soziale Umverteilung gebraucht werden, steigt die soziale Armut und die sozialstaatliche Abfederung blutet aus; und weil multinationale Konzerne jede staatliche Souveränität untergraben, wachsen auf deren Territorien die Entsolidarisierung und die moralischen Besitzstände, aus denen sich individuelle und kollektive Identitäten nähren, gehen drauf.

Der Nationalstaat, vormals für die Lösung politischer und sozialer Probleme zuständig, ist zu einer denkbar schlechten Adresse geworden. Der "neue Kapitalismus" (R. Sennett), der flexible Arbeits- und Lebensverhältnisse, Mobilität und "dynamische Konkurrenz" verlangt, zermalmt das normativistische Selbstverständnis der modernen Verfassungsstaaten. Dieses Krisenszenario, das Habermas in: Die postnationale Konstellation malt, ist bekannt. Tagtäglich lesen und hören wir davon in den Massenmedien. Kaum ein Tag vergeht, wo dazu nicht ein mehr oder minder kluger oder zynischer Kommentar verfaßt wird. Auch die Lamenti darüber sind nicht neu. Zumal in Frankfurt, wo Klagen über die Dynamik von Wissenschaft und Technik dazu gehören, wo die soziale Wirklichkeit immer schon eklatant hinter den selbstgesetzten Erwartungen hinterherhinkt und wo der Wohlfahrtsstaat der Katechont wider Gewalt und Barbarei ist.

Auffallend ist jedoch, mit welcher Häufigkeit Habermas immer wieder neue Gegner ausmacht und verbraucht. Waren es einst die Jungkonservativen und Neoaristoteliker, die sich den Gaben der Vernunft und den Segnungen posttraditionaler Solidaritäten widersetzten, so sind es derzeit neben den erkenntnistheoretischen Relativisten (Konstruktivisten, Kulturalisten, Kontextualisten) vor allem die Neoliberalen, die "sozial rücksichtslos" agieren.

Verflachen der öffentliche Sphäre

Ein Gegengift gegen das "Regime des Marktes" zu finden, fällt Habermas merklich schwer. Erst recht, seitdem Medien und Öffentlichkeit selbst dieser Vermarktung anheimfallen. Galt die öffentliche Sphäre einst als Hoffnungsträger des kritischen Genres, so folgt sie heute den Gesetzen des Marktes und der Kommerzialisierung. Weswegen Politiker, die wieder gewählt werden wollen, statt Prinzipien und politischen Überzeugungen zu folgen, auf Erfolgsmeldungen und Beliebheitskurven in den Medien schielen und danach ihre Politik ausrichten.

Man kann sich Gerhard Schröders verdutztes Gesicht ausmalen, als Habermas ihn vor der Bundestagswahl auf die eigensinnigen Formen der Kommunikation aufmerksam gemacht hat, die Kultur, Information und Politik brauchen. Und man kann verstehen, wenn der Philosoph nach dieser Wahl "ein medienempfindliches und normativ entkerntes Kanzleramt" beklagt, das eine "immer flacher werdende geistige Landschaft" bedient, statt Wertedebatten und verfassungspatriotische Diskurse anzuleiern.

Überhaupt die Massenmedien und ihre Adressaten. Obschon das Publikum zerstreut und nur noch vernetzt an Diskursen teilnimmt, spielen die Kommunikationen via Massenmedien immer noch eine gewichtige Rolle. Nach wie vor bilden sie für ihn das Scharnier zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen lebensweltlichen Problemen und deren öffentlicher Erörterung. Von ihnen erwartet Habermas die zwanglose Behandlung wie Filterung von Fragen oder Themen gesamtgesellschaftlicher Relevanz, aber auch die kritische Beobachtung und Kontrolle der öffentlichen Gewalten.

Doch auch hier scheint das Vertrauen und der Optimismus, der ihn bisher getragen hat, zu schwinden. Seitdem alle Kanäle dereguliert sind und sie sich den "Imperativen der Einschaltquoten" beugen, werden auch die politischen Öffentlichkeiten "an die verschmutzten Kanäle des Privatfernsehens angeschlossen. In einem run to the bottom konkurriert auch noch das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit den heruntergekommensten Programminhalten und Präsentationsformen des Kommerzfernsehens." (Die Zeit vom 8.10.1999) Schon sieht Habermas am Horizont eine Welt heraufziehen, die, wenn "alle zu Moderatoren werden und Moderatoren nur noch mit Moderatoren sprechen" (ebd.), sehr bald luhmanneske Züge annimmt.

Aufholen, Einhegen, Pflegen

Worauf Habermas setzt, ist eine Re-Vitalisierung der Politik. Sie soll möglichst schnell die "Wende zum Besseren" bringen. Nach Lage der Dinge kann das nur eine Politik sein, die den globalen Märkten nachwächst und jenen Vorsprung aufholt, den die Weltökonomie mithilfe von Digitalisierung und Vernetzung herausgeholt hat. Mit nationalstaatlichen Mitteln, dessen ist er sich sicher, ist diese Aufholjagd nicht zu schaffen. Transnationale Formen und Gefäße müssen her, die die Wirtschaft schleifen und jene Kohäsion und soziale Integration der Bürger stärken, die für die "Zukunft der Demokratie" unabdingbar sind. Bemerkenswert ist, daß Habermas Protektionismus oder Umverteilung von oben nach unten ablehnt. Noch bemerkenswerter ist, daß ihn die Wirtschaft selbst nicht sonderlich interessiert. Offenbar bedarf seine Kritik keiner tieferen Analyse der Wirtschaft, da ausgemacht ist, daß von ihr das Unheil droht.

Erste Anzeichen für eine "politische Schließung der globalen Gesellschaft" ortet er in transnationalen Organisationen wie der UN, dem UN-Sicherheitsrat, dem internationalen Gerichtshof und ähnlichen Institutionen. Hier bestünden bereits internationale Gemeinschaften, die Mitglieder, die im Widerstreit leben, zur "gegenseitigen Interessenberücksichtigung" nötigen.

Woher Habermas diesen Optimismus nimmt, wissen wir nicht. Gerade die UNO (bei seiner Verteidigung des Kosovo-Krieges vom 29.4.99 in der Zeit bereits zur Uno klein geschrieben) und ihre Institutionen werden vor den Augen der Weltöffentlichkeit vorgeführt. Diese "Weltinnenpolitik ohne Weltregierung" scheint für politische und kulturelle Differenzen, die beispielsweise China, Rußland und Amerika, Muslims, Juden und Hispanics trennen, blind zu machen. Kein Wunder, daß auch die NATO diesem bunt zusammengewürfelten Haufen kein Vertrauen entgegenbringt und sich über sie erhebt.

Ein weiteres Signal liefert ihm die europäische Einigung. Durch die gemeinsame Währung sei die Grundlage für weitergehende Zusammenarbeit gelegt. Künftig komme es darauf an, daß der wirtschaftlichen Kooperation ein europäischer Bundesstaat nachwachse. Die Gleichschaltung der Abgaben-, Sozial-, Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Außenpolitik solle ein Zwischenschritt dazu sein, ehe am Ende dieser Entwicklung eine europäische Verfassung stünde, auf deren abstrakter Grundlage sich schließlich sowohl Portugiesen wie Schweden, Sizilianer und Basken wiederfinden.

Viel Zutrauen zu seiner Politik des "Einholens und Einhegens globaler Netze" scheint Habermas nicht zu haben. Wie anders ist sonst zu erklären, daß ihr ein "Bewußtsein kosmopolitischer Zwangssolidarisierung" nachwachsen müsse. Davon ist bislang aber wenig zu merken, außer man deutet das, was derzeit auf dem Balkan geschieht, als Meilenstein dorthin. Wer aufmerksam die Medien verfolgt, beobachtet eher ein Feilschen um Subventionen, ein Schachern um Posten und Funktionen, als Vorarbeiten zu dieser "abstrakten Solidarität". Und daß Portugiesen und Schweden, Griechen und Slowenen "füreinander einstehen", wenn es um Europa geht, bleibt eher ein frommer Wunsch des Philosophen. Vielmehr ist zu erwarten, daß sie sich um Arbeitsplätze und Löhne balgen werden.

Weil nach altmarxistischer Denke das Bewußtsein die Welt bestimmt und verändert, wendet sich seine Politik zunächst auch nicht an die Regierungen der Welt. Zu ersten Adressaten einer kosmopolitischen Bürgergesellschaft avancieren zivilgesellschaftliche Aktoren, soziale Bewegungen und sog. Nichtregierungsorganisationen (NGO's). Diese Hinwendung verwundert, vor allem bei einem Theoretiker der sozialen Demokratie. Gerade solche Organisationen wie Tier- und Naturschutzbünde, Friedens- und Ökobewegungen, Menschen- und Bürgerrechtsgruppen stehen nicht gerade in dem Ruf, demokratisch verfaßt zu sein. Sie sind bestenfalls Beispiele dafür, wie schnell partikulare Interessen sich zu universalistischen Ansprüchen aufspreizen können. Im übrigen ist keinesfalls ausgemacht, daß solche Gruppen politische Ziele (Abtreibung, Todesstrafe...) verfolgen, die den Beifall des Philosophen finden dürften.

Die andere Seite des Universalismus

Den Denkfehler, den Habermas und das gesamte kritische Genre begehen, ist nicht zufällig, sondern hat Methode. Dialektiker können sich nämlich die andere Seite der Globalisierung: Regionalisierung, Nationalismus, Xenophobie, Fundamentalismus, Standortsicherung usw. nur in Opposition und als Widerpart zu den "guten Gründen" denken, nicht aber als Simultaneität oder andere Seitenform. Wechseln wir aber zum Differentialismus, eröffnen sich plötzlich ganz andere Perspektiven und Sichtweisen auf die Probleme.

Gerade der Wert der Geographie, das Bewußtsein für Lokalitäten und Räume, die Bedeutung von Kultur und Religion, Sprache und Nationalität nimmt durch Globalisierung und Vernetzung eher zu als ab. Mehr als früher besinnen sich die Menschen wieder auf ihre Herkunft, auf soziale Nachbarschaft, auf nationale, regionale und kulturelle Besonderheiten. Und zwar nicht bloß an den Rändern der Weltgesellschaft, vielmehr auch in Zentraleuropa und der Neuen Welt. Das mögen die Idealisten und Prinzipalisten bedauern, ist aber leider so. Mit Rückfall, Regression oder mangelhafter Aufklärung oder Erziehung hat das überhaupt nichts zu tun.

Ferner sind "Standortwettbewerb oder -sicherung" keine Ausgeburten des Teufels, sondern wünschenswerte Mittel zur Verbesserung der Verhältnisse. Wie anders will man der leidlichen Politik der Subventionierung und Alimentierung, die die Schwachen schwach und die Starken stark läßt, begegnen? Standortkonkurrenz belebt das Geschäft, sie verhindert Lähmung, Stillstand und das Leben am Tropf. Offensichtlich geht es dem Philosophen ausschließlich um Ausgleich und Befriedung, nicht aber um Dymanik und Evolution. Was aber, so fragen wir den Philosophen, kommt nach Ausgleich und Frieden?

Die Politik des Verfassungspatriotismus und der postnationalen Konstellation leidet an einem einfachen Trugschluß. Soziale Demokratie bedarf, und hier folgen wir R. Sennett, der H. Arendt zitiert, der physischen Repräsentanz. Dies kann nach alter Sitte ein Territorium sein, oder - unter elektronischen Bedingungen - auch ein digitales Surrogat in Form einer virtuellen Stadt oder Gemeinschaft. Auf diese Weise ist die Demokratie entstanden, ohne diese Repräsentanz wird sie wieder verschwinden. Nur in der Nähe, die auch eine Fernnähe sein kann, im regionalen oder lokalen Raum also, bilden sich Loyalitäten und Verantwortlichkeiten heraus, nicht am abstrakten Himmel "weltbürgerlicher" Zwecke. Auf diese Ressourcen ist die Demokratie angewiesen, auf sie muß sie zurückgreifen können.

Schon die Gründer der Nationalstaaten wußten das. Blut, Opfer und Gewalt haben seitdem die Zwangsvereinigung oder Zwangsverschiebung von Rassen, Stämmen und Clans begleitet. Noch heute sind in Asien, Afrika oder im Nahen Osten die Nachwehen dieser Politik zu spüren. Deswegen ist das verharmlosende Wort der "Zwangssolidarisierung" besonders verräterisch. Warum sollte ausgerechnet die "politische Schließung der globalen Gesellschaft" unblutig verlaufen? Die Ereignisse in Bosnien und im Kosovo beweisen, aus welchem Blut und mit wessen Leid die Neue Weltordnung geschrieben werden. Wenn sich erst der Pulverdampf und die Rauchschwaden auf dem Amselfeld verzogen haben und politische Kompromisse die Vernichtung der Infrastruktur und die Deportierung der Menschen stoppen, werden Europas Bürger schnell begreifen, wer noch alles für die Vision vom "weltbürgerlichen Zustand" unter der Führung Amerkas und der NATO bluten wird müssen.

Der abstrakte Multikulturalismus, den Habermas favorisiert, entspricht jedenfalls einer Mission Impossible. Er baut auf der Ideologie globalisierter Eliten auf, die in den Transmittern der vernetzten Gesellschaft leben, und anderswo schon einmal treffend als "virtuelle Klasse" bezeichnet wurden: Diese Eliten sprechen die Sprache der Flughäfen und des medialen Lifestyles; ihre Kinder besuchen Privatschulen oder studieren an Eliteuniversitäten; Wohnort und Wohnanlage sind frei von Lärm, Schmutz und Kriminalität, die, wenn nötig, durch private Sicherheitsdienste geschützt werden; ihre Kultur ist die von McWorld, des Plastikgeldes und der Markennamen; der Imagepflege und der Steuern wegen setzen sie sich ein für Bedürftige und Schutzpflichtige; sie posieren in auflagenstarken Zeitungen oder wälzen sich auf den Sofas quotenträchtiger Sendungen; sie tragen die Moral der Offenheit und des Weltmännischen vor sich her und erteilen aus der Ferne gern gute Ratschäge, wie mit Fremden umzugehen ist, undsoweiter.

Von all dem hören wir beim Linksintellektuellen Habermas nichts. Hier dominiert das Kontrafaktische, das Gutgemeinte, das Prinzipielle, die Reinheit der Idee und des Gedankens. Andererseits ist dies aber bezeichnend für die "Ratlosigkeit" dieser Linken, die über die Lebensverhältnisse ihrer ehemaligen Klientel nichts mehr weiß. Es ist schon höchst merkwürdig, wenn Denker wie der Franzose A. Finkielkraut, die eher dem rechten Genre zuzuordnen ist, darauf hinweisen oder man dies gar im Bayernkurier lesen muß.

Am Schluß jedenfalls stellen wir erstaunt fest, daß der Philosoph der "aufgeklärten Ratlosigkeit", die er bemängelt und in den politischen Arenen dieser Welt beobachtet, nur weitere Noten hinzufügt. Nach Lektüre seiner jüngsten Schriften zur Globalisierung, zu Postpolitik und postkonventioneller Moral haben wir nicht den Eindruck, daß Habermas viel zur Bewältigung der ökonomischen, technischen und kulturellen Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts und darüber hinaus beitragen kann oder wird. Aber dieser Eindruck ist nicht neu. Den hatten wir auch schon vor 1989.