Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei beginnen

In letzter Minute nimmt die EU nach einem wenig erbaulichen Feilschen mit Österreich doch Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf, allerdings wächst auch in der Türkei die Ablehnung gegen einen Beitritt

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Trotz Verhandlungsbeginn ist das letzte Wort über einen EU-Beitritt der Türkei bisher weder in Brüssel noch in Ankara gesprochen Gepokert wurde bis zur letzten Minute. Um 17 Uhr sollten am 3.Oktober die Verhandlungen zum EU-Beitritt zwischen der Türkei und der EU-Kommission beginnen. Doch zunächst musste der Termin verschoben werden, weil Österreich weiterhin Vorbehalte anmeldete.

Die Wiener rechtskonservative Regierung wollte als Ziel der Verhandlungen eine "privilegierte Partnerschaft" festschreiben. Darin ist sie sich mit den deutschen Unionsparteien sowie mit großen Teilen der französischen Konservativen wie vielen Bürgern der EU einig. Doch die besondere Hartnäckigkeit der Alpenrepublik hatte sicherlich auch innenpolitische Gründe. Am Sonntag fanden in der Steiermark Landtagswahlen statt. Das Bündnis aus Christlichsozialen und Rechtskonservativen ging mit der Beschwörung abendländischer Werte und der Rekurrierung auf Geschichtsmythen, wie den vor Wien gestoppten türkischen Truppen vergeblich auf Stimmenfang. So war es auch nicht verwunderlich, dass Österreich erst am späten Nachmittag, als die Wahlen in der Steiermark dem Ende zu gingen, einem Kompromiss zustimmte.

Der britische Außenminister Jack Straw ("Wir haben soeben Geschichte geschrieben”) und sein türkischer Amtskollege Abdullah Gül („Wendepunkt der Beziehungen”) vor dem Beginn der beschlossenen Verhandlungen. Foto: Rat der Europäischen Union

Doch ganz ergebnislos war Österreichs Hartnäckigkeit nicht. Der enge Partner Kroatien kommt jetzt doch noch in den Genuss von Aufnahmeverhandlungen mit der EU. Außerdem wurde auf Druck von Österreich festgeschrieben, dass die Aufnahmekapazitäten der EU begrenzt sind. Das ist ein Rückschlag für die Ukraine und andere osteuropäische Staaten, die sich auch noch Hoffnungen in einen EU-Beitritt machen. Selbst der Türkeibeitritt wird nun auch davon abhängig gemacht, ob die EU in der Lage sei, die Türkei aufzunehmen. Dieser vielfach auslegbare Passus zeigt auch, dass die Türkei noch längst nicht in der EU ist, auch wenn dieser Eindruck manchmal bewusst erzeugt wird. Was jetzt beginnt, ist lediglich ein Gesprächsmarathon mit ungewissen Ausgang, der jederzeit unter- oder auch abgebrochen werden kann. Selbst überzeugte Befürworter einer EU-Mitgliedschaft wie der ehemalige Bundesaußenminister Fischer sprachen von einer Gesprächsdauer von ca. 15 Jahren.

EU-Kritiker in der Türkei im Aufwind

Die innentürkische Debatte über die EU wird in den hiesigen Medien nur verzerrt dargestellt. Die Vorstellung, dass die große Mehrheit der türkischen Bevölkerung einen schnellen EU-Beitritt fordert und nur einige Islamisten und unverbesserliche Nationalisten opponieren, gibt die Meinung von westlich orientierter Intellektuellen und Geschäftsleuten in der Türkei wieder.

Das sind aber nur die bevorzugten Gesprächspartner der meisten Korrespondenten großer Zeitungen in Istanbul. Dabei schwingt vor allem bei Intellektuellen die Hoffnung mit, dass nur eine EU-Mitgliedschaft auf Dauer Demokratie garantiert kann. Das ist mit Abstrichen auch die Position von vielen gemäßigt linken Organisationen wie der mit den Grünen vergleichbaren Partei ÖDP oder Menschenrechtsorganisationen wie dem IHD. Dieser steht dem EU-Beitritt der Türkei zwar kritisch gegenüber, stellt sich aber nicht grundsätzlich gegen den Beitrittsprozess, weil darin eine Chancen für einen demokratischen Wandel gesehen wird. Eine ähnliche Position vertreten auch die meisten kurdischen rganisationen in der Türkei. So begrüßte der kurdische Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, den EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen bei dessen Besuch im September 2004 mit den Worten: „Lieber Herr Verheugen, willkommen im größeren Europa.“

Im Gegensatz dazu lehnen die Menschenrechtsorganisation Höc, Tayad und die "Förderation für Grundrechte und Freiheiten“ eine EU-Mitgliedschaft ab. Zwar würde dadurch die blutige Folter vielleicht zurück gedrängt, aber es entstünden neue Formen der Unterdrückung, meinte eine Vertreterin der HÖC. Dabei verweist sie auf die Einführung der Isolationshaft in türkischen Gefängnissen, die ausdrücklich mit Verweis auf die EU-Standards erfolgt sei.

Verlierer eines EU-Beitritts

Auch wirtschaftliche Gründe spielen bei der EU-Ablehnung in Teilen der Bevölkerung eine Rolle. Vor allem kleine Landwirte und Gewerbetreibende befürchten. zu den Verlierern eines EU-Beitritts zu gehören. Auch der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Joachim Becker sieht in diesen Gruppen die Verlierer eines EU-Beitritts. Der an der Wirtschaftsuniversität Wien lehrende Ökonom weist auf Gefahren für die innenpolitische Entwicklung der Türkei hin. „Diese Gruppen sind in der Frage des EU-Beitritts noch kaum zu Wort gekommen. Die EU-skeptischen Positionen könnten von nationalistischen Parteien aufgegriffen und instrumentalisiert werden.“

Tatsächlich bekommen einige nach den letzten Wahlen aus dem türkischen Parlament verschwundene rechte und nationalistische Parteien wieder Zulauf, seit sie gegen eine vermeintliche Unterordnung der Türkei unter die EU mobil machen. Besonders die rechtsnationalistische MHPA konnte davon in letzter Zeit profitieren. Diese Gruppenhaben bei ihrer Kampagne vor allem die gegenwärtige islamisch-konservative türkische Regierung im Visier, die ihr Schicksal eng mit einem EU-Beitritt verknüpft hat und dadurch auch zu immer weiteren Zugeständnissen an Brüssel bereit scheint.

Die Mehrheit der EU-Skeptiker sind Kemalisten, die erklärte Anhänger einer Zusammenarbeit mit den Westen und für eine säkulare Republik eintreten, aber genau so intensiv die Souveränität der Türkei verteidigen. Sie bevorzugen eine enge Zusammenarbeit mit den USA und eine privilegierte Partnerschaft mit den EU, aber keinen Beitritt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich Anhänger einer solchen Position nach den nächsten Wahlen in der Türkei wieder stärker auch im Parlament und in der Regierung artikulieren. Schon daher ist das letzte Wort über einen EU-Beitritt weder in Brüssel noch Ankara gesprochen.