Aufschwung oder Stagnation?

Die Konjunkturprognosen für das Jahr 2011 fallen vorsichtig bis betont optimistisch aus. Doch es gibt erhebliche Risiken, deren Auswirkungen entscheidend von den politischen Weichenstellungen abhängen

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Dieter Hundt will zum Jahreswechsel auf seine Familie, den Klassenerhalt des VfB Stuttgart und die Fortsetzung des Aufschwungs anstoßen. Kurz vor Weihnachten ist der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der auch dem Aufsichtsrat des schwäbischen Bundesligisten vorsteht, so guter Laune, dass er sogar die Konjunkturprognosen der Bundesregierung nach oben schraubt.

1,8 Prozent Wirtschaftswachstum sagt Schwarz-Gelb für das kommende Jahr voraus, doch Hundt legt noch ein paar Pünktchen in unbestimmter Höhe nach.

Wir haben in diesem Jahr eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu verzeichnen, die alle Erwartungen weit übertrifft. Ein Wachstum von 3,5 Prozent und mehr haben selbst die kühnsten Optimisten nicht vorhergesagt. Im kommenden Jahr wird sich das Exportwachstum etwas verlangsamen. Insgesamt wird das Wachstum aber wieder deutlich über zwei Prozent liegen. Ich denke, dass wir Ende 2011 das Niveau vor der Krise wieder erreicht haben werden.

Dieter Hundt

Setzt sich der Aufschwung fort? Schafft der VfB Stuttgart den Klassenerhalt? Was aus Hundts Neujahrswünschen wird, lässt sich derzeit schwer beantworten. Sicher ist nur: Um die schwierige Mission 2011 zu erfüllen, werden Wirtschaft und Politik unter keinen Umständen dem Beispiel des Bundesligisten folgen, der auf (im Krisengebiet unverbrauchtes) Führungspersonal setzt und gerade einen neuen Cheftrainer verpflichtet hat.

Positive Grundstimmung

Dieter Hundt steht mit seinem optimistischen Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung allerdings nicht allein dar. "Von den Experten kommen nur gute Nachrichten", freut man sich im Hause Springer, und dieser Befund ist zweifellos richtig, auch wenn man über die jeweilige Qualität der landauf landab zitierten "Experten" geteilter Meinung sein mag.

Der "Index der Hoffnung" klettert weiter vor sich hin, 42 Prozent der Deutschen glauben mittlerweile an die Fortsetzung des Aufwärtstrends, und auch Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, hält es für möglich, "zügig das Produktionsniveau von vor der Krise" wieder zu erreichen und 2011 ein Wachstum von rund zwei Prozent anzusteuern.

Michael Heise beurteilt die Lage ganz ähnlich. Der Chefvolkswirt der Allianz wurde gerade zum "besten Prognostiker der deutschen Wirtschaft" für das Jahr 2010 ernannt und lag damit mehrere Dutzend Plätze vor dem Bundeswirtschaftsminister, für den Rang 39 vermutlich bereits als Erfolg gewertet werden muss. Schließlich konnte Rainer Brüderle (FDP), der am Wochenende wieder einmal von der nahen "Vollbeschäftigung" träumte, mit der HSH Nordbank und der West LB noch einige sachkundige Marktteilnehmer hinter sich lassen ...

Heise schätzt das Wachstum nun auf 2,6 Prozent, sieht in der Gesamtentwicklung allerdings "mehr Abwärtsrisiken als Aufwärtsrisiken".

Damit deckt sich die Prognose des Chefvolkswirts weitgehend mit der Voraussage des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Hier geht man von 2,5 Prozent aus, die jedoch nicht (oder noch nicht) als Beweis für einen selbst tragenden Aufschwung interpretiert werden.

Risiken

Auch das IMK lag mit seiner Prognose für das Jahr 2010 weit daneben. Der "Schätzfehler für die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts" betrug beachtliche 1,7 Prozentpunkte, den die Forscher mit der stärkeren konjunkturellen Dynamik, einer Verbesserung der außenwirtschaftlichen Bedingungen, der spürbaren Erholung der Binnennachfrage und einer unvorhergesehen Entwicklung im Bereich der privaten Konsumausgaben und der Ausrüstungsinvestitionen begründen.

Entsprechend positiver fällt die Prognose 2011 aus, die freilich nicht auf den Hinweis verzichten will, dass sich die beschlossenen Konjunkturpakete "trotz allen Unkenrufen" als eminent wirksam hätten und von strukturellen Wachstumshemmnissen "aufgrund eines vermeintlich zu unflexiblen Arbeitsmarktes" keine Rede sein könne.

Das IMK rechnet für 2011 mit einer weiteren Absenkung der Arbeitslosenquote auf 7,0 Prozent, einer Steigerung der Konsumausgaben um 1,5 Prozent, der Reduzierung des Staatsdefizits von 3,4 auf 2,3 Prozent und einer Halbierung des Exportwachstums von 15 auf 7,4 Prozent, die immer noch einen deutlichen Anstieg markieren würde.

Trotzdem sehen die Wissenschaftler um Institutsdirektor Gustav Horn die Konjunktur "am Scheideweg". Die aktuelle Lage sei "von hoher Ambivalenz gekennzeichnet", ein anhaltender Aufschwung also ebenso möglich wie ein "japanisches Szenario", das eine fortlaufende Stagnation mit zeitweiligen Rezessionen bedeuten könnte.

In welche Richtung es geht, hängt von zwei Faktoren ab: Zum einen, ob die Lohnsteigerungen und die Beschäftigungsausweitung im kommenden Jahr die Binnenkonjunktur in ausreichendem Maße stützen werden, die ansonsten durch das Auslaufen der Konjunkturprogramme und die Sparbeschlüsse der Bundesregierung und der Länder belastet wird. Zum zweiten, wie die turbulenten Entwicklungen im Euroraum das Bild der Konjunktur prägen werden. Gelingt es, den Euroraum zu stabilisieren, ist auch mit spürbar positiven Effekten für die deutschen Exporte zu rechnen. Gelingt es nicht, wird die deutsche Ausfuhr leiden, die eine wichtige Säule der guten Konjunktur in Deutschland ist.

IMK: Konjunktur am Scheideweg. Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung 2011

Europa und Deutschland

Beide Faktoren bergen freilich so viele Risiken, dass all die optimistischen Konjunkturprognosen mit Vorsicht zu genießen sind. Die Krisenmerkmale innerhalb der EU sind so ausgeprägt (Wie ein Krisenmechanismus zum Normalzustand mutiert), dass wohl nicht einmal finanz- und wirtschaftspolitische Jahrhundertstrategien, die überdies noch erfunden werden müssten, ausreichen würden, um kurzfristig gegenseitiges Vertrauen, ökonomische Stabilität und politische Geschlossenheit (wieder) herzustellen. Die Entwicklung des Euroraums ist deshalb für viele nationale und internationale Beobachter, wie etwa das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung, Anlass zu anhaltender Sorge.

Noch kann Deutschland einen wichtigen Beitrag dazu leisten, wenigstens einen Teil der Probleme mit Hilfe seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu kompensieren. Doch die amtierende Bundesregierung und ihre beiden Vorgänger haben wichtige Steuerungsinstrumente aus der Hand gegeben. In dem verzweifelten und deshalb oft kopflosen Versuch, die öffentlichen Haushalte vor dem Kollaps zu retten - vor allem aber, um den Arbeitsmarkt so flexibel und den Aktionsradius der Unternehmen so groß wie möglich zu gestalten.

Die verbliebenen Optionen reichten noch, um halbwegs angemessen auf die Wirtschafts- und Finanzkrise reagieren zu können, doch in naher Zukunft helfen weder Kurzarbeit noch Konjunkturpakete, für die wohl ohnehin keine Mittel mehr verfügbar wären.

Mit der Einführung der "Schuldenbremse" wird der Handlungsspielraum des Staates noch einmal drastisch eingeschränkt, so dass der Vermutung des IMK, die deutsche Finanzpolitik befände sich auf einem "kräftigen Restriktionskurs", kaum ernsthaft widersprochen werden kann. Restriktive Impulse erwarten die IMK-Forscher überdies von der Anhebung der Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung und den geplanten Einsparungen im Gesundheitswesen.

Wachstum für wen?

Viel wichtiger als die Kür des "besten Prognostikers" für 2011 ist die Frage, wer von einem mäßigen, stabilen oder exorbitanten Wachstum am Ende profitiert und wie sich die die wirtschaftliche Entwicklung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt oder Nicht-Zusammenhalt auswirkt. Juan Somavi, Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation, wies anlässlich der Vorstellung des Global Wage Report 2010/2011 vor wenigen Tagen eindringlich auf diesen Zusammenhang hin.

Die Wirtschaftspolitik muss ihren Schwerpunkt auf Beschäftigung und angemessene Entlohnung legen. Dies ist nicht nur für die wirtschaftliche Erholung entscheidend, sondern auch für die Bekämpfung sozialer und ökonomischer Ungleichgewichte.

Juan Somavi

Deutschland steht an der Schwelle einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung, die auch für den Euroraum von zentraler Bedeutung wäre, hat aber gerade in dem von Somavi angesprochenen Bereich erheblichsten Nachholbedarf. Denn auch hierzulande sanken die Reallöhne deutlich und bis einschließlich 2009 immerhin drei Jahre in Folge, während gleichzeitig die Einkommensunterschiede bundesweit - aber auch zwischen Ost- und Westdeutschland - immer weiter auseinanderklafften.

Wer allein die bloß kosmetischen Korrekturen im Bereich der Leiharbeit betrachtet, die Arbeitsministerin Ursula von der Leyen einstmals zur Chefinnensache machen wollte, kann nicht den Eindruck haben, dass die Bundesregierung hier in naher Zeit Entscheidendes ändern möchte.

Nicht ausgeschlossen also, dass Leiharbeiter und andere Arbeitnehmer in prekären Beschäftigungsverhältnissen die eigentlichen Wutbürger der Jahre 2011 ff. stellen. Für sie ändert sich durch Konjunkturprognosen offenbar ebenso wenig wie durch die realen wirtschaftlichen Entwicklungen. Das gilt selbstredend auch für die Millionen, die komplett vom ersten Arbeitsmarkt getrennt und von wesentlichen Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sind.