Aufstand der Körper?

Die implodierende europäische Bevölkerung und die Debatte um den Raum

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Der Raum hat eine Renaissance erfahren. Wenigstens teilweise ist er in den letzten Jahren gegen medientheoretische und systemsoziologische Verächter rehabilitiert worden. In Telepolis haben vor allem Rudolf Maresch und Niels Werber die Raumdebatte nachgezeichnet und eine Vererdung und "Rematerialisierung der Diskurse" (Maresch) gefordert. Schützenhilfe dürften sie von der realpolitischen Entwicklung erhalten haben, die die Euphorie um die raumlose Welt wiederholt gedämpft hat.

Angelehnt haben könnten sich die raumvergessenen Spekulationen der deutschen Medientheorie an einen Mythos, dem auch die Politik bis in die jüngste Zeit vertrauensvoll gefolgt ist: Der Legende von der "Vitalität des deutschen Volkes". Ein neues Buch des Sozialforschers Meinhard Miegel entlarvt diese Legende nun endgültig als Illusion. Im Schatten einer fortschreitenden Bevölkerungsimplosion kündige sich ein "neuer Abschnitt" (Miegel) der europäischen Geschichte an - ein Kampf um die Körper, der eine Rückkehr des Raumes vor die Haustür der Theorie verspricht.

Die Begeisterung um weltweite Vernetzung und uneingeschränkten Informationsfluss ist verdampft. Der Glaube an die Weltgesellschaft ist mit den Zwängen der Geographie kollidiert und aus dieser Kollision beschädigt hervorgegangen. "Die Frage nach der Lage lautet heute offenbar: mit oder ohne Raum", spitzte Niels Werber schon Mitte 2001 die medientheoretische Diskussion zu. "Ohne Raum" lautet ihm zufolge das Credo von Denkern der virtuellen Welt wie Norbert Bolz oder Rudolf Stichweh. Probleme sollen zeitlich erfasst werden und sich nicht länger an den Größen Staat, Territorium oder Bevölkerungszahl orientieren. Verbunden damit ist eine ethische Vision, nämlich der Glaube an das Ende von "Plagen wie Fremdenhass, Chauvinismus, Diktatur und Krieg" (Helmut Willke). Einen wichtigen Halt finden die Theorien der Raumlosigkeit in der (Luhmannschen) Systemtheorie, die als soziale Letzteinheit die "Kommunikation" nominiert. Von einer organischen und physischen "Umwelt" abgehoben, ist sie in der vernetzten Welt gegen territoriale und räumliche Grenzen per definitionem indifferent. "Mit" dem Raum argumentieren hingegen "geopolitische" Denker wie der amerikanische Sicherheitsberater Zbig Brzezinski. Sie leugnen nicht die "Indizien für das globale Kommunikationssystem der Weltgesellschaft" (Werber), glauben aber, dass "kommunikativ(e) Netzwerke den geographischen Raum" nicht schlicht ablösen.

Bevölkerung und Raum im Europa der Zukunft

Abseits soziologischer Universaltheorien und ihrer essayistischen Multiplikatoren verspricht die Bevölkerungsforschung nun eine Lektion von der Wichtigkeit des Raumes. Der Sozialforscher Meinhard Miegel, Leiter des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, verhandelt in einem neuen Buch die demographische Zukunft Deutschlands und Europas, die ihm wesentlich eine räumliche Zukunft wird. Sein Griff nach dem Schleier, der in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg über Bevölkerungsfragen liegt, enthüllt ein Bild, das vor allem in seiner Radikalität unerwartet ist.

War die Bevölkerung in Deutschland und Europa in den letzten Jahrhunderten kontinuierlich gewachsen, behauptet Miegel nämlich, ist sie zur Zeit dabei, schlicht zu implodieren. Von den meisten noch unbemerkt, hat ein "neue(r) ... Abschnitt" der europäischen Geschichte begonnen. Was droht, ist einerseits ein Verlust der Körper, der - so Miegel in einem Interview mit dem Online-Magazin changeX - dazu führen könnte, dass Teile Europas von Menschen entleert werden.

"Deutschland wäre nicht das erste Land, dessen Bevölkerung sich auflöst."

Zugleich zu erwarten sei ein Aufstand der Körper, eine massive Migrationsbewegung aus Ost- und Mitteleuropa nach Westen und ein subsequenter Kampf um Menschen. Auf einem bevölkerungsschwachen Kontinent bedeutet dies hautnahen Unterricht in geographischen Realitäten.

Die letzte deutsche Generation, die sich selbst zahlenmäßig ersetzt hat, fasst Miegel vorliegende Daten zusammen, ist 1892 geboren worden. Seit Jahrzehnten bekommen drei Erwachsene nur je zwei Kinder. Der Altersscheitelpunkt der Gesellschaft hat sich von 23 Jahren um 1900 auf 40 Jahre verschoben. Was Deutschland erwartet, ist ein Verlust von 18 Millionen Körpern bis 2040. Der deutsche Nordosten, so Miegel in einem Interview der Welt am Sonntag, werde schon bald zum menschenleeren "Biotop". Symbol des Wandels könnte dabei ausgerechnet die Hauptstadt Berlin sein. Die "in der Lebenswirklichkeit des 19. Jahrhunderts" verwurzelten "Träume" von der Zehn-Millionen-Metropole werden möglicherweise schon bald von leerstehenden Häusern und Trümmersiedlungen abgelöst, die den milliardenteuren Umzug aus Bonn als historischen Fehlgriff erweisen.

Gesetze des Raumes

Von den Gesetzen des Raumes im Zeitalter weltweiter Vernetzung zeugt jedoch besonders eine drohende europäische Migrationsbewegung von Ost nach West, an der sich gleich mehrere Dinge ablesen lassen. Körper tendieren in der Moderne dazu, sich zu massieren, wo bereits viele Körper sind. Von Ost nach West führt der Weg so, obwohl Deutschland gegenwärtig "doppelt so dicht besiedelt (ist) wie Polen oder Tschechien, viermal so dicht wie Weißrussland oder die Ukraine und fünfundzwanzigmal so dicht wie Russland".

Relativ genau lässt sich anhand von "Erfahrungssätze(n)" auch der Zeitpunkt bestimmen, ab dem Körper sich im Raum in größerer Zahl zu bewegen beginnen. "Innerhalb eines Sprach- und Kulturkreises", behauptet Miegel, ist dies der Fall, "wenn das Wirtschaftsgefälle steiler als vier zu drei ist."

Über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg ist hingegen ein Gefälle von "zwei zu eins" nötig. "Hat eine Bevölkerung doppelt so viele materielle Güter wie eine andere, machen sich Gruppen der Ärmeren auf den Weg, um am Wohlstand der Reichen teilzuhaben." Schließlich ist zu erwarten, dass sich vor allem bestimmte Körper in Bewegung setzen werden, nämlich die jungen und kräftigen. Was sich hinter den Migrationsbewegungen innerhalb Europas verbirgt, wären in diesem Fall Mechanismen des Ausschlusses und der Verelendung, die auch der raumvergessenen Systemsoziologie unter dem Begriff der "Exklusion" bekannt sind. In Europa droht der Aufriss "schwarzer Löcher", Abstellräumen "überschüssiger" und zurückgelassener Körper.

Keine Region und kein Staat, so Miegel, kann und wird sich vor diesem Hintergrund und unter den gegebenen demographischen Verhältnissen eine umfangreiche Abwanderung gefallen lassen. Zu erwarten sind neue Grenzen, die Europa durchziehen werden, um in Bewegung geratene Körper zu disziplinieren. Schon die Berliner Mauer ist als Reaktion auf ein demographisches Problem interpretierbar. Ähnliches (und Schlimmeres) bleibt für die Zukunft zu befürchten. Die Bedeutung territorialer Markierungen, die EU-Europäer gegenwärtig vor allem an weit entfernten Regionen ablesen, könnte sich auch in ihrer Nachbarschaft herausstellen

Handlungsoptionen

Politisch betrachtet folgt aus all dem Entscheidungsdruck. Miegel jedenfalls möchte die Theoreme der Raumlosigkeit nicht an der Realität getestet sehen. Er plädiert stattdessen für eine massive Migrationsverhinderungspolitik in Europa durch Angleichung der Wohlstandsniveaus, deren milliardenschwere Investitionen die Rückkehr des Raumes über die Kontostände der Westeuropäer anzeigen dürften. In Europa muss sich demnach wiederholen, was in Deutschland bereits stattfindet. Hier werden jährlich 75 Milliarden Euro von West nach Ost verschoben, um die Körper im Raum zu fixieren. Ziel müsse eine Reduzierung des Wirtschaftsgefälles von drei zu eins (1990) auf vier zu drei (2010). Ob dies gelingt, ist unklar.

Ein den Theoretikern der Weltgesellschaft vorschwebender globaler Wettbewerb um die besten Köpfe, so Miegel weiter, ist in jedem Fall zu verhindern, weil er die schwächsten Regionen weiter schwächt. Die Entleerung des Raumes in Europa möchte Miegel mit einem Import von Körpern gering qualifizierter Menschen aus Südostasien und Afrika ausgleichen, wo ein Überschuss der Körper zur Zeit noch zu beobachten ist. Wie die "einheimische" europäische Bevölkerung auf diese Bewegung reagieren wird, ist, so weiß auch Miegel, jedoch mehr als unsicher. Mehr als 200.000 Neuankömmlinge pro Jahr, mutmaßt er vorsichtig, werde sie nicht hinnehmen.

Ein anderer Geopolitiker hat sich in den letzten Wochen in dieser Hinsicht klarer geäußert. Ex-Kanzler Helmut Schmidt erklärt in einem neuen Buch, es seien schon jetzt zu viele Ausländer in Deutschland. Der SPD-Politiker scheint über die Radikalität der demographischen Entwicklung zwar nur bedingt informiert. Eine wirkliche Lösung, hofft er, "läge im Kinderkriegen". Für seine reservierte Haltung gegenüber den Ausländern hat er jedoch einen nachvollziehbaren Grund. "Die Deutschen", so Schmidt, "sind innerlich weitgehend fremdenfeindlich." Es steht nicht gut um die Utopie der Weltgesellschaft jenseits des Raumes.

Meinhard Miegel: Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen. Berlin/München 2002 (Propyläen-Verlag). 303 S. ISBN: 3-549-07154-X. Preis: 22,00 E.

Helmut Schmidt/Sandra Maischberger: Hand aufs Herz. Helmut Schmidt im Gespräch mit Sandra Maischberger. München 2002 (Econ-Verlag). 266 S. ISBN: 3-430-17964-5. Preis: 20,00 E.