Ausgezählt - und alle Fragen offen

Auch nach der Bekanntgabe der Parlamentswahlergebnisse ist weitgehend unklar, wer Libyen zukünftig regiert. Ethnische Säuberungen werden von der internationalen Presse kaum thematisiert.

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Gut zehn Tage nach der Parlamentswahl in Libyen stehen nun die Ergebnisse fest: Internationale Medien feiern Mahmud Dschibril als Sieger, der mit seiner aus 60 Gruppierungen bestehenden "Allianz der Nationalen Kräfte" 39 von 80 für Parteien reservierte Sitze errang.

Dschibril, der als ehemaliges Übergangsratsmitglied nicht persönlich kandidieren durfte, stammt aus Bani Walid und gehört dem arabischen Warfalla-Stamm an, der im Bürgerkrieg eher der Gaddafi-Seite zugerechnet wurde. Er studierte in Ägypten und den USA und lehrte in Pittsburgh Politikwissenschaften, bis ihn der Gaddafi-Sohn Saif al-Islam 2007 nach Libyen holte und an die Spitze der Planungs- und Entwicklungsbehörden setzte, wo er Privatisierungen einleiten und durchführen sollte.

Volksgruppen in Libyen

Kurz nach Ausbruch des Bürgerkrieges im letzten Jahr schloss er sich den Aufständischen an und wurde Vorsitzende des Exekutivrats, aus dem er sich nach andauerndem Streit mit seinem Konkurrenten Mustafa Abdul Dschalil, dem ehemaligen Justizminister Gaddafis, im September wieder verabschiedete. In westlichen Medien werden Dschibril und seine Allianz als "liberal" und "säkular" bejubelt. Eine Einschätzung, die der Warfalla selbst nicht teilt: Dem Fernsehsender CNN sagte er, dies seien "Ideologien" und er sei "Moslem"

Zweitstärkste Partei wurde mit 17 Sitzen die von Mohammed Sawan geführte "Partei für Gerechtigkeit und Wiederaufbau", die als politischer Arm der Moslembrüder gilt. Sie sehen sich ebenso wie Dschalil als Wahlsieger, weil die meisten Gewinner der 120 nicht über Parteilisten vergebenen Direktmandate ihrer Einschätzung nach eher ihnen als der Allianz nahestehen. Wer tatsächlich Mehrheiten in der Nationalversammlung bilden kann, werden erst die Sitzungen dort zeigen.

Eine sehr wichtige Rolle werden wahrscheinlich regionale Identitäten spielen – nicht nur bei vielen der direkt gewählten Abgeordneten, sondern auch bei einem großen Teil der 24 Mandatsträger, die kleine Parteien in die Nationalversammlung entsenden, die nicht nur eine neue Übergangsregierung wählen, sondern auch eine Verfassung verabschieden soll.

Auch ein Dreivierteljahr nach der Ermordung Muammar al-Gaddafis liegt die tatsächliche Macht in Libyen allerdings noch weitgehend in den Händen von Milizen und es kommt weiter zu bewaffneten Auseinandersetzungen – nicht nur zwischen arabischen Stämmen, sondern auch zwischen den Volksgruppen. Vertreter der dunkelhäutigen Tubu berichten, dass der arabische Suwaja-Stamm viele von ihnen mit Gewalt aus dem Land jagte. In der Oasenstadt Kufra soll die Hälfte der Bevölkerung dieser ethnischen Säuberung zum Opfer gefallen sein. Dem Tubu-Sprecher Jomode Elie Getty Doby zufolge werden vor allem Tubu, die kein Arabisch sprechen, pauschal wie Zuwanderer aus dem Tschad, dem Sudan oder dem Niger behandelt und nach dorthin vertrieben.

Volksgruppen im Tschad

Im Tschad destabilisieren diese Vertriebenen aus Libyen ein Land, in dem der Zaghawa Idriss Déby vor 22 Jahren den Tubu Hissène Habré stürzte. In Mali führte der Zuzug schwerbewaffneter Tuareg aus dem Südwesten Libyens (wo sie sich die Verbliebenen immer noch vereinzelt Auseinandersetzungen mit Arabern liefern) bereits zur Errichtung des neuen Tuareg-Staates, in dem mittlerweile die Salafistengruppe Ansar Dine die Macht übernommen hat, vor der angeblich 300.000 Menschen auf der Flucht sind.

Von Dschibril ist kaum zu erwarten, dass er gegen ethnische Säuberungen einschreitet: Nachdem im letzten Jahr bekannt wurde, dass Brigaden aus Misrata die dunkelhäutigeren Einwohner ihrer Nachbarstadt Tawargha vertrieben hatten und nicht mehr zurückkehren ließen, meinte der bloß, dass dies allein die Angelegenheit der Misrataner wäre und niemand sonst das Recht habe, sich einzumischen. Theorien über Versöhnung, wie sie in Südafrika, Irland oder Osteuropa zur Anwendung kamen, seien hier fehl am Platze.

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