BSW zur EU: Wagenknecht-Partei fordert Ende der europäischen Illusionen

Wagenknecht und ihre Brüsseler Bündniskandidaten. Bild: @JohnLucasD

Medien legen bei Wagenknecht-Bündnis Fokus auf Innenpolitik. Ein Detail des EU-Wahlprogramms bleibt unterbelichtet. Warum sich der Blick auf die EU-Pläne lohnt.

Beim Gründungsparteitag des Bündnisses Wagenknecht (BSW) in Berlin erhielten vor allem die heißen Themen der innenpolitischen Debatte die Aufmerksamkeit der Medien: der Umgang mit russischem Gas etwa, mit Migration, der der AfD. Dass das Programm zur Europawahl auch grundlegende Entwicklungsfragen der EU berührt und ein integrationspolitisch interessantes Konzept verfolgt, ist dabei den wenigsten aufgefallen.

Bündnis Wagenknecht: Neues Konzept für die EU-Politik

Worum geht es dabei? Die Ampelparteien und Union stehen – zumindest offiziell – auf dem Boden einer gemeinsamen Zukunftsvorstellung für die EU – im Euro-Slang: Finalität.

Also die "immer engere Union der europäischen Völker", wie es in der Präambel der Verträge heißt. Auch die Linkspartei ist unter der Parole "Mehr Europa, aber anders!" mehrheitlich Teil dieses Konsenses. Demgegenüber hat die AfD de Gaulles Europa der Vaterländer für ihr nationalistisches Programm reaktiviert.

Mit dem BSW-Programm ist dagegen zum ersten Mal ein neues und anderes Konzept in das Programm einer Partei eingeflossen, das weder auf die eine noch die andere Seite gehört. Im europapolitischen Expertenjargon läuft es unter dem Namen "differenzielle und flexible Integration."

BSW zu EU-Politik: Differentielle und flexible Integration

Hinter dem Wortungetüm verbirgt sich im Kern ein Mix aus Vertiefung der Integration auf bestimmten Gebieten und gleichzeitigem Rückbau auf anderen. Angesichts der nicht abreißenden, multiplen Krisen der EU – Finanzcrash, Eurokrise, Brexit, Corona, Kriege – und den zentrifugalen Tendenzen, die sich daraus ergeben, ist dieses Konzept eine pragmatische Alternative oder ein dritter Weg zwischen der "immer engeren Union" und schleichender Erosion oder gar dem Zerfall in nationale Einzelteile.

So schlägt etwa der ehemalige Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Fritz Scharpf, vor, die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts vom Status des Primärrechts auf Sekundärrecht zurückzustufen, und ihnen damit die neoliberalen Reißzähne zu ziehen.

Gleichzeitig soll bei der Energiewende die Integration verstärkt werden. Das ist ein Beispiel für das Differentielle an dem Konzept.

EU-Reformen: Flexibilität und Integration

Das Flexible, mitunter auch als variable Geometrie oder "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" bezeichnet, bedeutet, dass nicht alle Mitgliedsländer das Gleiche unternehmen müssen. Es kann Untergruppen, Koalitionen von Willigen, Vorreiter geben, die Projekte anpacken, während andere dies nicht oder später tun.

BSW und die EU: Realistische Politikansätze

Auch in den Gewerkschaften gibt es Stimmen, die nach dem 25. Jubiläum der Nichterfüllung der Versprechen vom sozialen Europa meinen, dass "ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten eine Chance" bietet, so die Referatsleiterin für Europäische Wirtschaftspolitik beim DGB, Dominika Biegon.

Die Rolle der verstärkten Zusammenarbeit in der EU

Europhile, die der Utopie von den Vereinigten Staaten von Europa anhängen, ist das natürlich ein Gräuel. Dabei ist zumindest die Flexibilität schon jetzt Bestandteil sogar der Verträge.

Das Verfahren der sogenannten verstärkten Zusammenarbeit etwa erlaubt einer Gruppe aus mindestens neun Mitgliedsstaaten, die 60 Prozent der Bevölkerung repräsentieren und von 75 Prozent im Rat die Genehmigung dafür bekommen, Projekte durchzuführen, ohne dass die anderen mitmachen müssen.

Zukunftsprojekte in der EU: Von Militär bis Wirtschaft

Die Finanztransaktionssteuer, inzwischen im Sande verlaufen, wurde in diesem Rahmen verhandelt. Noch weitaus flexibler ist die Permanente Strukturierte Zusammenarbeit (Pesco) für die Kooperation der Rüstungsindustrie, die Projekte ab der Teilnahme von drei Mitgliedsländern ermöglicht. In diesem Rahmen wird unter anderem das Kampfflugzeugprojekt der nächsten Generation, FCAS, zwischen Deutschland, Frankreich und Spanien betrieben.

Es ist bezeichnend, dass für die Sehnsucht nach militärischem Großmachtstatus selbst der Kern der integrationspolitischen Doktrin relativiert werden darf.

Auch das Subsidiaritätsprinzip ist in den Verträgen verankert und erlaubt theoretisch eine Umkehr des Transfers von Zuständigkeiten von der Brüsseler Zentrale nach unten.

Kurzum: Der Ansatz der differenziellen und flexiblen Integration zieht zum einen die Konsequenz aus der Einsicht, dass ein europäischer Bundesstaat eine unrealistische Vision geworden ist und bietet zugleich eine pragmatische Lösung jenseits der Extreme an.

BSW zu EU: Grenzen und Chancen der EU-Integration

Das sieht auch das BSW so: "Heute zeigen sich die Grenzen der politischen Integration" heißt es gleich auf der ersten Seite des Programms. Und im Folgenden zieht sich dann durch alle wichtigen Politikfelder das Muster der differenziellen und flexiblen Integration, wenn auch nicht mit dieser Begrifflichkeit.

BSW-Initiativen: Kooperation und Autonomie

So wird mehr Kooperation gefordert bei Klima- und Umweltschutz, Technologie und hier insbesondere Digitalisierung, sowie bei der Regulierung der Finanzmärkte und der Steuerpolitik, darunter dem Kampf gegen Steuerdumping. Mehr Europa soll es auch geben bei höheren Steuern für Reiche, bei der Energiepolitik und der Infrastruktur, darunter der Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken der Bahn. Also alles, nur keine Abschottung in der nationalen Wagenburg.

BSW und EU-Außenpolitik: Ein neuer Ansatz

Auch eine "eigenständige Außenpolitik" wird angestrebt, "die zumindest von einer größeren Zahl europäischer Länder gemeinsam getragen wird." Variable Geometrie also, wohl realistischerweise mit der Einschätzung, dass etwa mit Polen und Balten Gemeinsamkeiten in zentralen Fragen geringer sind angesichts deren jahrhundertealten Erbfeindschaft mit Russland und ihrem 150-prozentigen Transatlantismus.

Im Zentrum für das BSW stehen die Grundsätze der "Diplomatie, der Konfliktvermeidung und der guten Nachbarschaft … Abrüstung und neue Rüstungskontrollvereinbarungen" sowie eine europäische Friedensarchitektur unter Einbeziehung von Russland. Daher auch die Forderung nach Waffenstillstand im Ukraine-Krieg, Verhandlungen und den Abbau von Sanktionen.

Ein durchgängiges Leitmotiv zielt auf mehr Unabhängigkeit von den USA. Damit ist das Programm zunächst anschlussfähig an die Diskussion um strategische Autonomie, wie sie schon mit der Präsidentschaft von Donald Trumps in den USA Fahrt aufgenommen hatte, mit Biden aber wieder abflaute, und nun aus Furcht vor einer zweiten Amtszeit Trumps wieder aufkommt.

EU-Politik: Mit Autonomie zum Frieden

Allerdings wird Autonomie nicht als machtpolitische, militärische Großmacht definiert, wie Brüssel das tut, sondern als friedenspolitische Alternative zu einem Kalten Krieg 2.0. Dazu passt auch das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip bei der Außen- und Sicherheitspolitik mit dem Argument, dass sonst die Schwelle für eine aggressive Außenpolitik und militärische Abenteuer gesenkt würde.

Eigenständigkeit wird dabei auch ausdrücklich ökonomisch und technologisch definiert. Im Falle der Abhängigkeit von den Big Five der digitalen Industrie – Google, Facebook etc. – kommt auch eine demokratiepolitische Komponente gegen die "Datenkraken" hinzu, und der Umbruch des internationalen Systems hin zu einer multipolaren Weltordnung, in der die EU als ein Player gesehen wird – wobei Eigenständigkeit von ihrer inhaltlich-politischen Substanz allerdings auf andere Art definiert wird als bei Emmanuel Macron, oder gar den Fans einer europäischen Atombombe wie Joschka Fischer bei dem Grünen.

Subsidiarität und Demokratie im BSW-Programm

Auch das Prinzip der Subsidiarität, wonach Probleme dort bearbeitet und gelöst werden sollen, wo die größte Kompetenz dafür vorhanden ist, also in Kommunen, Regionen und auf nationalstaatlicher Ebene, spielt eine große Rolle in dem Programm. Dazu wird "eine grundlegende Korrektur der EU-Beihilfe- und Vergabepolitik" gefordert.

Um ein Beispiel herauszugreifen: Mit dem Unsinn, dass eine finnische Stadt ein Infrastrukturprojekt EU-weit ausschreiben und dann nach Brüsseler Regeln eventuell eine portugiesische Firma beauftragen muss, soll Schluss sein. Direkt zurückgebaut werden sollen die Schuldenbremse und die Hebel, mit denen die neoliberale Austeritätspolitik durchgezogen wird, wie das "Europäische Semester" oder das Konzernklagerecht, das abgeschafft werden soll.

Zudem kommt dem Subsidiaritätsgedanken auch einiges ökologisches und demokratisches Potenzial zu. Die jeder Bürokratie innewohnende Dynamik, immer mehr Kompetenzen an sich zu ziehen, führt zu immer stärkerer Zentralisierung in Brüssel und hat autoritäre Züge.

Wenn dann noch die autokratischen Anmaßungen einer Ursula von der Leyen hinzukommen, dann wird deutlich, dass das Demokratie-Problem der EU nicht nur im Aufstieg der Rechtspopulisten besteht.

BSWs kritische Sicht auf EU-Direktiven

Einigen Kommentatoren ist immerhin ein europapolitisch brisanter Punkt im BSW-Programm aufgefallen, in dem es heißt, man trete "für die Nichtumsetzung von EU-Vorgaben auf nationaler Ebene ein, wenn sie wirtschaftlicher Vernunft, sozialer Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie und Meinungsfreiheit zuwiderlaufen." In der FAZ hat sich das BSW damit den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit eingehandelt (29.1.2024; S. 1).

Allerdings ist so etwas kein Alleinstellungsmerkmal von BSW. Schon die Schröder-Regierung hat die Schuldengrenzen des Maastricht-Vertrags ignoriert. Als Frankreich es ihr gleichtat und die Gralshüter neoklassischer Haushaltspolitik monierten, warum das nicht sanktioniert würde, gab es die berühmte Antwort Jean-Claude Junckers: "Weil es Frankreich ist."

Auch bei der Aufteilung von Migranten auf die Mitgliedsländer sind es nicht nur Polen und Ungarn, die achselzuckend ihr Ding durchziehen, auch Frankreich bleibt weit unter den vereinbarten Quoten. Oder wer erinnert sich noch daran, als in Corona-Zeiten einige Länder vertragswidrig einfach ihre Grenzen dichtmachten? Ganz zu schweigen von der EZB, die jahrelang de facto Staatsfinanzierung betrieb, was den Verträgen nach nicht zulässig ist.

Und last not least ein Beispiel mit aktuellem Bezug: die EU-Direktive von 2015, die für Importe aus dem Westjordanland und Gaza eine gesonderte Kennzeichnungspflicht verlangt, und Made in Israel dafür untersagte, wurde nicht nur in Deutschland ignoriert.

Im Übrigen sind schon bei den letzten EU-Wahlen mehrere linke Parteien explizit mit der Ankündigung angetreten, Brüsseler Entscheidungen gegebenenfalls zu boykottieren, darunter La France Insoumise und der portugiesische Linksblock.

Europapolitische Diskussion: Neuer Impuls durch BSW

Auch wenn das EU-Parlament kein vollwertiges Parlament ist, so bieten die Wahlen im Juni die Möglichkeit, mal wieder über Grundfragen der EU zu reden. Seit der Eurokrise findet eine solche Diskussion kaum mehr statt. Dabei haben sich seither einige bedeutende Veränderungen ergeben.

An der Spitze die zunehmende Militarisierung sowie ein krisengetriebener Staatsinterventionismus. Das BSW-Programm könnte einige neue Impulse für die Diskussion liefern, vorausgesetzt, diese Diskussion verläuft sachlich.

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