Basis-Demokratie per Email

Spam für die Politiker und Geld für die Software

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Gestern traf bei mir eine Email mit dem Titel "Bürgerinitiative per Internet gegen Rot-Grün" ein. Die sich nicht näher identifizierende "unabhängige und parteilose Initiative für Mittelstands-Interessen, deren einziges Ziel es ist, dem Mittelstand gegenüber Politik und Funktionären mehr Einfluß zu verschaffen", verspricht den Eintritt in eine "direkte Demokratie", ist aber, wie es beim ausgebeuteten Mittelstand so zu sein scheint, keineswegs selbstlos, sondern bietet ihr Massen-Email- oder Spam-Programm gegen Geld an.

Die Politik ist vermutlich nur ein Aufhänger, um die natürlich auch für Werbe-Spam einsetzbare Software für Serien-Emails zum Preis von DM 85.- mit "10000 Email-Adressen der Politik" oder ohne Adressen für DM 60.- an den Mann zu bringen.

Der vom Staat ausgebeutete, von der "perversen Bürokratie" gelähmte und vom Finanzamt "platt gemachte" Mittelstand - "Freiberufler, Selbständige und leitende Angestellte" - wendet sich, so will es Wir im Mittelstand, jedenfalls mit ausführlichen und deutlichen Worten vorwiegend gegen die "rot-grüne Chaos-Regierung", die mit ihren neuen Gesetzen den Mittelstand endgültig kaputt mache und noch mehr Konzerne ins Ausland treibe. Der Mittelstand - "die tragende Kraft des Staates" - habe gegenüber den Konzernen den Nachteil, daß er ortsgebunden ist. Man fordert 33 Prozent Steuer-Gesamtbelastung, "volle Freiheit für Selbständige und volles Geld für Nebenverdiener", die man allerdings nicht explizit in die Initiative einbezieht. Vielleicht sind die ja nicht so staatstragend oder keine Maßgabe für die direkte Demokratie?

Kann regelmäßige Mail eine Belästigung sein?
Sicher - aber nur für den, der sich dadurch in seiner Ruhe gestört fühlt und so arrogant ist, sich über uns - über die Bürger, also über seinen Arbeitgeber und seinen Auftraggeber - zu stellen. Jeder Politiker, der das zu erkennen gibt, "outet" sich dadurch automatisch als kleiner Möchte-gern-König, der zwar von uns (sehr gut) bezahlt werden will, ansonsten aber ohne Rücksicht auf uns völlig selbst entscheiden möchte. Um diese Typen geht es uns besonders, denn die müssen lernen, wo es lang geht!

Wir im Mittelstand

Wie also stellt sich "Wir im Mittelstand" die direkte Demokratie und die "Emanzipation gegenüber der politischen Klasse" vor? Der ausgebeutete Mittelstand hat wenig Zeit und ist überarbeitet, kann sich also nicht wie die Lehrer oder Beamten in der Politik engagieren, sondern steht im harten Wettbewerb und muß 60 Prozent der Zeit für den Staat arbeiten. Um also Druck zu machen und sich nicht länger von der Regierung "verarschen" zu lassen, bietet der Mittelstand für sich selbst einen bequemen Weg an: "Wir machen jetzt Politik per Internet und schicken unsere Forderungen an Kanzler und Minister, den Bundestag, die Landtage und an alle erreichbaren Politiker. Wenn nötig, täglich eine Email in 5 Minuten an über 10000 Politiker!" Spam also ist der Weg des Mittelstands im Internetzeitalter, um "Politik ohne Zeitaufwand und ohne Portokosten" zu machen. Und wenn sich etwaige Empfänger aus den Reihen der Politiker ob der möglichen Spam-Flut beschweren sollten, dann spreche diese nur für ihre mangelnde Bindung an die Bürger und das fehlende Demokratieverständnis.

Die hier propagierte Mittelstandsdemokratie verspricht, alle mühseligen demokratischen Prozeduren des demokratischen politischen Prozesses zu vermeiden. Belästigung durch massenhaft versandte Meinungsäußerung soll die Basisdemokratie zum Lobbying verwandeln. Wahrscheinlich stellt man sich Demokratie als permanente Meinungsumfrage vor, die möglicherweise dann von "Wir im Mittelstand" betrieben wird. Wer mehr Massen-Emails zusammenbringt, entscheidet.

Typischerweise werden außer der Forderung, die Steuern auf 33 Prozent zu senken, kaum weitere oder gar detaillierte Vorschläge zu Gesetzesänderungen gemacht. Das würde den Mittelstand auch über Gebühr belasten, dem es basisdemokratisch reicht, seine Meinung oder seinen Ärger - und die Werbung - täglich und am besten automatisch über Email zu verschicken, damit das Internet noch weiter zugemüllt wird. An sich ist für den geschäftstüchtigen Mittelstand jedenfalls die Politik ganz einfach: "In 5 Minuten täglich machen Sie Politik - vollautomatisch und kostenlos!" Die Software für die Instant-Demokratie soll es ab dem 15.5. zum Herunterladen geben.

Und wenn man den Anbietern eine Email schickt, dann weiß man schon, wie ein echter überlasteter Mittelständler reagiert: "Achtung: bitte geben Sie uns etwas Zeit zu antworten, wir sind keine Partei, sondern eine nebenberuflich betriebene Initiative und haben dementsprechend kein ständig besetztes Büro und kein Sekretariat." Also dann, werden wir politisch!