Beleidigte Frühstücksbrötchen

"Staatskrise" in Berlin? Schön wär's

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Wenn die Deutschen eines beunruhigt, dann ein Mangel an regierungsamtlicher Kontinuität. Presse und Medien tun ihr Bestes, um die milden Zumutungen, mit denen dieser strukturelle Konservatismus derzeit zurecht kommen muss, als "Staatskrise" darzustellen. Wie kritisch ist die eigentlich?

"Weimar ..." dünstet es aus den bedruckten Laubhaufen in den Zeitungsleseecken der Bibliotheken, oder "Berlin ist nicht Weimar, aber ..."; Leitartikel verkünden, "der Wähler" verstünde "die Welt nicht mehr" (als hätte er's je getan), und beschwören nebulös Gefahren der schlimmsten Art. Wenn man sich die politischen Kommentare derzeit anschaut, könnte man auf die Idee kommen, das Ende der BRD sei nah.

Und was ist geschehen? Eine vorzeitig und aus taktischem Kalkül angesetzte Parlamentswahl hat keine eindeutigen Mehrheitsverhältnisse hervorgebracht und die Regierungsbildung ist daher schwierig. Im Zuge der Koalitionsverhandlungen schmeißen einige der beteiligten Figuren den Kram hin, weil sie ihre kleinen Egotrips nicht ausleben können, weil das Frühstücksbrötchen nicht geschmeckt hat oder weil das Nachmittagsprogramm im Fernsehen immer noch interessanter ist als die große Berliner Politik, und so was reicht der deutschen Presse, um die Zersetzung der politischen Klasse zu diagnostizieren.

Schön wär's ja. Aber die Abgänge von Berufslangweilern wie Müntefering, Stoiber, Nahles, Vogt usw. veranlassen die zweite und dritte Garnitur ja eben nicht, auch die Kurve zu kratzen. Stattdessen werden bei diesem hastigen Stühlerücken jetzt Karrierechancen wahrgenommen. Die Gelegenheit ist günstig, denn man kann ja derzeit sogar als saarländischer Juso-Vorsitzender oder als Kassenwart des rechten SPD-Bodensatzes in die Medien kommen, und wenn die Medien gerade einmal den Hysterie-Modus verlassen haben, nennen sie so etwas "Restrukturierung" oder "Debatte", "Generationenwechsel" oder sogar "Erneuerung".

Ringelpietz mit Anfassen

Wie schade, dass dieser Ringelpietz mit Anfassen jede Kreativität im Umgang mit der "Staatskrise" erstickt. Die Regierenden könnten doch endlich radikale Sparmaßnahmen umsetzen und in irgendeinem Hinterzimmer per Akklamation ein altes Wahlplakat zum Bundeskanzler oder zur Bundeskanzlerin wählen. Das Kabinett könnte durch einen verschlossenen Sitzungssaal ersetzt werden, der an seiner Tür den schwarz-rot-goldenen Schriftzug "Das Kabinett" trägt. In den Nachrichten würde mal das Plakat gezeigt, mal der verschlossene Sitzungssaal, mal beide in schnellem Wechsel. Für die genuin politisch Interessierten würden die notwendigen Kabinettsbeschlüsse einmal täglich verlesen, immer ab 2.15 Uhr auf Phönix. Alles in Butter. Aber wäre nicht selbst das schon zu viel? Der ganze Quatsch geht ja ohnehin ungebremst weiter. Ob Gerhard Schröder (wer war das noch gleich?) kommissarisch den Bundeskanzler macht, oder ob sich Angela Merkel schon einmal warm läuft - wen juckt's, wen stört's?

Das Verelendungsprogramm der letzten Regierung (aka "Die Reformen") wird fortgesetzt, der Staatshaushalt wird für bankrott erklärt, um die Verelendung mit einem argumentatorischen Schleifchen zu versehen (im SPIEGEL steht, es fehlen Billionen), die Überwachung wird verschärft, die Ausländer werden geschurigelt, Edmund Stoiber führt seine Zersetzungsarbeit (vgl. Der Chaoszerstoiber) in der CDU/CSU fort, die Vogelgrippe kommt vielleicht doch und PISA war schon da.

Eisbein und Sauerkraut

Alles wie immer. Wozu braucht man da eine Regierung, eine politische Klasse, Wahlen und den ganzen anderen Zunder, wenn sich der Laden auf diese Weise doch so reibungslos selbst regiert? Aber halt, so geht das natürlich nicht. Zum Demokratie-Monopoly gehört nunmal eine Wahl mit anschließender Regierungsbildung, wie das Eisbein zum Sauerkraut. Regierungserklärungen und Neujahrsansprachen sind unabdingbar, es braucht ein Kabinett; ohne "Politbarometer", ohne die Übertragung von Bundestagsdebatten auf Phönix ist die Demokratie nicht wirklich demokratisch. Und seien wir doch mal ehrlich: Dass das Publikum die Regierungsgeschäfte selbst in die Hand nimmt, ist ja nicht zu erwarten. Also muss eine Regierung her. Die wird kommen, mit oder ohne Neuwahl.

Bis dahin dürfen die Medien von der Auflösung der politischen Klasse und von "Weimar" faseln. Danach müssen sie sich halt neue Themen suchen. Vielleicht greift ja der französische Krieg in den Städten auf Deutschland über, wie insgeheim von den Leitartiklern erhofft. Irgendwas ist ja immer.