Berlin ringt um Lateinamerika

Die deutsche Politik entdeckt die Region südlich der USA als politischen und wirtschaftlichen Partner

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Wird Lateinamerika zum neuen Streitpunkt der deutschen Außenpolitik? Gleich zwei hochrangige Parteienvertreter haben in den vergangenen Wochen den Kontinent südlich der USA bereist. Der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Gregor Gysi, besuchte acht Staaten der Karibik, Mittel- und Südamerikas. Der FDP-Politiker und amtierende Außenminister Guido Westerwelle beschränkte sich auf Südamerika. Der wirtschaftliche Aufschwung, der enorme Ressourcenreichtum und die kulturellen Bande machen Lateinamerika zu einem potentiellen – wenn auch lange vernachlässigten – Partner. Andere EU-Staaten wie Frankreich haben das früher als Berlin erkannt. Die Reisen Gysis und Westerwelles dürften daher erst der Anfang einer engeren Zusammenarbeit sein, wenn auch mit völlig entgegen gesetzten Intentionen.

Auch wenn die Tour des Außenministers nach Südamerika von den medial flankierten Angriffen der Opposition auf seine Delegation überschattet war, ist die wirtschaftliche Bedeutung unbestritten. Nach Angaben der Lateinamerika-Initiative der deutschen Wirtschaft, einem Zusammenschluss von sechs führenden Wirtschaftsverbänden, investieren kleine und mittlere Unternehmen aus Deutschland erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder verstärkt in den lateinamerikanischen Wirtschaftsraum. Das ist wenig verwunderlich: Nach einhelliger Meinung internationaler Finanzinstitutionen ist Lateinamerika von der andauernden Weltwirtschaftskrise bislang weit weniger getroffen worden als die globalen industriellen Zentren. Der Trend widerspiegelt sich unmittelbar in den Handelsbilanzen. Mit umgerechnet 70 Milliarden US-Dollar nimmt Deutschland nach den USA und Spanien den dritten Platz bei den Direktinvestitionen in die Region ein. Die Bundesregierung lege daher "einen neuen Schwerpunkt“ auf Lateinamerika, so Westerwelle im Gespräch mit dem neuen uruguayischen Präsidenten José "Pepe“ Mujica.

Frontstellung gegen anti-neoliberale Staaten

Mit der Annäherung versucht die deutsche Bundesregierung zugleich, einem anti-neoliberalen Trend in Südamerika entgegenzuwirken. Nach dem vergangenen EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel im Mai 2008 in der peruanischen Hauptstadt Lima suchte Bundeskanzlerin Angela Merkel offenkundig den Kontakt zu gleich gesinnten Amtskollegen. Mit Ausnahme Brasiliens reiste sie allein in neoliberal regierte Staaten, neben Peru waren das Kolumbien und Mexiko. Westerwelle versuchte nun, dieses Spektrum zu erweitern. Neben dem Pflichttermin in Brasilien, wo deutsche Industrieunternehmen Milliardenprojekte durchführen, besuchte er das neuerdings rechts regierte Chile, aber auch Argentinien und Uruguay. Dass das Treffen mit dem uruguayischen Präsidenten und ehemaligen Widerstandskämpfer Mujica aber keinen Politikwechsel einleitet, machte Westerwelles Parteifreund und Staatsminister im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer, zugleich in Berlin deutlich.

Im Interview mit der Tageszeitung "Die Welt“ beschrieb Hoyer das wirtschaftliche Interesse. Man habe sich bislang "um unsere Partner in Lateinamerika, die uns wirtschaftlich und kulturell ja sehr nahe stehen, einfach zu wenig gekümmert“, sagte er. Kaum jemand mache sich Gedanken über die Wirtschaftskraft des Raumes um São Paulo „und dessen Bedeutung (…) für die deutsche Wirtschaft“. Zugleich sehe er in der Region „längst überkommen geglaubte ideologische Muster wieder hoch kommen“, fügte der FDP-Politiker mit Blick auf die links regierten Staaten an:

Ich nehme Chávez und seine Freunde ernst: Wer über soviel Öleinnahmen verfügt, kann für manchen armen Schlucker zum interessanten Partner werden. (…) Bisher aber ist das von ihm gegründete Staatenbündnis Alba durchaus ein relevanter Faktor.

Staatsminister im Auswärtigen Amt Werner Hoyer

Angekündigt wurde das politische Engagement der rechtsliberalen Regierung schon im aktuellen Koalitionsvertrag. Die Volkswirtschaften der EU und Lateinamerikas seien "in hohem Maße komplementär“, heißt es dort auf Seite 113. Und: "Wir wollen ein ressortübergreifendes Konzept zur langfristigen Ausgestaltung unserer Lateinamerikapolitik erarbeiten.“

Entwicklungshilfe als politisches Instrument

Mit dem jüngsten Schritt in diesem Konzept hat Entwicklungsminister Dirk Niebel – ebenfalls ein Liberaler und Vertrauter Westerwelles – für Unruhe in seiner Branche gesorgt. Er wolle, so Niebel, die drei bestehenden großen Hilfsorganisationen GTZ, Inwent und DED zusammenlegen. Das war vom Bundesrechnungshof mit Verweis auf Doppelbesetzungen und Unübersichtlichkeit zwar schon lange gefordert worden, doch die Intention Niebels ist auch politisch: Die neue Superagentur – im Spiel ist der Name GIZA (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) – soll, so Niebel, "effektiver“ und "schlagkräftiger“ werden. "Wir müssen die politische Steuerung stärken“, sagte der FDP-Politiker, als er das Vorhaben in Berlin unlängst präsentierte.

Nun könnte man vermuten, dass die führenden Wirtschaftsverbände dem Minister soufflierten. Wenige Tage zuvor nämlich hatte die Lateinamerika-Initiative der deutschen Wirtschaft ein Strategiepapier mit "Empfehlungen zu den deutsch-lateinamerikanischen Wirtschaftsbeziehungen“ lanciert. Das 14-seitige Dokument, das gezielt auch Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses zugeleitet wurde, fordert explizit eine "engere Verzahnung von Außenwirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit“. So heißt es weiter:

In der Entwicklungszusammenarbeit muss die unmittelbare Zusammenarbeit mit der Wirtschaft gleichberechtigt neben die klassische Kooperation staatlicher Akteure rücken.

Aus den Empfehlungen der Lateinamerika-Initiative der deutschen Wirtschaft

Zudem sollten Wirtschaftsverbände eine "tragende Rolle bei der Mitgestaltung politischer Prozesse“ erhalten, also etwa in die Vorbereitung bilateraler politischer Prozesse eingebunden werden. "Wir würden uns freuen“, heißt es in dem Anschreiben des Deutschen Industrie- und Handelskammertages an Gremien des Parlaments, "wenn diese aktuellen Positionen der deutschen Wirtschaft (…) Ihr Interesse fänden.“

Ringen um den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts“

Doch auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums wird der Kontakt zu Lateinamerika gesucht. In Europa befinde sich die Linke bis auf wenige Ausnahmen in der Krise, in Lateinamerika aber erstarkt sie“, sagte der Fraktionschef der Linkspartei im Bundestag, Gregor Gysi, nach seiner Reise. Ein Grund seiner Gespräche in insgesamt acht Staaten der Region sei es gewesen, "zu sehen, ob wir Europäer von dieser neuen Linken etwas lernen können“. Er habe vor Ort erfahren, "dass die Entwicklung ungemein vielseitiger ist, als man in Europa gemeinhin denkt“, so Gysi im Gespräch mit Telepolis.

Spannend ist für mich in diesem Zusammenhang zum Beispiel Bolivien, wo sozialistische Ideen mit der Ökologie, aber auch der indigenen Lebensweise verbunden werden. Leider ist das nur sehr bedingt für Europa möglich. In der Tat stellt aber vor allem die sozialistische Bewegung in Bolivien und Ecuador die ökologische Frage neu. Das war für mich erstaunlich, weil Staaten, die noch gegen Armut kämpfen, in der Regel kaum ökologische Politik entwickeln. Das Gegenteil dort liegt an dem Einfluss der indigenen Völker.

Gregor Gysi, Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag

Während die Linke auch auf Parteienebene die Verbindungen zu Lateinamerika ausbaut, arbeiten die Regierungsparteien, allen voran die FDP, an einer Gegenstrategie. Die liberale Friedrich-Naumann-Stiftung hat den Militärputsch in Honduras, zu diesem Zeitpunkt Mitglied des anti-neoliberalen Staatenbündnisses ALBA, offen unterstützt (Putsch in Honduras beschäftigt den Bundestag). Was zeigt: Der Disput um Lateinamerika hat gerade erst begonnen, ihm liegen wirtschaftliche und politischen Interessen zugrunde – und der Ausgang ist ungewiss.