Besuch auf dem Schlachtfeld

Nach den Kriegen der letzten Jahrzehnte steht Afghanistan vor einer gigantischen Umweltkatastrophe

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Seit Afghanistan für die westlichen Medien kein tagtäglicher Kriegsschauplatz mehr ist, spielt das einstige Zentrum des Weltterrorismus im öffentlichen Bewusstsein nur noch eine untergeordnete Rolle. Immerhin scheint sich wenigstens in einzelnen Bereichen die Vermutung herumgesprochen zu haben, dass die gewaltigen Probleme vor Ort nicht dadurch gelöst werden können, dass man sie einfach ignoriert. Ein Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), der vor wenigen Tagen in Kabul vorgestellt wurde, liefert jedenfalls erste Beweise für diese gewagte These. Er enthält die Beobachtungen von 20 afghanischen und internationalen Wissenschaftlern, die sich in den vergangenen Monaten damit beschäftigten, die verheerenden Auswirkungen jahrzehntelanger Kriegshandlungen auf die Umweltsituation in Afghanistan zu dokumentierten.

Der Bericht gipfelt in sage und schreibe 163 Empfehlungen, die das ganze Ausmaß der Katastrophe deutlich machen. Sie beziehen sich nämlich nicht nur auf Vorschläge zur Gesetzgebung und deren praktische Umsetzung, Verwaltungsfragen und die Schaffung von Arbeitsplätzen, Wirtschaftsprogramme und Bildungspolitik, sondern umfassen auch alle konkreten Bereichen des praktischen Umweltschutzes von der Wasserver- über die Giftmüllentsorgung bis hin zu Energiethemen und Klimafaktoren.

Dieses unheimliche Konvolut deutet den praktisch unüberschaubaren Berg von Problemen an, der in Afghanistan auf seine Abtragung wartet, bis dahin aber erst einmal fleißig weiterwächst.

UNEP-Direktor Klaus Töpfer wies in der Pressekonferenz u.a. darauf hin, "dass über 80% der afghanischen Menschen in ländlichen Gegenden wohnen und in nur einer Generation zentrale Lebensgrundlagen wie Wasser oder Holz verloren haben. In den Städten kann eines der Grundbedürfnisse für menschliches Wohlbefinden - der Zugang zu sicherem Wasser - nur noch von 12% der Bevölkerung in Anspruch genommen werden."

Eine der gefährlichsten Bedrohungen geht in Afghanistan von den riesigen Müllhalden aus, die allerorten Luft, Boden, Grund- und Trinkwasser verseuchen. In Kandahar und in Herat befinden sich diese ökologischen (Zeit)Bomben in ausgetrockneten Flusssenken oberhalb der Städte, so dass damit gerechnet werden muss, dass bei schweren Regenfällen Tausende Tonnen vergifteten Materials wieder in die Nähe menschlicher Behausungen gespült werden. Untersuchungen des städtischen Trinkwassers bestätigen schon heute eine gravierende Verschmutzung und bakterielle Verunreinigung, Erkrankungen an Cholera und vielerlei andere gesundheitliche Risiken sind die unmittelbare Folge.

Dieses Problem wird durch das fehlende Bewusstsein oder die fehlende Möglichkeit, giftige Abfallprodukte in Krankenhäusern, Ölraffinerien, Chemiefabriken und dergleichen ordnungsgemäß zu entsorgen, weiter verschärft. In Kabul entdeckten die Wissenschaftler aber auch eine Schuhfabrik, in der Kinder ohne jeden Schutz vor giftigen Chemikalien arbeiten und - zwischen ihren 12-Stunden-Schichten - auch noch in unmittelbarer Nähe der Maschinen schlafen müssen.

Außerdem stehen die großen ökologischen Einheiten vor dem endgültigen Kollaps. Daran haben Landminen, Munitionsrückstände, verwesendes Kriegsgerät, massenweise Rodungen, Verseuchungen und viele andere Ursachen und Folgen der Kriegsjahre ihren sichtbaren Anteil. Von den Nadelbaumwäldern in den Provinzen Nangarhar, Kunar und Nuristan ist seit 1978 nicht einmal die Hälfte übriggeblieben, die als Wirtschaftsfaktor bedeutenden Pistazienwälder im Norden des Landes sind auf Satellitenbildern kaum mehr zu erkennen. Waldinseln im Amu Darya haben sich nach der Machtübernahme der Taliban vom Rückzugsgebiet für seltene Tier- und Pflanzenarten in eine Art Flüchtlingslager verwandelt, andernorts sind Schneeleoparden, Marco-Polo-Schafe oder Braunbären von der - in letzter Zeit allerdings wieder erfolgreicher kontrollierten - Jagd bedroht.

Kann der UNEP-Bericht an all dem tatsächlich etwas ändern? "Ja", sagt Ahmad Yusuf Nuristani, der als Minister für Bewässerung, Wasserversorgung und Umwelt in der afghanischen Übergangsregierung tätig ist, und begründet diese Einschätzung mit den vielen praktischen Vorschlägen, die in den genannten 163 Anregungen enthalten sind, und der in Aussicht gestellten internationalen Hilfe: "Die Untersuchung ist nicht nur eine Dokumentation des erschreckendes Zustandes, sie zeigt auch einen Weg auf, der das Land zu einer nachhaltigen Entwicklung führen kann. Sie warnt uns vor einer Zukunft ohne Wasser, Wälder, Wildnis und sauberer Luft, die uns droht, wenn die Umweltprobleme nicht schon in der Wiederaufbauphase angegangen werden."

Aber was bliebe Afghanistan auch, wenn das Land noch den Funken Hoffnung verlieren würde, dass es selbst irgendwann einmal vom Schicksal begünstigt werden könnte?