Bildungspolitik: die Chefsache als Verhandlungsmasse

Die dringend notwendige Bildungsreform sollte 2009 entscheidend vorangebracht werden. Doch am Ende des Jahres sind kaum Fortschritte erkennbar

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"Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung haben höchste Priorität für die Bundesregierung", erklärte das Bundesministerium für Bildung und Forschung Mitte vergangener Woche. Nach Lage der Dinge ist diese Behauptung in etwa so glaubwürdig wie die Versicherung, man wolle der "Schlüsselrolle", die Bildung "bei der Innovationsleistung und Wettbewerbsfähigkeit" einer Gesellschaft spiele, absolute Priorität einräumen. Mit dieser Zusage war Bundesministerin Annette Schavan (CDU) im Januar 2009 an die Öffentlichkeit getreten, zu Beginn eines Jahres, in dem in Sachen Bildung nicht alles anders, aber vieles besser werden sollte.

Angesichts der bisweilen dramatischen Defizite in allen relevanten Bereichen von der frühkindlichen Bildung bis hin zum Hochschulstudium müssen weitreichende Entscheidungen getroffen werden, um innerhalb Deutschlands Chancengerechtigkeit beim Bildungszugang herzustellen und darüber hinaus ein international konkurrenzfähiges System zu etablieren. Am Ende eines ereignisreichen Jahres, in dem Kita-Mitarbeiter streikten, Schüler und Studierende auf die Straße gingen und Politiker aller Parteien die Bildung zum zentralen Zukunftsthema erklärten, lässt der Durchbruch weiter auf sich warten.

Pilotprojekt Hamburg?

Im schwarz-grünen Senat der Freien und Hansestadt Hamburg sitzen ebenfalls zahlreiche Volksvertreter, die dem Thema Bildung "höchste Priorität" einräumen wollten. Von grundlegenden Innovationen war da die Rede und tatsächlich brachte Senatorin Christa Goetsch (Grüne) eine ambitionierte Schulreform auf den Weg, die allerdings nicht mit den Vorstellungen der Erziehungsberechtigten abgestimmt war. Eine Bürgerinitiative sammelte - statt der erforderlichen 61.835 Unterschriften - über 180.000 "Gegenstimmen", um einen Volksentscheid durchzusetzen. Sollten sich die Kontrahenten Anfang 2010 nicht einigen, könnte im Sommer 2010 die gesamte Schulreform kippen und Ole von Beusts Regierungsbündnis in eine substanzielle Krise stürzen.

Doch die Schulen bilden nur einen Teil der bildungspolitischen Baustellen. Auch im Bereich der frühkindlichen Betreuung muss sich der Senat Kritik gefallen lassen, die wiederum von den Eltern - in diesem Fall vom Landeselternausschuss Kindertagesbetreuung - vorgetragen wird.

„Bildung ist das Wichtigste!“ und „Kinder sind unsere Zukunft“ - so klingt es seit Jahren in den Reden von Politikern und in den Programmen von Parteien und Regierungen. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Zu hohe Erzieherinnen-Kind-Relationen und zu große Gruppen behindern individuelle Förderung. Für Vor- und Nachbereitung, Elterngespräche, Beobachtungen, Dokumentationen und Fortbildung, also die „mittelbare pädagogische Arbeit“, fehlt die Zeit. Gleichzeitig fehlen Vertretungskräfte.

Landeselternausschuss Kindertagesbetreuung

Dass die protestierenden Eltern, die sich mit ihren Aktionen auch am Bildungsstreik der Studierenden beteiligten, Erfolg haben, darf bezweifelt werden. Der Senat der Hansestadt muss drastische Einsparungen vornehmen und will die ursprünglich für 2010 geplante Einführung eines Rechtsanspruchs auf Kindertagesbetreuung Richtung 2013 verschieben. Stattdessen gibt es neue Beitragsstufen für Besserverdiener und eine Erhöhung des Essensgeldes von 60 Cent auf einen Euro. Auch diese Maßnahme soll sozial gestaffelt werden. Immerhin etwas, doch ein mutiger Schritt Richtung Bildungsrepublik sähe wohl anders aus.

Auch im akademischen Bereich warteten Studierende und Beschäftigte vergeblich auf einen Befreiungsschlag. Die unterfinanzierte, in vielen Bereichen sanierungsbedürftige und national wie international mittlerweile vergleichsweise bedeutungslose Universität war lange ein wichtiges Zentrum des Bildungsstreiks, doch die Streikenden mussten sich auch mit Widerstand aus den eigenen Reihen auseinandersetzen. Bis kurz vor Weihnachten hatten sich nach Angaben des Präsidiums über 700 Studierende an die Hochschulleitung gewandt, um eine Räumung des besetzten Audimax und überhaupt "weitere Ausfälle von Lehrveranstaltungen zu vermeiden und einen ungehinderten Lehrbetrieb wieder zu gewährleisten".

Nach monatelangen Querelen und einem undurchsichtigen Wahlverfahren soll nun ausgerechnet Dieter Lenzen die Universität in eine bessere Zukunft führen. Der bisherige Präsident der FU Berlin, den Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) mit den Worten "Herzlichen Glückwunsch und gute Reise" verabschiedete, gilt als Protagonist der Ökonomisierung der deutschen Hochschullandschaft, stößt bei dem Versuch, das "Unternehmen Universität" Realität werden zu lassen, aber regelmäßig auf erbitterten Widerstand und die Kommentare seines eigenen Fanclubs, der sich auch schon auf den Umzug von Berlin nach Hamburg eingestellt hat.

Weg von brennenden Autos, von Sozialschmarotzern, weg von RotRot. Weg von der stinkenden Hausbesetzerszene, von der Hundekacke, die die Elitestudenten mit in die schönen neuen UpperClassHörsäle tragen, weg von Antifa, Fachschaften und der ganzen Studentenbagage, die sich einbildet mitreden zu dürfen.

Nachdem Dieter Lenzen den Kurort Dahlem, das deutsche Oxford im Grünen, so richtig aufgeräumt und den Elitestudenten eine neue Sicht auf das Leben und Studieren vermittelt hat, widmet er sich nun neuen Herausforderungen - Hamburg.

Der DieterLenzenFanclub packt schon Koffer und Kisten um voller Elan mit Pauken und Posaunen, mit Chinaböllern und bengalischem Feuer eine neue Ära zu beschreiten. Dieter Lenzen wird dabei in einer Sänfte nach Hamburg getragen – von Studierenden, die zusätzliches Geld für ihren Fachbereich verdienen wollen.

DieterLenzenFanclub

Föderalismus

Hamburg ist nur ein Stadtstaat, doch schon hier scheint es unmöglich zu sein, sich auf die Eckpunkte einer inhaltlich konsequenten und transparent strukturierten Bildungsreform zu einigen, die den Erfordernissen einer umfassenden Modernisierung und nachweisbaren Effizienz auf allen Ebenen Rechnung trägt und darüber hinaus die lange vernachlässigten Aspekte der sozialen Ausgewogenheit und allgemeinen Chancengleichheit berücksichtigt.

Während im Kita-Bereich die Einkommenssituation der Eltern berücksichtigt werden soll und die Schulreform gar auf eine Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems zielt, werden an den Hochschulen Studiengebühren erhoben und Leitungspositionen mit Wissenschaftsmanagern besetzt, die sich mit explizit neoliberalen oder wenigstens wirtschaftsnahen Reformideen einen Namen gemacht haben. Dieter Lenzen ist da zweifellos das beste Beispiel – und nicht umsonst Mitglied des Fördervereins der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft".

Wer die Situation in der Freien und Hansestadt auf die Gesamtheit der Bundesländer hochrechnet, erkennt schnell ein zentrales Problem der deutschen Bildungspolitik. Es fehlt nicht grundsätzlich an Kompetenz, guten Ideen oder Engagement, sehr wohl aber an nachvollziehbaren Entscheidungswegen, inhaltlicher Kontur und klaren Zielvorstellungen, die länderübergreifend vergleichbar wären. Das gilt nach der Föderalismusreform, die ein einheitliches Vorgehen im Bereich der Bildungspolitik nahezu unmöglich macht, mehr als je zuvor.

Für die betroffenen Schüler oder Studierenden ergibt sich daraus eine Quelle fortwährender Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung. Beispiel Studiengebühren: Mit Hessen und dem - kurz vor Weihnachten noch entschlussfreudigen Saarland - ist es gleich zwei Bundesländern gelungen, die umstrittene Campusmaut erst einzuführen und dann wieder anzuschaffen. Über Planungssicherheit dieser Art konnten sich die Studierenden auch im laufenden Bologna-Prozess freuen. Nach massiven Protesten, Demonstrationen und Besetzungen erkannten die mit Bildungsfragen beauftragten Mandatsträger und Wissenschaftsfunktionäre sehr langsam und schrittweise, was - außer ihnen? - ohnehin jeder wusste. Am 10. Dezember versprach die Kultusministerkonferenz () dann eine Reform der Reform, die den Nachwuchs-Akademikern mehr Raum zur persönlichen Entfaltung lassen und den Studienverlauf insgesamt entbürokratisieren soll.

Ob sich die guten Vorsätze effektiv in den föderalen Flickenteppich einflechten lassen, ist derzeit noch nicht absehbar, und für die Studierenden, die in den vergangenen Jahren bereits ein oft in vieler Hinsicht defizitäres Bachelor-Studium absolviert haben, spielt das Ganze ohnehin keine Rolle mehr. Schade für sie, dass sie ihre Hochschulzugangsberechtigung ausgerechnet zu einer Zeit wahrgenommen haben, als die zuständigen Politiker eine Reform anordneten, die nicht fehlerhaft konzipiert war und überdies mangelhaft umgesetzt wurde. Ihnen bleibt nur die Hoffnung, dass potenzielle Arbeitgeber das angerichtete Chaos ebenfalls nicht durchschauen und keinen übertriebenen Wert auf den Zeitraum legen, in dem das Studium absolviert wurde.

Der Bildungsbegriff

Wenn der Erfolg einer Bildungsreform auch davon abhängt, ob sich die Protagonisten auf gemeinsame Zielvorstellungen verständigen können, ist das bisherige Scheitern fast aller Umstrukturierungsversuche keine große Überraschung. Denn die Frage, welchem Bildungsbegriff die Reformen folgen sollen, wird hierzulande selten gestellt und auf der Ebene der Entscheidungsträger kaum diskutiert. Dabei sind die Rollen vor allem in der Diskussion um die künftigen Aufgaben von Universitäten und Fachhochschulen klar verteilt. Während die einen die Hochschulen zu Unternehmen und die Studenten zu Kunden umfunktionieren möchten, um die gesamte Hochschullandschaft windschnittig an die herrschenden Marktmechanismen anzupassen, plädieren die anderen für einen Bildungsbegriff, der sich an der Persönlichkeitsentwicklung orientiert, immer wieder zu Wilhelm von Humboldt zurückführt, aber auch noch im dtv-Lexikon von 1997 nachgelesen werden kann.

Bildung ist Vorgang und Ergebnis einer geistigen Formung des Menschen, in der er als instinktmäßig nicht festgelegtes Wesen in Auseinandersetzung mit der Welt, bes. mit den Gehalten der Kultur, zur vollen Verwirklichung seines Menschseins, zur "Humanität" gelangt; das hierbei zugrunde liegende Bildungs-Ideal ist in seinen Inhalten gesellschaftlich-kulturell bedingt und geschichtlich wandelbar.

dtv-Lexikon (1997), Band 2 , S. 266

Eine offene Diskussion über den jeweiligen Bildungsbegriff ist nicht nur überfällig, sondern so aufreizend sinnvoll, dass mit ihr in den kommenden Jahren kaum gerechnet werden darf. Schließlich könnte ein solcher Diskurs ganz persönliche Motive und Entscheidungsgrundlagen deutlich machen, die gegensätzlichen Vorstellungen präzise definieren und den künftigen Wählerinnen und Wählern klare Alternativen vorzeigen. Im zu Ende gehenden Jahr wollte sich aber kaum eine Partei ernsthaft auf einen Wettstreit der Grundideen und Konzepte einlassen – so gern sie ansonsten mit der Worthülse vom „Zukunftsthema Bildung“ hausieren gingen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Herausforderer Frank-Walter Steinmeier waren nicht einmal dafür zu begeistern. Bei ihrem in fast jeder Hinsicht sinn- und ergebnislosen Fernsehduell hatten die ehemaligen Regierungspartner Wichtigeres zu besprechen.

Die Finanzen

12 Milliarden Euro will die schwarz-gelbe Koalition in dieser Legislaturperiode zusätzlich in den Bildungsbereich investieren. „Das ist ein Meilenstein auf dem Weg Deutschlands zur Bildungsrepublik - zu einem Land, das mit bester Bildung und fairen Start- und Aufstiegschancen die Teilhabe aller an der modernen Wissensgesellschaft ermöglicht“, meint Bundesbildungsministerin Annette Schavan und liegt mit dieser Einschätzung offenkundig falsch.

Denn ein zentrales Problem des deutschen Bildungssystems hat nichts mit den eben besprochenen begrifflichen Grundlagen und inhaltlichen Vorstellungen zu tun. Auch Studienverläufe, allgemeine Verfahrensfragen oder das kreative Potenzial der Beteiligten spielen dabei keine Rolle. Es fehlt schlicht am Geld, und deshalb verkam der vollmundig angekündigte 2. Bildungsgipfel, auf dem Kanzlerin Merkel sich einmal wieder der Chefsache widmen wollte, in der letzten Woche zu einem Milliarden-Basar, der selbst den Beteiligten peinlich zu sein schien.

Ulrich Thöne, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sprach anschließend von einem „inhaltsleeren, unwürdigen Geschachere“ und verlangte zum wiederholten Male eine „nationale Bildungsstrategie“, die neben dem Ausbau der frühkindlichen Bildung und der Fortsetzung des Ganztagsschulprogramms eine Abkehr vom selektiven Schulwesen und einen „Hochschulpakt III“ vorsieht. Die GEW beziffert den jährlichen Investitionsbedarf im Bildungsbereich auf rund 40 Milliarden Euro.

Deutschland muss für diese Ziele mutig in die Bildung investieren, um die Zukunft der Gesellschaft zu sichern. Wir brauchen mehr und besser ausgebildete Erzieherinnen, Lehrkräfte und Professoren, um die dringend notwendigen Reformen im Bildungswesen anzuschieben und umzusetzen.

Ulrich Thöne, GEW

Auf entsprechende Aktivitäten wird man sicher lange warten müssen. Die Teilnehmer des Bildungsgipfels, denen es diesmal nur um einen Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern in ganz anderen Angelegenheiten ging, wollen sich erst Mitte 2010 wieder zusammensetzen, um weitere Schritte zu beraten. „Wir haben jetzt eine Vorstellung von der Aufgabe, die vor uns liegt“, ließ die Bundeskanzlerin verlauten und kündigte im übrige rege Betriebsamkeit hinter den Kulissen an: „Wir müssen jetzt herausarbeiten, wie wir das machen.“ Gut möglich oder sehr wahrscheinlich, dass die Bildungsbilanz 2010 dann nicht viel anders ausfällt als im ablaufenden Jahr 2009.